Der Weltgeist in der Karibik

Susan Buck-Morss entfaltet in ihrem Band „Hegel und Haiti“ das Projekt einer neuen Universalgeschichte

Von Robert ZwargRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Zwarg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wohl kaum ein Gedanke Georg Wilhelm Friedrich Hegels hat eine derartige Wirkung entfaltet wie der Abschnitt über „Herr und Knecht“ in der 1807 veröffentlichten „Phänomenologie des Geistes“. Im Duktus idealistischer Philosophie, dem strengen Übergang einer begrifflichen Form in die andere folgend, beschreibt Hegel dort – im Abschnitt über das Selbstbewusstsein – das Verhältnis zweier durch Abhängigkeit aneinander gebundenen Figuren. Wie die ganze Phänomenologie sich gegen den Schein der vollständigen Reflexion wendet, wie sie immer wieder eine kategoriale Figur ihrer Unvollständigkeit überführt, wird auch in diesem Abschnitt die Illusion, der Herr befände sich vermittels der Herrschaft über den Knecht in einer souveränen Position, korrigiert und dekonstruiert. Der Abschnitt endet mit der Erkenntnis, dass im Knecht, der des Herrn Arbeit übernimmt, das Tun des scheinbaren Souveräns, eine eigene Gestalt gewinnt und damit ein eigenes Bewusstsein. Nicht der Knecht ist abhängig vom Herrn, sondern umgekehrt. Allerdings – und das ist nur eine Merkwürdigkeit des Abschnitts – endet dieser zwar mit dieser Erkenntnis, eine Konsequenz daraus fehlt jedoch. Das Kapitel über Herr und Knecht endet vor der Revolte des Knechts.

Was Hegel dort über die „Kette“ schrieb, durch die der Knecht an den Herrn gefesselt ist, über die „Zucht des Dienstes und Gehorsams“, durch den die „Furcht“ des Knechtes aus dem Formellen ins Reelle übergehen könnte, hat ganz unterschiedliche Interpretationen nach sich gezogen. Schon seit den 1940er-Jahren des 19. Jahrhunderts, der Zeit von Karl Marx’ Frühschriften, las man das Kapitel als Metapher für den Klassenkampf. Im 20. Jahrhundert geht die wohl berühmteste Lesart auf den russisch-französischen Philosoph Alexandre Kojève zurück, dessen Pariser Vorlesungen in den 1930er-Jahren eine ganze Generation linker Intellektueller in Frankreich beeinflussen sollten. Kojève las die Phänomenologie ontologisch, wodurch sich die Dialektik zwischen Herr und Knecht unter der Hand in einen fundamentalen und dadurch umso eindrücklicheren „Kampf auf Leben und Tod“ verwandelte, der sich im Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie wiederholt. Der Streit, ob es angemessen sei, Hegel in diesem Sinne zu lesen, zieht sich bis in die Gegenwart und findet in Axel Honneths Anerkennungstheorie und einer Interpretation in der Tradition analytischer Philosophie, wie sie beispielsweise Pirmin Stekeler-Weithofer vertritt, seine zeitgenössischen Opponenten.

Dieser Auseinandersetzung um Hegel im Allgemeinen und den Abschnitt über Herr und Knecht im Besonderen hat Susan Buck-Morss in ihrem Buch Hegel und Haiti eine weitere Deutung hinzugefügt. Die an der Cornell University lehrende Theoretikerin sieht sich in der Tradition der Kritischen Theorie und insofern folgt ihre Intervention einem politischen Impuls. Was wäre, wenn Hegel die Anregungen zum Kapitel über Herr und Knecht nicht aus dem europäischen Zentrum, sondern der karibischen Peripherie erhalten hätte? Was wenn im Hauptwerk des prononciertesten Philosophen der Französischen Revolution nicht die Ereignisse in Frankreich, sondern die Revolution in Haiti seit 1791, also ein Freiheitskampf gegen die koloniale Herrschaft des Mutterlandes der Menschenrechte Pate gestanden hätte?

Auf dieser These baut Buck-Morss ihren Essay auf, der bereits im Jahr 2000 auf Englisch veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich zunächst um, wie sie schreibt, „eine Art Detektivgeschichte“, nämlich den ideengeschichtlichen Nachweis, dass Hegel durch die Lektüre zeitgenössischer Beiträge gut informiert war über die Revolution der „Schwarzen Jakobiner“ in der französischen Kolonie Saint-Domingue. Für Buck-Morss handelt es sich bei der Revolution in Haiti um einen realhistorischen Kampf um Anerkennung; um – in den Worten Hegels – den Eintritt eines „geschichtslosen Volkes“ in die Weltgeschichte. Diese Dimension des Hegel’schen Werkes, so weist Buck-Morss überzeugend nach, wurde von der Forschung beharrlich ignoriert; Hegel selbst erwähnte Haiti nur am Rande. Was die Rolle der Sklaverei in seinem Werk betrifft, nimmt sich die Diagnose noch drastischer aus: Während es im Frühwerk durchaus kritische Passagen über die Sklaverei gab, kennt man von dem späteren Hegel jene Aussagen, in denen die Sklaven selbst für ihre Situation verantwortlich gemacht werden und alles jenseits des europäischen Zentrums auch jenseits der Geschichte angesiedelt wurde. Buck-Morss verweigert sich dem Schluss, Hegel plumpen Rassismus vorzuwerfen. Tatsächlich deutet sie die Geschichte des Rassismus und der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert genau umgekehrt: Rassismus, so Buck-Morss, ist nicht der Grund, sondern die Folge der Sklaverei; ein Konzept zur Legitimation einer Praxis, die selbst wiederum auf unverstandenen ökonomischen Sachzwängen beruhte. Denn erst die Ausdehnung des Weltmarktes und die Notwendigkeit, die europäischen Kernländer mit neuen Produkten wie Kaffee und Tabak zu versorgen, gab dem Kolonialismus den entscheidenden Schub.

Angesichts der Tatsache, wie sehr die Sklaverei im 18. Jahrhundert bereits zur Schlüsselmetapher der politischen Philosophie geworden war und wie sehr sich Saint-Domingue im Blick einer entstehenden Weltöffentlichkeit befand, überrascht die Abwesenheit der Haitianischen Revolution sowohl in der Hegelforschung also auch bei Hegel selbst. Die Beobachtung, dass sich der emphatische Bezug auf die Freiheit westlicher Provenienz und die gleichzeitige Ablehnung der Sklaverei gerade zur Hochzeit des europäischen Kolonialismus durchsetzten, ist durchaus ein Stück Dialektik der Aufklärung. Frankreich ist schließlich nicht nur die Heimat der Deklaration der Menschenrechte, sondern auch die Heimat des Code Noir, der gesetzlich sanktionierten Sklaverei. Der Aufstand in Haiti, so Buck-Morss, war ein Aufstand gegen diese dunkle Seite der europäischen Aufklärung und insofern – gut hegelianisch – ein Teil der Verwirklichung der Freiheit. Noch die Haitianische Revolution selbst exemplifiziert ein Stück dieser Dialektik: Während Toussaint-L’Ouvertures Verfassung von 1801, in der das Prinzip der Freiheit auf alle Menschen unabhängig von der Hautfarbe auf dem Boden von Saint-Domingue ausgedehnt wurde, sich durchaus mit der Französischen Verfassung messen kann, standen auch die Gewalt des antikolonialen Kampfes dem jakobinischen Terror in Frankreich kaum nach.

Susan Buck-Morss’ intellektuelles Projekt strebt nach Reintegration. Was für Hegel einst außerhalb der sich verwirklichenden Freiheit lag, soll ureigenster Bestandteil einer neu zu schreibenden Universalgeschichte werden, was bisher nicht zuletzt eine zur postmodernen Mode verkommene Aversion gegen „Meistererzählungen“ verhinderte.

Vor allem mit diesem Gedanken beschäftigt sich der zweite Essay des Buches mit dem schlichten Titel „Universalgeschichte“. Was Buck-Morss durchaus mit der postmodernen Philosophie teilt, ist die Kritik am sogenannten Eurozentrismus. Allerdings möchte sie dem nicht nur ein simples Verwerfen aller europäischen Traditionsbestände begegnen, sondern in einer Art Umkehrung. Für diese Umkehrung steht das Beispiel Haitis: „Was passiert, wenn wir im Geiste der Dialektik den Spieß umdrehen und Haiti nicht länger als das Opfer Europas betrachten, sondern als Akteur, der bei der Konstruktion Europas eine Rolle gespielt hat?“ Wenn in Haiti bei der Ankunft französischer feindlicher Soldaten von den Haitianern die Nationalhymne gesungen wird, wenn ein polnisches Regiment sich weigert, gegen die Haitianer vorzugehen, dann verwirklicht sich für Susan Buck-Morss eine allgemein gültige Moral. Doch Susan Buck-Morss geht in ihrem Versuch einer neuen Universalgeschichte, in der Zentrum und Peripherie die Rollen tauschen, noch weiter. Was vor allem den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts auszeichnete, ein ausgedehntes Fabriksystem mit einer rigiden Produktionsdisziplin, war, so Buck-Morss, recht eigentlich ein Import aus den Kolonien, wo sie die europäischen Kolonialmächte freilich selbst eingerichtet hatten. Am Auslandshandel hatte der Kapitalismus wertvolle Lektionen gelernt; nicht zufällig geht das englische Wort für Fabrik (factory) auf den Faktoren, den Außenposten im Ausland zurück. „Man kann insofern durchaus so weit gehen“, so Buck-Morss, „die ersten Fabriken in Manchester als eine Ausdehnung des Kolonialsystems zu verstehen, das nun auch auf das Mutterland überzugreifen begann.“ Die Moderne, so könnte man zuspitzen, begann gerade mit jener Erscheinung, die man in Europa für gänzlich unmodern hielt, der Sklaverei.

Susan Buck-Morss möchte mit ihren beiden Essays den Grundstein für eine Geschichtsschreibung jenseits ethnischer und nationalstaatlicher Grenzen legen. Deren Zweck, so heißt es im Vorwort bescheiden, solle eine universale Partizipation möglich machen. Die immer wieder betonte Abwehr des Vorwurfs des Eurozentrismus scheint eher einem akademischen Establishment geschuldet, das diesen Vorwurf ständig und inflationär reproduziert. Tatsächlich verficht Buck-Morss aber nicht nur eine ureuropäische Idee, wenn sie für einen „neuen Humanismus“ plädiert, sondern sie verfährt völlig zurecht dort eurozentristisch, wo die Geschichte selbst einen Fokus auf Europa erzwingt. Wenn sie nach der Rolle der Freimaurerei, deren proto-aufklärerische Funktion inzwischen weithin erforscht ist, bei der Haitianischen Revolution fragt, dann vollzieht sich die Frage vor dem Hintergrund europäischer Ideen, der Frage nach freiem Wissensaustausch, Dissens, der Abkehr von religiösen Dogmen et cetera. Die Freimaurerei war der Raum, in dem nationalstaatliche Grenzen und Loyalitäten aufgeweicht und tradiertes Wissen neu zur Debatte gestellt wurde. Sie war sowohl ein Raum der Synthese als auch des Synkretismus, noch bevor Karl Marx dem Kapital zuschreiben konnte, alles „Ständische und Stehende“ in Luft aufzulösen.

Susan Buck-Morss Projekt einer neuen Universalgeschichte ist sympathisch in einer Zeit, in der die Kritik an jeglicher Form von Geschichtsphilosophie zum guten Ton gehört. Tatsächlich scheint es, als müsse es geradezu wiedererlernt werden, die Geschichte mit einem vernünftigen Sinn zu denken, so sehr die Gegenwart dem auch widerspricht. Ob Buck-Morss’ Intervention in der Hegelforschung fruchtet, ist jedoch unklar. Denn ob der Hinweis auf den historischen Hintergrund von Hegels Denken für den logischen Zusammenhang innerhalb der Phänomenologie des Geistes eine Rolle spielt, ist tatsächlich fragwürdig. Vielleicht ist das aber auch das geringste Interesse von Susan Buck-Morss. Viel wichtiger wäre die Frage, ob sich ihr Projekt der Reintegration der Peripherie den Fallstricken der Romantisierung entziehen kann. Daran lässt zumindest ihr Beitrag auf der Konferenz „The Idea of Communism“ 2009 in London Zweifel aufkommen. Dort empfahl sie dem Publikum den Messianismus Sayid Qutbs, des islamistischen Theoretikers der ägyptischen Muslim-bruderschaft. Und auch in Hegel und Haiti endet Buck-Morss mit dem Verweis auf die muslimische Minderheit in Haiti, wodurch das Buch fast schon ruckartig in die Gegenwart gebogen wird. Es wirkt wie eine schlechte Aktualisierung, wenn Buck-Morss am Schluss fragt: „Wie kann es sein, daß alterwürdige Motto euro-amerikanischer Revolutionen – „Freiheit oder Tod“ – im Denken und Handeln des Westens zu etwas werden konnte, das die vorgeblich ehrlose Tradition des islamischen Dschihad auf keinen Fall für sich reklamieren darf?“

Fast vermeint man, ein Zurückschrecken vor der Frage zu spüren. Die Antwort fällt demnach auch bescheiden aus. Wolle man Gewalt im Namen einer universellen Menschlichkeit rechtfertigen, so sei es „höchste Zeit, die Instrumente, die wir zur Vermessung der Geschichte benutzen, radikal neu zu justieren.“ Ob dies gelingt, bleibt abzuwarten.

Titelbild

Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Laurent Faasch-Ibrahim.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
217 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126233

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