Missverstanden und vergessen

Elaine Martin deckt in ihrer Arbeit zur Nobelpreisträgerin Nelly Sachs viele Fehlurteile der bisherigen Rezeption auf

Von Florian StrobRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Strob

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sachlich klar ließen sich bisher die wenigsten Arbeiten zum Werk Nelly Sachs’ beschreiben. Besonders das Gros der deutschsprachigen Arbeiten ist in den letzten 40 Jahren einer solchen Beschreibung nur selten gerecht geworden, Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Wie klar und konzentriert Elaine Martin in ihrer Veröffentlichung „Nelly Sachs. The Poetics of Silence and the Limits of Representation“ argumentiert, und als wie ungewöhnlich dies in der Sachs-Forschung gelten kann, wird jedem sofort ersichtlich, der Gesine Schauertes Publikation aus dem Jahr 2007 („Glühende Rätsel äugen sich an“, bei Winter) neben Martins Arbeit legt. Da liegen dann Schauertes 1.000 Seiten, inklusive 3.000 Fußnoten, neben Martins knapp 200 Seiten, inklusive weniger als 20 Fußnoten. Was auch immer Schauerte uns Wesentliches zu sagen hat, sie wusste es zu verstecken.

Doch was sagt das aus? Der Reihe nach. Fangen wir also bei Sachs selbst einmal an. Als Nelly Sachs 1970 in Stockholm starb, lag ein ganz und gar ungewöhnliches, zutiefst bedrohtes und literarisch produktives Leben hinter ihr. 1891 in Berlin als einziges Kind wohlhabender, assimilierter Juden geboren, verbrachte sie die ersten vierzig Jahre ihres Lebens im Kreis ihrer Familie und Freunde, ohne literarisch erwähnenswert hervorzutreten. Von 1933 an litt sie unter dem zunehmenden nationalsozialistischen Terror, konnte aber noch im Mai 1940 nach Schweden fliehen. Bald hörte sie von den deutschen Vernichtungslagern, von ermordeten Verwandten und Freunden. Der ‚Zivilisationsbruch‘ durch die Shoa zwang Sachs förmlich dazu, ihr bisheriges Schreiben radikal zu ändern. 1947 erschien ihr erster Gedichtband „In den Wohnungen des Todes“ beim Aufbau Verlag in Ostberlin. 1949 folgte der zweite Band „Sternverdunkelung“ beim Bermann-Fischer Verlag. Nach dem Tod ihrer Mutter 1950 gelang es ihr jahrelang nicht, weitere Werke zu publizieren. Sie blieb eine Unbekannte und schrieb dennoch weiter. Erst ab Ende der 1950er-Jahre rückte Sachs plötzlich ins öffentliche Interesse und erhielt zahlreiche Preise, darunter den Nobelpreis. Ihr Werk wurde veröffentlicht, doch wenig gelesen. Mit den Preisen und ihrem ersten Besuch 1960 in Deutschland gingen ein psychischer Zusammenbruch und jahrelange Klinikaufenthalte einher. Sachs wurde so aufgrund der Preise von den einen aus politischen Gründen zur ‚Dichterin der Versöhnung‘ stilisiert, von anderen als ‚Heilige der Wiedergutmachungswelle‘ abgelehnt.

Zwar gab es schon zu ihren Lebzeiten und dann nach ihrem Tod immer wieder Veröffentlichungen zu ihrem Werk. Doch viele dieser Arbeiten müssen als äußerst problematisch angesehen werden. Man kann wohl behaupten, dass Sachs und ihr Werk weitgehend vergessen wurden und es bis heute bleiben. Erst in den letzten Jahren sah man einige neue Ansätze in der Forschung und Bemühungen, das Werk Sachs’ wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rufen. Es seien hier stellvertretend die neue vierbändige und kommentierte Ausgabe ihrer Werke im Suhrkamp Verlag und eine große Wanderausstellung zu Leben und Werk sowie die sehr lesenswerte Monografie von Aris Fioretos erwähnt.

Warum nur diese späte, schwierige Rezeption von Sachs’ Werk? Eben hierauf versucht Elaine Martins Arbeit im ersten von zwei Hauptkapiteln zu antworten, um dann vor allem die Gedichte der 1940er-Jahre einer neuen, radikalen Lektüre zu unterziehen.

Martin geht zunächst von Folgendem aus: „The manner in which literary works are received in the public domain is, of course, inextricably linked with the prevailing socio-political conditions.“ So widmet sie sich eingangs eben diesen sozio-politischen Verhältnissen in der frühen DDR und BRD. Sie trägt noch einmal schon bekannte Einschätzungen und Interpretationen zusammen, die aber in ihrer ruhigen Konzentration einen Hintergrund ergeben, aus dem heraus die Rezeption Sachs’ nicht mehr verwundert. So kann Martin schließlich konstatieren: „The appropriation of her [Sachs’] work and the reclamation of her person as a quasi ‚public alibi‘ served a very definite purpose. Reclaiming Sachs would serve to relieve West Germans of the task of mourning: a reconciliatory message of the strength as the one supposedly on offer in her work, after all, rendered self-examination superfluous.“ Martin geht aber noch einen Schritt weiter und macht überzeugend deutlich, wie eigentlich bis heute viele, wenn nicht die meisten Interpretationen auf der politisch missbrauchenden Rezeption beruhen: Beinah systematisch und mutwillig (nicht böswillig) wurde Sachs’ Werk missverstanden.

Und noch mehr wird sichtbar: erschien den meisten Sachs aus der Zeit gefallen, steht sie nun im Zentrum ihrer Zeit. In einem zweiten Teil des ersten Kapitels stellt Martin Sachs ins Zentrum der Debatte um die Darstellbarkeit der Shoa. Adornos Diktum, nach Auschwitz lasse sich kein Gedicht mehr schreiben, wird dabei re-kontextualisiert und als eine Aporie dargestellt: einerseits lasse sich die Shoa nicht darstellen, andererseits müsse es trotzdem versucht werden. Genau diese Aporie findet Martin in den Gedichten von Sachs vor.

Martins Gedichtinterpretationen stehen im Gegensatz zu fast allen bisherigen Interpretationen. Anders als etwa noch Ruth Kranz-Löber im Jahr 2001 hält Martin in Sachs’ Gedichten eine dichterische Selbstreflexion für allgegenwärtig. Eine Selbstreflexion, wie sie die Aporie nach Adorno zwingend fordere. Zudem benutze Sachs Bibelanleihen, um den ‚Zivilisationsbruch Auschwitz‘ zu verdeutlichen, nicht etwa um die Shoa einer Mythisierung zu unterziehen (wieder Kranz-Löber). Anstatt Versöhnung erkennt Martin in den Gedichten Klage, Anklage und Verzweiflung. Stets sei der Bruch durch die Shoa präsent. Die Wunde wolle Sachs offen, die Erinnerung anwesend halten. Schließlich werden die Sachs’schen Texte in Martins Lesweise bitter ironisch, gar zynisch, radikalisieren sich zunehmend und steigern sich ins Ungeheuerliche. Wer mit Martin „O die Schornsteine“, Sachs’ vielleicht bekanntestes Gedicht, liest, dem tritt der Schmerz entgegen, und der muss das Monströse der Shoa erahnen. Martin leistet gewissermaßen eine Rehabilitierung der beiden ersten Gedichtbände („In den Wohnungen des Todes“ und „Sternverdunkelung“), die man auch aus stilistischen Gründen meinte ad acta legen zu können.

So notwendig und überzeugend Martins Studie ist, so sehr sind ihre Grenzen nicht zu verschweigen. Sachs’ Lyrik der 1940er-Jahre lernen wir auf faszinierende wie beunruhigende Weise neu lesen, außer Acht bleiben jedoch von vornherein die szenischen Dichtungen und die lyrische Prosa. In den seltenen Fällen, in denen sich Martin zudem späteren Gedichten (nach 1950) widmet, fallen ihre Interpretationen weit weniger überzeugend aus. Dies mag daran liegen, dass Martin sich nur auf die Auswirkungen des ‚Zivilisationsbruchs‘ beschränkt, die anderen beiden Brüche in Sachs’ Leben und Schaffen (Tod der Mutter 1950, erster Besuch der BRD 1960) aber nicht einbezieht.

Wir wären damit bei der eingangs erwähnten, eigentlich so willkommenen Konzentration und damit Kürze der Arbeit angelangt. Zwischen 3.000 oder 20 Fußnoten galt es sich zu entscheiden. Auch wenn man als Leser gerne zu den 20 Fußnoten tendiert, reichen sie vielleicht doch nicht ganz hin. An einigen Stellen hätte man sich von Martin genauere Auskunft gewünscht: Warum wurde die neue Ausgabe der Werke Sachs’ etwa so wenig berücksichtigt? Wie steht sie zu der Sekundärliteratur, die sie in einzelnen Punkten bestätigend zitiert, aber im Ganzen doch widerlegt?

Das einzige wirkliche Ärgernis im Fall von Martins Publikation ist allerdings das scheinbar fehlende Lektorat. Häufig zu findende Fehler wie „Vögelfuße“ sind unnötig und werfen ein Zwielicht auf diese ansonsten zu begrüßende Publikation. Eine Frage bleibt mir zum Schluss noch zu stellen: Warum sind die wesentlichen Arbeiten zu Sachs eigentlich der sogenannten ‚Auslandsgermanistik‘ zuzuordnen (etwa Bahr, Dinesen, Fioretos)? Elaine Martins Buch ruft uns in Erinnerung, dass die deutsche (literarische wie germanistische) Öffentlichkeit gegenüber dem Werk Sachs’ versagt hat, und wohl auch weiter versagt, solange man sich der eigenen politisch motivierten und nun historisch tradierten Ignoranz nicht bewusst wird.

Sachs’ Lyrik der 1940er-Jahre wird zum ersten Mal in Martins Interpretation in ihrer ganzen Radikalität lesbar. Vielleicht sind Sachs’ Texte die überzeugendste Darstellung, die wir vom ‚Zivilisationsbruch Auschwitz‘ haben.

Titelbild

Elaine Martin: Nelly Sachs. The Poetics of Silence and the Limits of Representation.
De Gruyter, Berlin 2011.
199 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783110256727

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