Freud in flagranti oder Michel Onfrays Untergang

Der französische Philosoph Michel Onfray verunglimpft die Psychoanalyse, Elisabeth Roudinesco analysiert seinen Hass

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel Onfrays Werk dreht sich um eine einzige Achse: Es ist Friedrich Nietzsches Gedanke, dass „der Leib eine große Vernunft“ sei. Durchgespielt wurde diese Idee von Onfray mit einigen ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen bisher in allen möglichen Varianten. Vorgetragen wurde diese Einsicht oft mit messianischem Ton wie in seiner „Philosophie der Ekstase“ (französisch 1991, deutsch 1993): „Am Anfang des Denkens muß der Körper erwählt werden.“ Besonders der Leib des Philosophen hat es Onfray angetan, wie die Titel einiger seiner Bücher zeigen: „Der sinnliche Philosoph“, „Der Bauch des Philosophen“, „Der Philosoph als Hund“. Für Onfray ist „der Körper des Denkers“ „ein außergewöhnliches Fleisch, dessen Haut so dünn ist, daß man das Muskelmodell beim geringsten Windhauch, bei der kleinsten Temperaturveränderung errät.“ („Philosophie der Ekstase“)

Zartheit, Finesse, Subtilität und Sensibilität sind aber sonst nicht Onfrays Sache. Neben der grobschlächtigen, krass naturalistischen Rhetorik der Rehabilitierung des Leibs strotzt Onfrays Œuvre denn auch nur so vor apodiktischen Formulierungen und den Leser zur Entscheidung drängenden Appellen: „Es gibt keinen anderen Ausweg: entweder das asketische Ideal, die Ablehnung des Fleisches und des Körpers, die Verachtung des Sinnlichen und die Abwertung der realen Welt, oder der Hedonismus, die Berücksichtigung der Sinne, der Leidenschaften, des Körpers und des Lebens.“ („Der sinnliche Philosoph“)

Neu und originell ist das keineswegs, und auch Onfray selbst offenbart unablässig und voller Wollust seine Kronzeugen – La Mettrie, Nietzsche, Felix Guattari und Gilles Deleuze, um nur die wichtigsten zu nennen. Auf dem Mist dieser Autoren gewachsen ist auch Onfrays 2010 in Frankreich erschienene und neulich ins Deutsche übersetzte Streitschrift „Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert“: La Mettries „Über das Glück, oder: Das höchste Gut („Anti-Seneca“)“, Nietzsches „Der Antichrist. Fluch auf das Christentum“ und „Genealogie der Moral“ sowie „Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie“ von Deleuze und Guattari haben ihm Modell gestanden.

In diesem Sinne ist die von Michel Crépu gestellte Frage „Was hat die Psychoanalyse bloß dem Himmel angetan, dass sie es verdient, […] von Michel Onfray verunglimpft zu werden?“ sehr einfach zu beantworten: Der in seiner Jugend Freud zugewandte, später der Psychoanalyse gegenüber immer mehr ambivalente und nun unermüdlich wie ein Satellit im Orbit der obengenannten Philosophen kreisende französische Philosoph Michel Onfray hat eine Analogie entdeckt: Die Psychoanalyse entspricht dem von Nietzsche geschilderten „asketischen Stern“, einem „Winkel mißvergnügter, hochmütiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruß an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden“, wie es in Nietzsches Schrift „Zur Genealogie der Moral“ heißt. Die Übereinstimmung zwischen der Psychoanalyse und dem „asketischen Stern“ nachzuweisen, ist der vordergründige Zweck Michel Onfrays, wobei Freud in die Rolle des von Nietzsche selbst mit Verve und Hass gezeichneten „asketischen Priesters“ gedrängt werden soll.

Und hier fangen Onfrays Schwierigkeiten  auch schon an. Er ist bestrebt, sowohl die Verlogenheit des „asketischen Priesters“ zu demonstrieren als auch die Heiligenlegende um ihn zu demontieren, wobei er von folgender, bereits in seinem Buch „Der sinnliche Philosoph“ formulierten Prämisse ausgeht: „Der Körper des Heiligen ist das, was übrig bleibt, wenn man alles Fleisch von irgendeinem anderen Körper weggenommen hat. Das heißt soviel wie nichts.“

Onfray wird also Freuds ,geheiligten‘ Körper mit „Fleisch“ füllen und mit starken leiblichen Bedürfnissen versehen müssen, um der Heiligenlegende den Boden zu entziehen. Treu seiner simplen Generalformel muss er dann beweisen, dass Freuds Werk – die Psychoanalyse – im „Fleisch“ ihres Erfinders „verankert“ ist. Wie wird Michel Onfray es aber schaffen, Freud und die Psychoanalyse zu diskreditieren, nachdem ihn der menschliche Leib sonst immer in Ekstase versetzt? (siehe etwa den Ausruf „Was für eine schöne Maschine!“ in „Der sinnliche Philosoph“ oder Onfrays Euphorie über die von Deleuze und Guattari gepriesenen „Wunschströme“ im menschlichen Leib.)

Dass Onfrays „Anti Freud“ das ganze „Sündenregister“ der Psychoanalyse aufrollt, wurde in den bisher erschienenen Rezensionen zu diesem Buch richtig erkannt. Der von Onfray entworfenen und an der Psychoanalyse exemplifizierten „Pathologie des asketischen Ideals“ hingegen wurde keine Beachtung geschenkt. Nicht die zahlreichen einzelnen Vergehen Freuds, die im Buch genussvoll und meist in einzelnen Kapiteln ausgebreitet werden und die von Elisabeth Roudinesco in ihrer Replik „Doch warum so viel Hass?“ überprüft und einer peniblen Gegenkritik unterzogen wurden, sind Onfrays Hauptziel. Sie sind nur der Weg zu Onfrays Ziel: Freud als verlogenen Priester der asketischen Moral „in flagranti“ ertappen.

Insofern ist Onfray auch konsequent, wenn er bekennt, dass er keine „Pathographie“ anstrebt. Der „freudsche Bauchladen“, der die Psychoanalyse hervorgebracht hat, kann für Onfray nicht verwerflich sein und keiner Pathologie zugeordnet werden. Onfray wird versuchen, die pathogene Wirkung der freudschen „Hirngespinste“ und „Obsessionen“ aufzuzeigen. Dort, an der Grenze zwischen dem freudschen Körper und der freudschen Seele, wird die Transformation des Guten des freudschen wie eines jeden Leibes in das Böse der Psychoanalyse erfolgen müssen. Dieser Einschätzung zufolge ist die Psychoanalyse für Onfray nur eine in Freuds Biografie verwurzelte „Exegese von Freuds Körper“.

Diese Exegese als Maske und als „Lügengerüst“ zu entlarven, ist eins der wichtigsten Anliegen Onfrays. Die Quintessenz von Freuds Biografie aus Onfrays Sicht lautet: „Sein Leben lang fühlte Freud sich von seiner Mutter sexuell angezogen. Das ging so weit, dass er diese Anziehung zur Grundlage einer allgemeinen Theorie über den Ödipuskomplex machte. Er heiratete ein junges Mädchen, deren Schwester er den Hof machte, und wurde zum Liebhaber seiner Schwägerin […]. Mit seiner jüngsten Tochter unterhielt er eine symbolisch inzestuöse Beziehung […]“. Freud ist sein Leben lang „im Labyrinth der Libido“ gefangen, schuld daran sei jedoch seine „inzestuöse Psyche“.

Wie schon bei Nietzsche ist der asketische Priester Freud beispielsweise von „intestinaler Krankhaftigkeit“ (Nietzsche, Genealogie der Moral) befallen, die aber laut Onfray nicht in seinem Körper, sondern in seiner „Psychopathologie“ gründe. Freud ist „missmutig, opportunistisch, neidisch, geldgierig, böse, zögerlich und von sich selbst überzeugt“ und von den für den asketischen Priester typischen Hass und Rachsucht zerfressen. Er ist „psychisch“ von seinen Patienten „nicht weit entfernt“, was ihm ermöglicht, sich zum „Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde“ (Nietzsche) aufzuschwingen. Die Hauptsünde des asketischen Priesters Freud sei aber dessen Körperfeindlichlichkeit – die Psychoanalyse basiere auf der „Ablehnung des Körpers“ und auf der „zwanghafte[n] Fixierung auf das Psychische“, die sogar die völlige Eliminierung des Körpers zur Folge habe: „Wie durch Zauberhand verschwand der Körper aus Freuds Denken.“

Elisabeth Roudinescos Erwiderung auf Onfrays Pamphlet entfaltet mehrere wichtige und wertvolle Stränge – sie skizziert die Geschichte des Hasses auf Freud, die Genealogie der Freud-Legende, die Geschichte der von Onfray betriebenen „Gegengeschichte zu den offiziellen Wissensformen“. Sie nimmt mehrere Behauptungen Onfrays unter die Lupe und korrigiert sie kenntnisreich und in konkreter mikroskopischer Detailarbeit – so zeigt sie, dass Anna Freud von ihrem Vater keine zehn (wie von Onfray behauptet), sondern nur vier Jahre lang analysiert wurde. Voller Entrüstung enthüllt Roudinesco außerdem viele von Onfrays Maßlosigkeiten und „Ungeheuerlichkeiten“ (Christian Godin) – etwa die absurde Gleichsetzung von psychoanalytischer Therapie und stalinistischen Arbeitslagern. Auch wenn die Empörung angesichts von Onfrays mühseligem und ungeschicktem Versuch einer Diffamierung Freuds und der Psychoanalyse anhand von Nietzsches Leitfaden vom asketischen Priester kaum gerechtfertigt ist, ist der Autorin voll und ganz zuzustimmen, dass Gleichgültigkeit die falsche Antwort auf den von ihr als „Gossenliteratur“ empfundenen Text ist. Trotz ihrer Konzentration auf die Details erkennt Roudinesco, dass Onfray mit seiner „Anklageschrift“ die Psychoanalyse als Dekadenzsymptom brandmarkt und dass sich Onfray dagegen zum „hedonistischen Sonnengott“ stilisiert.

Hier hätte sie jedoch die von ihr gemachte Beobachtung über Onfrays besonderen Hass auf die Priester infolge eigener verhängnisvoller Kindheitserlebnisse mit „Salesianermönche[n]“ aus dem engen Rahmen der Biografie Onfrays herausführen müssen, um Onfrays Rache an den Priestern mit den bei Nietzsche vorgefundenen Hasstiraden auf den asketischen Priester verbinden zu können. Die sich dabei eröffnende, schon bei Nietzsches Verurteilung des jüdischen Priesters präsente antisemitische Ebene bedarf allerdings einer eingehenden, separaten Untersuchung.

Doch es greift zu kurz, Onfrays Buch nur als Rache an der „Priesterkaste“ (Nietzsche) aufzufassen. Der französische Philosoph rächt auch den Mord an „Vater Nietzsche“ durch Freud, der Nietzsches Einfluss auf die Psychoanalyse verschwiegen habe. Er möchte den Schwindel der freudschen Psychoanalyse aufdecken und sich zum Antagonisten des von Freud propagierten asketischen Ideals und zum Anti-Nihilisten erheben. Onfrays Buch versucht seine Stärke und seine anti-nihilistische Kraft aus der Einfachheit und dem Lakonismus seiner Behauptungen zu beziehen, etwa wenn der Autor strittigen Fragen wie Freuds angeblichem Verhältnis mit seiner Schwägerin Minna mit einem Satz ein Ende setzt: „Schließlich beging er mit seiner Schwägerin Ehebruch.“

Oder wenn er feststellt: „Weil er selbst inzestuöse Neigungen hatte, vermutete er den Inzest überall.“ Onfrays Urteile sind knapp formuliert, aber kategorisch und stark verallgemeinernd: „Da haben wir den gesamten Freud“ (oder auch: „,Die Traumdeutung‘ ist zwar ein dickes Buch, aber erstaunlich inhaltsleer, denn sie lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen“.) Onfray bietet dem Leser überall seine Hilfe und simple Lösungen an, die keine Widerrede dulden: „An der Sache ist kein Zweifel“. Ebenfalls im Zeichen letzter Gewissheiten stehen Formulierungen wie diejenige, dass Freud „nach dem Prinzip magischer Kausalität“ behandelt und sich mitsamt seinem Werk ganz dem „Inzestprinzip“ verschrieben habe.

Anders als bei Nietzsches Genealogie und Phänomenologie des asketischen Ideals und des asketischen Priesters gelingt Onfray, der diese Erscheinungen an der Psychoanalyse und an Freud veranschaulichen möchte, kein differenziertes und mehrdimensionales Bild. Während Nietzsche durchaus die Lebensverbundenheit und die Kraft des asketischen Priesters hervorhebt und würdigt – für ihn ist der asketische Priester sogar ein ,Herr über das Leben‘ – bringt die Widersprüchlichkeit und die Vitalität des asketischen Priesters den Philosophen Onfray in Verwirrung, weshalb ihm etwa die „Kühnheit“ des „Konquistadoren“ Freud zutiefst widerstrebt und ihm als ein Gegensatz zu „Wahrheit, Tugend, Vernunft und Wissenschaftlichkeit“ erscheint. „Kühnheit“ – von Onfray als „eine gewisse Dreistigkeit, eine Begierde, der Wunsch, etwas zu sagen, zu tun oder zu denken“ definiert – wird hiermit nicht nur aus dem wissenschaftlichen Ethos ausgeschlossen, sondern in ihrer leiblichen Fundiertheit von Onfray sogar verworfen, obwohl sie seinem lebensbejahenden Leitmotiv von der „großen Vernunft“ des Leibes ganz und gar entspricht.

Nur vereinzelt und vage wird angedeutet, dass sich Freud wie der asketische Priester und anders als die von ihm dominierte „kranke Heerde“ (Nietzsche) durch die Fähigkeit zum „seelischen Überleben“ (Hervorhebung G.H.) auszeichne. Man vermisst bei Onfray Klarheit und Stringenz bei der Beschreibung des Leib-Seele-Zusammenhangs, die es ihm erlaubt hätten, den sankrosankten Status des Leibs aufrecht zu erhalten und für den Inzest nur die Seele verantwortlich zu machen: so wird der Inzest mal rein psychisch als „Phantasie“, meist aber als physiologischer Dauerzustand Freuds angesehen, sodass die Darstellung letztendlich in eine Verurteilung des Leibs mündet.

Onfrays Verdikt gegen Freuds von Inbrunst und Leidenschaften geschüttelten Körper widerspricht seinem eigenen Leibkult. Zudem hätte die Feststellung, Freud habe seine starken „körperlichen Bedürfnisse verborgen“, und die Psychoanalyse sei nur das Ergebnis dieser Fehlinterpretation des freudschen Körpers und des „Ringens mit der Neigung zum Inzest“, eine genaue Untersuchung der Mechanismen des „Verbergens“ und „Verschleierns“ der übermächtigen Physiologie Freuds im Rahmen der „Exegese“ des freudschen Körpers, der listigen Neuauslegung und Umwertung des Lebens durch den Priester Freud, nach sich ziehen müssen. Nur gelegentlich und viel zu allgemein wird erwähnt, dass Freud seine inzestuösen Begierden hinter wissenschaftlicher Objektivität versteckt habe.

Es wäre Onfrays große Leistung geworden, hätte er außerdem präzis nachweisen können, wie es Freud gelang, „die Heerde“ über sein wahres Wesen zu täuschen und bei all seiner eigenen, starken Leidenschaftlichkeit in die Askese zu manipulieren. Anstatt ein solches breites Panorama zu zeichnen, schränkt Onfray den Radius seiner Betrachtungen jedoch rigoros ein, indem er Freuds Theorie beziehungsweise sein ‚ausgeklügeltes‘ Interpretationssystem auf die „Selbstsuche“ und das „eigene Innenleben“ Freuds, also auf eine Privatangelegenheit, eine rein „persönliche Tragödie“ reduziert.

Welten entfernt ist hier Onfray von Nietzsche, der nicht nur die für die Persönlichkeit des Priesters charakteristische Spannung zwischen Dekadenz und Triumph über das Leben erfasst, sondern auch die ganze Dynamik und Widersprüchlichkeit der Interaktion zwischen dem mächtigen Priester und den „physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen“ sowie die „historische Mission“ des asketischen Priesters aufzeigt. Nach komplexeren Konstrukten wie Nietzsches Formel vom asketischen Priester als „Richtungs-Veränderer des Ressentiments“ sucht man bei Onfray auch vergebens.

Michel Onfray, in der Pose Zarathustras und wie Zarathustra „seiner Weisheit überdrüssig“, musste „untergehen“ – zu den Menschen hinabsteigen, um Freuds Tod zu verkünden und „Feuer in die Täler [zu] tragen“. Wen würde es aber wundern, wenn diese wankelmütige und konfuse ‚Brandstiftung‘ von geringer Tiefe, die nur ein kurzlebiges Strohfeuer entfacht, wenig Asche abwirft und den ‚Untergang‘ nicht lohnt, stattdessen den Untergang des Sterns des Populärphilosophen Michel Onfray einleitet?

Titelbild

Michel Onfray: Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert.
Übersetzt aus dem Französischen von Stephanie Singh.
Knaus Verlag, München 2011.
540 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504088

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Titelbild

Elisabeth Roudinesco: Doch warum so viel Hass? Eine Erwiderung auf Michel Onfrays "Anti Freud".
Turia + Kant Verlag, Wien 2011.
89 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783851326406

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