Von deutschen Damen auf Orientreise zu den netten Türkinnen von nebenan

Petra Heinrichs‘ Buch über literarische Topografien von Nation und Geschlecht

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einem halben Jahrhundert leben in Deutschland, infolge der Arbeitsmigration, immer mehr Menschen, die aus der Türkei gekommen sind oder deren Vorfahren dort gelebt haben. Sie bilden mittlerweile die größte ‚Minderheit‘, wenn es denn zulässig ist, alle diese Individuen unter solch einen aus- wie einschließenden Begriff zu bringen. Die Deutschen stehen folglich mit keinem anderen Volk in engerer Berührung als mit den Türken. So unbestreitbar diese Tatsache ist, so schwer tun sich Gesellschaft, Politik, Öffentlichkeit, Kultur und auch Wissenschaft bisher mit ihr. Die Sozial- und Kulturwissenschaften versuchen ihr jedoch allmählich gerecht zu werden.

Die deutsche Germanistik ist da bisher eher zögerlich, auch diejenige ihrer Richtungen, die sich interkulturell nennt. Deutschsprachige Autoren türkischer Herkunft, inzwischen eine beträchtliche Anzahl, darunter einige auch international bekannte Namen, sind bisher bald gönnerhaft, bald abschätzig am Rande gelassen worden. „Trotz gelungener Einzelbeispiele öffnet sich die Literaturgeschichtsschreibung nur zögernd für ‚Migrantenliteratur‘ und so gut wir gar nicht für die Einbeziehung interkultureller/postkolonialer Literatur und entsprechender Perspektiven der Literaturgeschichtsschreibung.“ So das Fazit, das Herbert Uerlings treffend im letzten Heft der neuen „Zeitschrift für interkulturelle Germanistik“ zieht.

Ebenso wie Kritik, Erforschung und Vermittlung von ‚Migrantenliteratur‘ bedarf auch die Untersuchung von Bildern der Türken und der Türkei in Literatur und Medien der Beachtung, sie kann sogar Vorrang vor anderen imagologischen Projekten beanspruchen. Jedoch enthält dieses Thema sehr heterogene Aspekte: Türkenbild und Islambild überschneiden sich traditionell und verzerrend, ohne sich sachlich zu decken, und heute werden sie beide gern – auch das eine verzerrende Reduktion – dem Feld übergreifender Studien zum ‚Orientalismus‘ zugeordnet. Hier sind differenzierende kritische Analysen nötig und erwünscht. Eine solche zu sein beansprucht die Dissertation von Petra Heinrichs: „Grenzüberschreitungen: Die Türkei im Spiegel deutschsprachiger Literatur. Ver-rückte Topografien von Geschlecht und Nation.“

Die sehr umfangreiche und, was ihr Textkorpus betrifft, sehr heterogene Arbeit von 462 Seiten versteht das Titelstichwort ‚Geschlecht‘, bei allem Theorie-Überbau, praktisch sehr einfach im Sinne von weitestgehender Beschränkung auf Autorinnen. Sie besteht in ihrem Hauptteil aus drei großen Blöcken aus jeweils zwei Kapiteln. Das Ganze wird, die Beschränkung ein wenig relativierend, von zwei Filmanalysen eingerahmt, die paradigmatisch dem Ineinander von Gender- und Kultur-Alterität gelten: zu „Lola und Bilidikid“ des beachtlichen Video-Künstlers Kutluğ Ataman und zu Filmen des unvermeidlichen Fatih Akın. Den ersten Block bildet ein Kapitelpaar über Reiseliteratur aus dem 19. Jahrhundert, in der auch die Türkei vorkommt, verfasst von jeweils zwei Autorinnen: Ida Pfeiffer und Ida Gräfin von Hahn-Hahn aus der Jahrhundertmitte, Rosa von Förster und Bernhardine Schulze-Smidt aus wilhelminischer Zeit.

Im zweiten Block werden kapitelweise zwei sehr verschiedene, auch literarisch ganz verschiedengewichtige Autorinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt: Das ist zum einen die allein durch ihre romantisierende Herausgabe türkischer Märchen bekannt gewordene Elsa Sophia von Kamphoevener, eine deutsch-nationale Nazi-Mitläuferin, die nach dem Krieg noch einen Roman verbrochen hat, der im späten Osmanischen Reich spielt. Das ist zum anderen die literarisch unvergleichlich bedeutendere, erst im letzten Jahrzehnt wiederentdeckte Annemarie Schwarzenbach, deren reale und schriftstellerische Suchbewegungen sich kulturell zwischen Okzident und Orient einerseits, sexuell zwischen Hetero- und Homosexualität andererseits abspielten, wobei Türkei- und Türkenbilder eine eher marginale Rolle spielen. Der dritte Block schaltet abrupt von Türkeireise- auf türkische Migrantenliteratur um, und zwar weiter ausschließlich von Frauen, abgesehen von ein paar Özdamar-Seiten, in denen auch Zaimoglu und Özdoğan gestreift werden, und von einem kleinen Istanbul-Feuilleton Ulrich Peltzers. Im einen Kapitel liegt der Akzent mehr auf migrativen Authentizitätsdiskursen, im anderen mehr auf deren experimenteller Subversion und Ver-rückung.

Dieser Schlussblock der Arbeit wirkt wie künstlich aufgepfropft. Denn nur dünnste Fäden können Türkeireiseliteratur adliger und bürgerlicher deutscher Frauen zwischen 1850 und 1950 mit heutiger Literatur türkischstämmiger Migrantinnen verbinden. Wie oft bei quantitativ überdehnten, weil stofflich allzu heterogenen und gleichzeitig konzeptionell nicht hinreichend durchdachten Dissertationen stellt sich auch hier der Stoßseufzer ein: Weniger wäre mehr gewesen. Dieser Schlussblock bleibt gegenüber dem differenzierten Stand der Forschung, etwa zu Özdamar, zu oberflächlich, um zu der sehr interessanten und zum Teil sogar brisanten Gender-Problematik der Migrantenliteratur, gerade auch ,männlicher‘, hinreichend Gewichtiges beitragen zu können. Das imagologische Leitkonzept ,Türkeibilder‘ verliert sich mehr und mehr, und die ,feministische‘ Textauswahl bleibt mechanisch: Es gibt zwischen den behandelten Autorinnen außer dem biologischen Geschlecht kaum etwas Gemeinsames.

Die Heterogenität des Ganzen wirkt sich an manchen Stellen als Flüchtigkeit im Einzelnen aus. So hätten sich die ziemlich unsäglichen Produkte der reisenden wilhelminischen Damen sehr schön konfrontieren lassen zum Beispiel mit „Frau Buchholz im Orient” des Bestsellerautors Julius Stinde, mit der wunderschönen plattdeutschen „Reis’ nah Konstantinopel“ von Fritz Reuter, mit den Istanbul-Romanen und -Erzählungen von Rudolf Lindau oder mit dem Reisebuch „Asia“ des „politischen Pastors“ und nationalistisch-imperialistischen Ideologen Friedrich Naumann. Oder, um an ganz anderer Stelle anzusetzen: Wenn Heinrichs am Schluss ihrer Arbeit beklagt, dass die dokumentarische Literatur „facettenreiche Protagonistinnen türkischer Herkunft bislang eher vernachlässigt“, warum vernachlässigt sie selber dann ein gerade in diesem Punkt so einschlägiges Buch wie „Wege ins Freie“ (2009) von Zehra Ipşiroğlu? Und wenn sie den Gender-Aspekt, wie postfeministisch unbestimmt auch immer, ins Zentrum rückt, warum berücksichtigt sie von Yeşilada nur die „geschundene Suleika“ (1997), nicht aber die „netten Türkinnen von nebenan“ (2009)?

Am empfindlichsten ist ein ebenso auffälliger wie unverständlicher Mangel im Umgang mit Forschungsliteratur: Sowohl zum Thema ,Türkeibilder‘ wie zum Thema ,Migrantenliteratur‘ haben türkische Germanist- und KomparatistInnen seit vielen Jahren Pionierarbeit geleistet und diese nicht nur in türkischer, sondern auch in deutscher Sprache publiziert: von Onur Bilge Kula bis zu Nedret Kuran-Burçoğlu und Nazan Aksoy, von Nilüfer Kuruyazıcı (als Herausgeberin: „Gurbeti Vatan Edenler“, 2001; als Autorin: „Wahrnehmungen des Fremden“, 2006) bis zu Mahmut Karakuş („Interkulturelle Konstellationen. Deutsch-türkische Begegnungen in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart“, 2006). Wer mehrere Jahre lang in der Türkei als Lektorin zu Gast war, sollte mit der – oft unter schwierigen Bedingungen – geleisteten Forschungsarbeit türkischer KollegInnen anders umgehen.

Von solchen Mängeln abgesehen, enthält das Buch von Petra Heinrichs viele lesenswerte kritische Einzelanalysen, in denen theoretische Konzepte und Textnähe gut zusammenwirken, so etwa die vernichtende Kritik an Exotismus, Orientalismus, Rassismus in den Texten der kaiserzeitlichen Autorinnen. Ob jedoch eine im Ganzen derart heterogene Arbeit auf dem ebenso heterogenen Feld türkisch-deutscher Kultur- und Literaturstudien innovative Impulse zu geben vermag, bleibt abzuwarten. Dieses Feld wird augenblicklich, im Zeichen des 50. Jahres türkischer Arbeitsmigration in Deutschland, endlich weiter aufgearbeitet. Ein neues, inter- und transdisziplinär ausgerichtetes Jahrbuch „Türkisch-deutsche Studien“, vornehmlich von Şeyda Ozil (Istanbul) und Yasemin Dayıoğlu-Yücel (Hamburg) konzipiert und betreut, ist mit einem ersten, recht beachtlichen Band erschienen. Ein zweiter, mit Schwerpunkt auf dem genannten Jubiläum und damit auf einem halben Jahrhundert Einwanderungsgeschichte, und ein dritter, voraussichtlich zu Bildungsfragen, sind bereits in Vorbereitung. Dies sind auch zwei weitere vielversprechende Publikationen: Eine „Türkisch-deutsche Kulturgeschichte“, die Michael Hofmann, und ein Band über „Kontexte der türkisch-deutschen Literatur“, den Karin E. Yeşilada herausgibt. Damit könnte das eingangs zitierte Urteil von Herbert Uerlings wenigstens teilweise revisionsbedürftig werden.

Titelbild

Petra Heinrichs: Grenzüberschreitungen. Die Türkei im Spiegel deutschsprachiger Literatur: Verrückte Topografien von Geschlecht und Nation.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011.
462 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783895288609

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