Überleben im Lager Bergen-Belsen

Arieh Koretz dokumentiert in seinem „Tagebuch eines Jugendlichen“ den Lageralltag vom Sommer 1944 bis zur Auflösung des Lagers im April 1945

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Geschehen in den Konzentrationslagern der Nazis, das System der Lager, ihre ,Funktion‘ im nationalsozialistischen Terrorsystem, und nicht zuletzt der Alltag des Terrors in den Lagern ist heute wohlbekannt. Es ist kaum mehr vorstellbar: die Menschen in den Lagern lebten in einer brutal-hoffnungslosen Umgebung, in der Gewalt und Tod allgegenwärtig waren. Umso ergreifender ist es, wenn man sich klar macht, dass einige Menschen die Kraft hatten, das alltägliche Überleben zu dokumentieren. Sie dokumentieren den Alltag im Lager, notierten die Unmenschlichkeiten, schrieben Tagebuch. Eine gewaltige Anstrengung, wenn der Körper und Geist ausgelaugt sind von ständiger Todesdrohung, von Hunger, brutalen Arbeitseinsätzen, stundenlangen Appellen bei jedem Wetter und katastrophalen Hygieneverhältnissen. Woher die Zeit und Kraft nehmen für ein Tagebuch? Wie schreiben ohne Stift und Papier? Eine bewundernswürdige Leistung. Jedes Tagebuch, ob überliefert oder verloren gegangen, ist ein Aufbegehren gegen den Terror. Es ist ein Dokument der Menschlichkeit, das sich behauptet gegen die systematische Zerstörung alles Menschlichen. Jedes in dieser Situation aufgeschriebene Wort legt Zeugnis ab von ungebrochener Widerstandskraft.

So auch das vorliegende „Tagebuch eines Jugendlichen“ aus dem KZ Bergen-Belsen. Der Jugendliche war der 1928 in Hamburg geborene Leo Koretz (heute Arieh Koretz). Der Vater wurde 1933 zum Oberrabbiner von Saloniki berufen und so zog die Familie in die griechische Stadt. 1941 besetzten die Deutschen die Stadt und nun begann auch hier die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Eine tragische Rolle spielte dabei der Vater des jungen Leo, Zvi Koretz. Die Juden Salonikis hatten den Oberrabbiner zu ihrem Sprecher gewählt in der Hoffnung, er könne als deutschsprachiger Unterhändler am besten mit den deutschen Besatzern verhandeln. Eine trügerische Hoffnung, denn „in Koretz“, so urteilt Raul Hilberg in seinem Standardwerk über die „Vernichtung der europäischen Juden“ hatten sie „einen Führer, der die „bedingungslose Unterwerfung“ auf seine Fahnen geschrieben hatte“. Die meisten der Juden aus Saloniki wurden 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie in den Gaskammern ermordet wurden. Koretz mit seiner Familie wurde im August 1943 verhaftet und nach Bergen-Belsen verbracht.

Das rettete ihnen zunächst das Leben. Denn das Lager Bergen-Belsen hatte eine besondere Funktion. Es fungierte seit 1943 als „Aufenthaltslager“, in dem die Deutschen „Austauschhäftlinge“ inhaftierten. Man bezweckte, diese Häftlinge gegen im Ausland festgehaltene Deutsche auszutauschen. Zudem erhoffte man sich durch den Austausch zusätzliche Devisen. Die Familie Koretz gehörte nun als sogenannte „Privilegierte“ zu diesen „Austauschhäftlingen“.

Am 10. April 1945, kurz vor dem Eintreffen englischer Truppen, ließ die SS das Austauschlager räumen. Etwa 6.000 Menschen wurden in drei Züge verladen und sollten nach Theresienstadt verbracht werden. Der Zug, in dem Koretz sich befand, wurde am 23. April im sächsischen Tröbitz (bei Torgau) befreit. Für Leo Koretz, seine Mutter und seine jüngere Schwester endete damit die Leidensgeschichte. Der Vater freilich starb in Tröbitz. Er hatte sich mit Typhus infiziert.

Koretz konnte sein Aufzeichnungen retten. Inzwischen israelischer Staatsbürger, stellte Arieh Koretz sein Tagebuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen als Schenkung zur Verfügung. Es beginnt im Juli 1944 und endet am 30. März 1945.

Das Tagebuch ist unspektakulär. Aber gerade die nüchterne Darstellung macht seinen Erkenntniswert aus. Koretz schildert die täglichen Arbeitseinsätze unter elenden Bedingungen, vermerkt die dauernde Kälte und Nässe in den Kleidern und den Baracken, in denen die hygienischen Bedingungen katastrophal waren – und sich spätestens seit Herbst 1944, als immer mehr Häftlinge aus anderen Konzentrationslagern nach Bergen-Belsen kamen, von Tag zu Tag verschlechterten. Zentrales Thema aber ist der Hunger. Fast jeden Tag notiert der junge Koretz seine Anstrengungen, Lebensmittel zu organisieren. So lange die interne Organisation des Lagers noch mit den eigenen Leuten bestückt war, ließ sich oft ein Weg an der prügelnden SS vorbei finden. Als aber durch die tausende von neu eintreffenden Häftlingen sich auch die innere Lagerstruktur veränderte und zunehmend kriminelle Kapos an die Schaltstellen des Lager gelangten, verschlechterten sich die Bedingungen. Das Lager versank immer mehr im todbringenden Chaos. Seuchen grassierten. Überall starben Menschen. Die Familie Koretz ,entkam‘ dem Massensterben in einem der drei Züge, mit denen die SS ihre ,wertvollen‘ Häftlingen nach Theresienstadt verfrachten wollte.

Wenige Tage danach, am 15. April 1945, übernahmen englische Truppen das Lager. Sie fanden Leichenberge und tausende von völlig ausgezehrten und todgeweihten Menschen. Die Bilder, die englische Kameramänner in den ersten Tagen nach der Befreiung des Lagers machten, schockierten die Welt.

Titelbild

Arieh Koretz: Bergen-Belsen. Tagebuch eines Jugendlichen 11.7.1944 – 30.3.1945.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Gerda Steinfeld.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
181 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308992

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