Möge dieses Haus bis in die Ewigkeit bestehen

Nacim Ghanbaris kulturwissenschaftliche Studie über Familiendynastien in deutschsprachigen Romanen des 19. Jahrhunderts

Von Ulrike KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Familienromane sind zentrale Gattungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die von den Geschicken einer Familie berichten und diese über eine längere Zeit darstellen. Die Romane konzentrieren sich jedoch nicht nur auf die Familie an sich, sondern werfen auch gesellschaftspolitische Fragen auf, die innerhalb oder anhand der Familie diskutiert werden. Die Familien in den Romanen stammen größtenteils aus dem bürgerlichen Bereich, nur selten wird auf die adelige Form der Familie zurückgegriffen. Familienromane bieten also neben ihren literarischen Gehalt auch Diskussionen ihrer Zeit. Besonders die Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilienwelt kann nachvollzogen werden. Durch die Einbindung von gesellschaftspolitischen Themen ihrer Zeit liefern diese Romane ein Abbild der Gesellschaft und ermöglich so den LeserInnen gesellschaftspolitische Entwicklungen nachzuvollziehen. In den klassischen Analysen liegt der Fokus auch sehr stark auf diesen Bereich. Nacim Ghanbari, Kulturwissenschaftlerin und Germanistin, bringt nun eine neue Facette in die Literaturanalyse und untersucht Familienromane mit Hilfe sozialanthropologischer Begriffe und Forschungen. In ihrer Monografie „Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850-1926“, die eine gekürzte Version ihrer Dissertation darstellt, kann dieser neue Ansatz nun nachgelesen werden.

Ghanbari konzentriert sich vor allem auf die Theorien Claude Lévi-Strauss’ und seine Begrifflichkeiten zur Theorie des Hauses. Seinen Ursprung findet die Theorie des Hauses in den Schriften des Kulturtheoretikers Wilhelm Heinrich Riehl, der das Haus als eine Einheit von Haushalt und Betrieb sieht, in dem neben der Hausherrin und dem Hausherrn Kinder, Gesinde und entfernte Verwandte Platz finden und gemeinsam am Erhalt des Familienbetriebs arbeiten. Die Französische Revolution sorgte dafür, dass der Hausverstand nicht mehr uneingeschränkt über die einzelnen Mitglieder eines Hauses verfügen durfte. Das Haus und seine Zusammensetzung wandeln sich. Lévi-Strauss griff die Theorien wieder auf und zeigte in seinen sozialanthropologischen Untersuchungen, dass Häuser in dieser Form trotzdem weiter existieren und betont die familiären Strukturen, die diese Häuser zusammenhalten. Mit diesem Hintergrund widmet sich Ghanbari in ihrer Untersuchung deutschsprachiger Romanliteratur zu, die die genealogische Abfolge von Häusern beschreibt.

Die Monografie ist in drei Teile gegliedert, die sich der Adoption, der Schenkung und dem Stiften von Ehen widmet. All diese Maßnahmen dienen dazu, eine Dynastie in Form eines Hauses am Leben zu erhalten. Interessanterweise sind es vor allem Frauen, die in Form von Töchtern oder Tanten wesentlich an der Erhaltung einer Dynastie beteiligt sind. Dieser genderaspekt wird von Ghanbari leider vollkommen ausgespart. Trotzdem sind die Analysen Ghanbaris sehr aufschlussreich und interessant. Das Phänomen der Adoption zum Beispiel bietet die Möglichkeit eine Dynastie und damit auch einen Namen weiterzuführen, obwohl als Erbin nur die Tochter in Betracht kommt. Indem jedoch der Ehemann der Tochter in die Familie adoptiert wird, wird der Name weitergetragen und die Dynastie kann weiterhin bestehen bleiben. Ähnlich verhält es sich mit den Schenkungen, die es ermöglichen Vererbungsgesetze zu umgehen. So können Tochter oder Sohn durch die Schenkung von ihrem Erbteil entbunden und die Dynastie auf eine Person übertragen werden, die nach dem geltenden Recht der/des Erstgeborenen ohne Erbe auskommen müsste. Eine gängige Möglichkeit, Dynastien und Häuser zu vergrößern, ist die Stiftung von Ehen. Durch eine gezielte Heiratspolitik ist es so möglich das eigene Vermögen zu vermehren und dafür zu sorgen, dass der eigene Name und die aufgebaute Leistung weitergegeben werden. Das Stiften von Ehen wird meist über Tanten organisiert, die selber kinderlos geblieben aber an der Generierung dynastischer Strukturen rege beteiligt sind. Auch sie greifen auf die Form der Schenkung zurück, die sie an die Hochzeit eines gewissen, von ihr gewählten Paares, bindet.

Ein verbindendes Element dieser drei Teile ist die Beziehung und Rolle von Geschwistern. Wie Ghanbari herausarbeitet, sind es vor allem Geschwister, die in den Romanen von Thomas Mann, Theodor Fontane, Felix Holländer oder Otto Stoessl eine wesentliche Rolle spielen und an die das Gedeih und Verderb des gesamten Hauses gekoppelt ist. Die zentrale Frage dabei ist immer, wer von dem gegengeschlechtlichen Geschwisterpaar heiratet oder ob diese sogar unverheiratet die Dynastie weiterführen und durch die Möglichkeit der Adoption und/oder Schenkung das Weiterbestehen garantieren.

Ghanbaris Analyse besticht durch Genauigkeit und Klarheit in der Sprache. Die von ihr ausgewählten Werke bieten einen guten Überblick über die Romane des 19. Jahrhunderts und durch ihre Kombination von kulturwissenschaftlichen, sozialanthropologischen und germanistischen Ansätzen liefert sie ein innovatives neues Werk, das leider jedoch ziemlich kurz geraten ist. Wünschenswert wäre eine ausführliche Studie, die auch die genderaspekte mehr berücksichtigt, die Ghanbari zwar auf den Silbertablett präsentiert werden aber auf die sie nicht näher eingeht. Davon abgesehen bietet die innovative Zugangsweise eine Öffnung der Germanistik in die Kulturwissenschaft, die im weiteren Verlauf der Forschungstätigkeiten immer stärker hervortreten wird und für die Ghanbari mit ihrer Studie eine Vorreiterinnenrolle einnimmt.

Titelbild

Nacim Ghanbari: Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850-1926.
De Gruyter, Berlin 2011.
144 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110237993

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