Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland
Ein Rückblick aus dem Jahr 1996
Von Thomas Anz
1. Der westdeutsche Umgang mit der DDR
2. Eine alte Debatte: Exilliteratur kontra Innere Emigration
3. Die Vergleichbarkeit zwischen dem NS- und dem DDR-Regime
4. Ein Generationenkonflikt?
5. Die Intellektuellen und die deutsche Einheit
6. Ästhetik und Moral
7. Vergangenheitsbewältigung: Literatur und Staatssicherheit
8. Deutsche Kultur kontra westliche Zivilisation
Am 5. Juni 1990, mitten im Prozeß der deutschen Einigung, erschien Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“. Einige Tage vorher schon nahmen Ulrich Greiner, Feuilleton-Chef der Zeit, und Frank Schirrmacher, Leiter des Literaturteils der FAZ, den Text zum Anlaß für ungemein scharfe Angriffe auf die Autorin. Die beiden Artikel provozierten einen Literaturstreit, der so viel öffentliches Aufsehen erregte wie kein anderer in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Seine Resonanz reichte rasch über die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus.
Der im Sommer 1979 geschriebene und im November 1989 überarbeitete Text erzählt über einen Tag im Leben einer Christa Wolf zum Verwechseln ähnlichen Schriftstellerin, die von Staatssicherheitsbeamten observiert wird. In einer Situation, in der die Macht des alten SED-Staates zerbrochen, die Wende zur westlichen Demokratie schon fast vollzogen war und es, wie nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, für jeden nur vorteilhaft sein konnte, als Gegner oder Opfer des totalitären Systems zu gelten, in dieser Situation lag es nahe, die Erzählung als verspäteten Versuch einer Autorin zu lesen, sich den plötzlich veränderten Umständen anzupassen und die eigene Vergangenheit ins rechte Licht zu rücken. Genau dies warfen die Kritiker Christa Wolf vor: Sie, die sich über Jahrzehnte hinweg wider besseres Wissen, aber aufgrund eines autoritätsfixierten Charakters mit einem totalitären Staat irgendwie arrangiert habe, die erst im Sommer 1989, als die SED schon am Ende war, aus der Partei ausgetreten war, lege jetzt, ohne jedes Risiko, der Öffentlichhkeit eine staatskritische Geschichte vor, deren Publikation in der DDR vor Jahren noch eine Provokation gewesen wäre. Auf der anderen Seite lag es nahe, die Disqualifizierung der weltberühmten Schriftstellerin, die als Beweis für das literarische Leistungsvermögen der DDR-Kultur galt, als Versuch zu lesen, die westdeutsche Überlegenheit und die ostdeutsche Minderwertigkeit auch auf dem Gebiet der Literatur zur Schau zu stellen. Christa Wolfs Erzählung Was bleibt gab nur den Anlaß für einen Streit, in dem es von Beginn an um weit mehr als um einen Text oder um eine Autorin ging. „Es geht um Christa Wolf, genauer: es geht nicht um Christa Wolf“, schrieb Wolf Biermann in seinem Beitrag zur Debatte und entsprach damit dem, was viele andere im Verlauf der Auseinandersetzungen auch sagten, nur weniger paradox. Der Streit hätte kaum solche Dimensionen angenommen, wenn es in ihm nicht bald um vieles zugleich gegangen wäre. Um was es da ging, möchte ich im folgenden in sechs Punkten skizzieren. Sie haben heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt und werden in den Debatten über die jüngere deutsche Vergangenheit weiter eine wichtige Rolle spielen.
1. Der westdeutsche Umgang mit der DDR
Die Kritiker Christa Wolfs warfen ihren zumeist linksintellektuellen Verteidigern, die vormals hartnäckig gegen die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit angeschrieben hatten, vor, nun die Auseinandersetzung mit der totalitären DDR-Vergangenheit zu blockieren. Andererseits warfen die Verteidiger Christa Wolfs ihren Kritikern vor, sie träten in der Pose selbstgerechter Sieger auf und seien mit moralischen Aburteilungen all jener, die in der DDR geblieben waren, allzu rasch bei der Hand.
2. Eine alte Debatte: Exilliteratur kontra Innere Emigration
Es ging in dem Streit also auch um die Frage: Hätten die oppositionellen Schriftsteller in der DDR ihr Land verlassen sollen, wie es viele Dissidenten getan hatten, oder war es gerechtfertigt, wie Christa Wolf in der DDR zu bleiben?
In einigen Aspekten knüpfte der Streit dabei an Debatten an, wie sie in und nach der Zeit des Nationalsozialismus um die Exilliteratur und um jene Schriftsteller geführt wurden, die in Deutschland geblieben waren. Die Schärfe, mit der Christa Wolf stellvertretend für viele andere in der DDR gebliebenen Schriftsteller-Kollegen jetzt im Westen attackiert wurden, erinnerte an das harte Urteil, das der amerikanische Staatsbürger Thomas Mann im September 1945 über jene Bücher fällte, die während der NS-Diktatur in Deutschland erschienen waren: „Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.“
Der Streit um Christa Wolf konfrontierte die Dissidenten, die in den Westen gegangen waren, mit denen, die geblieben sind. „Die meisten von denen, die geblieben sind, haben uns durch ihr Verschweigen ständig von neuem ausgebürgert“, warf Reiner Kunze, der fünf Monate nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, im April 1977, die DDR hatte verlassen müssen, unter anderen Stephan Hermlin vor. Anders als westdeutsche Literaturkritiker richteten allerdings Kunze und andere Dissidenten ihre Kritik an den in der DDR gebliebenen Schriftsteller wenn überhaupt, dann nur zurückhaltend und moderat an die Adresse Christa Wolfs. Lew Kopelew und Walter Janka verteidigten die Autorin sogar nachdrücklich. Kopelew, der 1945 in der Sowjetunion zu zehn Jahren Straflager verurteilt, 1956 rehabilitiert, 1968 aus Partei und Schriftstellerverband ausgeschlossen und 1981 ausgebürgert wurde, schrieb einen offenen Brief, den die taz am 14. Juni veröffentlichte. Er nannte hier die Angriffe auf Christa Wolf eine „gezielte Verleumdung“. Sie gehe mit dem Versuch einher, „alle Autoren der DDR, die nicht eingesperrt, nicht geflohen und nicht ausgebürgert waren, als provilegierte Stützen des Systems (zu) denunzieren.“ Diese Beschuldigungen seien in den meisten Fällen falsch, im „Fall Christa Wolf“ sogar „Auswüchse böswilliger Phantasie“. Die Form eines offenen Briefes wählte später auch Walter Janka, der 1957 in einem Schauprozeß zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, 1960 vorzeitig entlassen, doch erst kurz vor dem Sturz Honeckers rehabilitiert wurde. In dem Brief vom 24. August fragte er: „warum verschweigen alle ihre ‚Kritiker‘, daß Frau Wolf schon scharfe Kritik an dem mißbrauchten SED-Staat übte, als noch Herr Kohl dem Herrn Honecker einen aufwendigen Staatsempfang bereitet hat – und die SPD-Führung mit den miserabelsten SED-Politbüro-Mitgliedern über Verständigung und Zusammenarbeit in schöner Harmonie konferierte?“
Ansichten, Argumente und Stichworte, die uns aus den Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus vertraut sind, prägten den deutschen Literaturstreit in vieler Hinsicht. Von „Vergangenheitsbewältigung“ oder der „Unfähigkeit zu trauern“ ist da die Rede, von offenem Widerstand und „innerer Emigration“, von „Schuld“ und „Verdrängung“. Der dadurch nahegelegte Vergleich zwischen NS- und DDR-Regime wurde zu einem weiteren Debattenthema.
3. Die Vergleichbarkeit zwischen dem NS- und dem DDR-Regime
Immerhin darüber waren sich die Streitenden, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, einigermaßen einig: daß das stalinistische und poststalinistische DDR-Regime mit dem NS-Regime zwar verglichen, aber nicht gleichgesetzt werden kann. Vor dem Hintergrund auch des „Historikerstreits“ um die Einzigartigkeit oder historische Relativierbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen insistierten vor allem die linksintellektuellen Debattenteilnehmer auf den Differenzen zwischen NS- und DDR-Regime. Das Volk der DDR habe „weder Synagogen angezündet, noch den totalen Krieg gewollt“, hielt der Literaturwissenschaftler Hans Mayer solchen Vergleichen entgegen. Und der Kritiker Hans Krieger wies mit Nachdruck darauf hin, „was den bürokratischen Totalitarismus des DDR-Sozialismus vom wahnhaft mörderischen der Nazis bei allen Vergleichbarkeiten eben doch fundamental“ unterscheide: „Die DDR hat eben keinen Weltkrieg mit 50 Millionen Toten vom Zaun gebrochen und nicht Millionen Juden vergast. Vor allem aber: Der Herrschaftsanspruch der Kommunisten entsprang nicht dem puren Machtrausch wie der der Nazis, sondern dem Versuch, ehrenwerte Ideale von sozialer Gerechtigkeit durchzusetzen. Und auch wenn diese Ideale bis zur Absurdität pervertiert werden mußten, weil Zwang und Gewalt sie im Ansatz diskreditierten, so haftet dem Scheitern dieses schrecklichen Experimentes doch eine gewisse Tragik an, die auch vielen Repräsentanten des DDR-Staates und der DDR-Kultur nicht abzusprechen ist: Das Wahnhafte dieses Machtgebildes war kein bloßer Paroxysmus von Dummheit und Brutalität wie der Terrorstaat der Nazis, sondern gewissermaßen ein Fieberanfall der Vernunft, verstehbar aus der Dialektik der Aufklärung. Sobald die Vernunft aufhört, ein kritisches Instrument der Wahrheitssuche zu sein, die Wahrheit gefunden zu haben meint und sie planerisch durchsetzen will, dient sie nicht mehr der Freiheit, sondern schafft Sklaverei.“
4. Ein Generationenkonflikt?
Im Streit um Christa Wolf ging es auch um die Frage, ob in ihm ein Generationenkonflikt ausgetragen werde. Unter den westdeutschen Literaturkritikern war es der seinerzeit 31 Jahre alte Frank Schirrmacher, der in der FAZ dem deutschen Literaturstreit in der Bundesrepublik die historische Bedeutung eines längst überfälligen Generationenwechsels zuschrieb. Demnach steht um und nach 1990 dem linksintellektuellen Establishment, das durch Autoren wie Günter Grass, Walter Jens oder Peter Härtling, Christa Wolf oder Stefan Heym repräsentiert ist, eine Generation junger Autoren und Kritiker gegenüber, die sich dem Konformitätsdruck und dem Einflußbereich der alt gewordenen und „zu Monumenten ihrer selbst erstarrten“ Schriftstellerautoritäten entzieht. Die Jugendrevolte von 1968 hat sich in dieser Perspektive um 1990 mit umgekehrten Vorzeichen wiederholt: Der 68er Generation und ihren Vorbereitern wird dabei die Position des Establishments zugeschrieben, gegen die eine neue, junge Generation rebelliert.
Daß in Schirrmachers literaturpolitischen Positionen jedoch überdeutlich die des mehr als eine Generation älteren Mitherausgebers der FAZ Joachim Fest wiederzuerkennen sind, veranlaßte Jürgen Habermas zu der polemischen Anmerkung: „Jener Fall von Generationenarithmetik, wonach der Großvater und sein Enkel eine Koalition eingehen, weil sich beide Seiten im Affekt gegen die aus der Art geschlagene Zwischengeneration finden, mag ja vorkommen – aber eher im Feuilleton als in der Wirklichkeit.“
Alle Versuche, in dem Streit feste Frontenbildungen auszumachen, sei es zwischen Dissidenten und in der DDR Gebliebenen, zwischen alter und junger Generation, zwischen west-und ostdeutschen Schriftstellern, zwischen Rechts- und Linksintellektuellen oder auch zwischen männlichen und weiblichen Kritikern, sind zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, stoßen jedoch bei genauerer Betrachtung auf erhebliche Schwierigkeiten. Der deutsche Literaturstreit hat Anteil an kultureller Umorientierungsprozessen, die in ihrer Unübersichtlichkeit und Offenheit von irritierenden Widersprüchen begleitet sind.
Zwei Problembereiche möchte ich dabei besonders hervorheben, weil sie mir an dem Streit literaturgeschichtlich besonders bedeutsam erscheinen: Sie betreffen zum einen die Rolle des literarischen Intellektuellen und zum anderen die Beziehung zwischen Ästhetik und Moral.
5. Die Intellektuellen und die deutsche Einheit
Der Streit um Christa Wolf war ein Intellektuellenstreit in zweifachem Sinne: ein Streit unter Intellektuellen und ein Streit um den Typus des Linksintellektuellen und seine Beziehung zu totalitären Systemen. Christa Wolf wurde im Prozeß der Vereinigung beider deutscher Staaten stellvertretend für jene Linksintellektuellen angegriffen oder verteidigt, die nach dem Bankrott des staatsbürokratischen Sozialismus eine Zeitlang immer noch an die Möglichkeit glaubten, in einer grundlegend veränderten, doch gegenüber der Bundesrepublik eigenständigen DDR die Idee eines freiheitlichen, demokratischen Sozialismus zu realisieren. In dem Streit konnte man die Stimmen einer neu erstarkten rechtsintellektuellen Fraktion von denen einer selbstkritischen Linken oft nicht leicht unterscheiden. So attackierte beispielsweise Frank Schirrmacher in der FAZ Christa Wolf und mit ihr zusammen die literarischen Linksintellektuellen der Bundesrepublik mit schon klassischen Begriffen, Argumenten und rhetorischen Strategien linskintellektueller Kritik. Bereits der Untertitel seiner Polemik, „eine Studie über den autoritären Charakter“, suggerierte die Nähe zu der berühmten Untersuchung aus dem Umkreis der Kritischen Theorie. Indem er die Linksintellektuellen an ihren eigenen autoritäts- und machtkritischen Ansprüchen maß, versuchte er, sie gleichsam mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Mit einiger Genugtuung berief er sich denn auch mehrfach auf Artikel der „linken“ tageszeitung , die Christa Wolf mit ähnlicher Schärfe kritisiert hatten.
Im April 1990, schon vor dem Erscheinen von Greiners und Schirrmachers Artikeln, war dort ein Artikel zu lesen, der den späteren Streit maßgeblich vorbereiteten. Der damalige taz-Redakteur Arno Widmann veröffentlichte hier eine bitterböse Kritik an dem Aufruf „Für unser Land“, den Christa Wolf und Stefan Heym im November 1989 initiiert hatten. Der Aufruf warnte davor, daß „die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird“, und forderte, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.“ Arno Widmann bescheinigte den Verfassern eine „kriminelle Überheblichkeit“, die „Erfahrungen von siebzig Jahren ‚Sozialismus‘ einfach wegzuwischen“ versuche. Der Artikel mündet in einen Appell an die Linke, ihre Glaubwürdigkeit durch eine konsequent antistalinistische und antitotalitäre Position zu bewahren.
Trotz der Übereinstimmungen haben die Angriffe auf Christa Wolf in der FAZ und die in der taz ganz unterschiedliche Bedeutungen. Die der FAZ verfolgten zusammen mit zahlreichen anderen Feuilleton-Artikeln dieser Zeitung vor allem ein Ziel: Mit dem Zusammenbruch der sich sozialistisch oder kommunistisch nennenden Parteidiktaturen in Europa sollte endlich auch die linksintellektuelle Kritik an der Bundesrepublik in sich zusammenbrechen.
Ivan Nagel erinnerte in der Süddeutschen Zeitung an die fatale Geschichte des Schimpfworts „Intellektuelle“ sowohl in kommunistischen als auch in nationalsozialistischen Parteidiktaturen und warnte vor einer neuen „Intellektuellenjagd“ in westdeutschen Feuilletons. „Hinweg mit diesem Wort, dem bösen,/ Mit seinem jüdisch grellen Schein!/ Wie kann ein Mann von deutschem Wesen/ Ein Intellektueller sein.“ Solche Verse kursierten in den letzten Jahren der Weimarer Republik und nahmen den Umgang mit dem „Intellektuellen“-Begriff im NS-Staat vorweg.
Viel Beiträge zum Literaturstreit zeigten sich, wie nicht nur Ivan Nagel kritisierte, in ihrer Intellektuellen-Schelte erstaunlich unbekümmert um solche historischen Zusamenhänge. Vor allem in der Welt und in der FAZ finden sich zahlreiche Bestätigungen für Ivan Nagels Beobachtung: „Die Autoren der DDR wurden hochgelobt, solang sie die Regierung der DDR störten. Sie werden heruntergemacht, seitdem sie das Deutschlandglück stören.“ „Heruntergemacht“ wurden ebenfalls „die Intellektuellen“ in der Bundesrepublik, die dieses Glück störten. Seit den späten siebziger Jahren, als „die Intellektuellen“ als Wegbereiter und Sympathisanten des RAF-Terrors verdächtigt wurden, artikulierte sich die Intellektuellenfeindschaft in der FAZ nie wieder so vehement wie im Zusammenhang mit den Debatten um Christa Wolf, um die deutsche Einheit und dann auch um den Golfkrieg. Man begreift den Stellenwert, den der Streit um Christa Wolf für die FAZ hatte, kaum angemessen, wenn man die Beiträge dazu nicht als Teil einer ganzen Serie von Artikeln liest, in denen mit „den Intellektuellen“, den „Linksintellektuellen“, der „deutschen Linken“, der „68er Generation“ und mit der „Gruppe 47“ abgerechnet wird. Die Ideen von 1968, so legen es seither alt- und neukonservative Intellektuelle nahe, sind durch die Jahre 1989 und 1990 endgültig widerlegt worden. Eine von ihnen, die Historikerin und Publizistin Brigitte Seebacher-Brandt, verkündete am 12. Dezember 1990 in der FAZ ganz unverblümt „die Abwahl einer Generation“, der 68er Generation. „Ihr Erbe wird nicht weitertragen. Es ist versunken und der Blick nun frei – auf jene Generation, die 1989 und 1990 geprägt worden ist.“
1968 wie 1990 stand die Bundesrepublik im Zeichen zum Teil euphorischer Aufbruchs- und Abbruchsbewegungen, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: 1968 der Aufbruch einer Neuen Linken, die gegen die autoritären Strukturen und restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit aufbegehrte; 1990 der Aufbruch einer Neuen Rechten, die sich mit einigem Erfolg anschickt, der Linken ihre etablierte Meinungsführerschaft streitig zu machen. Das dichotomische Denken in Rechts-Links-Gegensätzen sei längst hinfällig geworden, hört man heute oft gerade diejenigen sagen, die sich gleichzeitig nicht scheuen, in penetranter Wiederholung der „Linken“ den Prozeß zu machen. Die Frage „What’s left?“ greifen sie gerne auf, doch was heute im intellektuellen Kräftefeld „rechts“ heißt, nur zögernd, sie wollen selbst jedenfalls so nicht genannt werden. Es war das Verdienst von Botho Strauß, die Gegensätze offen benannt zu haben. Im Februar 1993 erläuterte er den „Spiegel“-Lesern, in welchem Sinne es heute angebracht sei, „rechts zu sein“, und zwar „von ganzem Wesen“. Botho Strauß ist heute nur ein Beispiel für den Positionswechsel, den viele, die um 1968 intellektuell mit Adorno, Bloch oder Benjamin groß geworden sind, inzwischen vollzogen haben.
Sogar der nicht nur in Deutschland seit 1989/90 eskalierende Rechtsradikalismus, der allerdings in diesem Land in besonderem Maße von der Vergangenheit belastet ist, der sich in Schändungen jüdischer Gräber sowie Brand- und Mordanschlägen gegen Ausländer am häßlichsten und brutalsten artikuliert und der optisch am markantesten in einem Teil der jugendlichen Skinhead-Szene auftritt, wurde von der intellektuellen Rechten in den letzten Jahren wiederholt zur Diskreditierung der 68er Generation instrumentalisiert. Der Schriftsteller Bodo Morshäuser hat die dafür typischen Argumentationen in Berichten und Reflexionen über die rechtsradikale Skinhead-Szene zum Teil aufgegriffen, indem er sich den Versuchen anschloß, das durch die 68er Generation geprägte Erziehungsmilieu für den Rechtsradikalismus verantwortlich zu machen. Die schon 1974 in alt- und neukonservativen Reaktionen auf die Studentenrevolte artikulierten Wünsche nach einem neuen „Mut zur Erziehung“ fanden ihre späte Resonanz in Abrechnungen mit über zwanzig Jahren „linker Pädagogik“, wie sie u.a. der von Morshäuser ausführlich zitierte Pädagoge und Schriftsteller Jochen Köhler nach 1989 an die Öffentlichkeit trug. Die Fragwürdigkeit der Versuche, die 68er Generation für den Rechtsextremismus nach 1989 verantwortlich zu machen, zeigt sich selten so deutlich wie hier. Die Rechtsextremisten aus der ehemaligen DDR sind von Pädagogen erzogen worden, die vom liberalen oder libertären Erziehungsstil der westdeutschen 68er Bewegung weit entfernt waren. Und die rechtsextremistische Skinhead-Szene rekrutiert sich in den neuen und in den alten Bundesländern aus einer sozialen Schicht, in der die Eltern alles andere als eine antiautoritäre Erziehung praktizierten.
Die Versuche, den Rechtsextremismus gegen die Linke zu instrumentalisieren, sind Bestandteil eines rechtsintellektuellen Diskurses, der seit 1989/90 ein verstärktes publizistisches Gewicht bekommen hat. 1968 und 1989/90 sind für Vergleiche nicht nur zwischen Links- und Rechtsextremismus , sondern auch zwischen Links- und Rechtsintellektalismus geeignete historische Markierungspunkte. Dabei sind Rechts- und Linksintellektualismus keineswegs mit Rechts- und Linksextremismus gleichzusetzen. So wie früher zwischen den meisten Linksintellektuellen und dem Terror der RAF liegen heute zwischen den meisten Rechtsintellektuellen und den Neonazis Welten. Botho Strauß z.B. als einen Rechtsintellektuellen zu bezeichnen, entspricht durchaus seinem Selbstverständnis; mit den Neonazis hat er jedoch so wenig gemein wie etwa Günter Grass mit der RAF. Die Kämpfe zwischen Linksradikalen und Neonazis auf den Straßen haben jedoch in den Kämpfen zwischen Rechts- und Linksintellektuellen in den Massenmedien durchaus ihre Entsprechung. In diesen Kämpfen spielen die symbolischen Jahre 1968 und 1989/90 eine zentrale Rolle.
6. Ästhetik und Moral
Im Oktober 1990 mündete der Streit um Christa Wolf in eine grundsätzliche Debatte zur Ästhetik ein und nahm damit eine irritierende Wende. Denn Frank Schirrmacher und Ulrich Greiner, die bislang Christa Wolf und die literarische Intelligenz vornehmlich mit politischen und moralischen Kategorien angegriffen hatten, die deshalb in dem Streit ständig dem Vorwurf des „Moralisierens“ ausgesetzt waren, sie warfen nun, angeregt von zwei Artikeln Karl Heinz Bohrers in dessen Zeitschrift „Merkur“, der linksintellektuell geprägten Literatur und Literaturkritik vor, sich seit Jahrzehnten mit moralischen und politischen Ansprüchen an der Literatur versündigt zu haben.
Ein neues Wort machte Karriere: „Gesinnungsästhetik“. Sie läßt, so erläuterte Greiner 15 den von ihm (in Analogie zu Max Webers „Gesinnungsethik“) eingeführten Begriff, „der Kunst nicht ihr Eigenes, sondern sie verpflichtet sie (wahlweise) auf die bürgerliche Moral, auf den Klassenstandpunkt, auf humanitäre Ziele oder neuerdings auf die ökologische Apokalypse.“ Und sie war, auch unter dem „Begriff der engagierten Literatur“, das „herrschende Merkmal des deutschen Literaturbetriebes“ in der DDR wie in der Bundesrepublik. Greiner folgte damit einem langen Artikel, in dem Frank Schirrmacher zur Frankfurter Buchmesse und zum Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, das Ende der Literatur der Bundesrepublik verkündete. Der Artikel hatte mit dem Streit um Christa Wolf scheinbar nichts zu tun, ihr Name kam hier nicht vor. Nicht zufällig indes greift er vor allem jene Autoren an, die im Streit um Christa Wolf zu Schirrmachers größten Gegnern wurden: Günter Grass und Walter Jens. Sie nennt und zitiert er als linksintellektuelle Repräsentanten einer seit den sechziger Jahren bis 1990 in der Bundesrepublik tonangebenden und sie moralisch legitimierenden, doch inzwischen längst überalterten Literatur, deren Absterben unmittelbar bevorstehe.
So weit hatte sich im Oktober 1990 der deutsche Literaturstreit von seinem Anlaß entfernt: Nicht mehr Christa Wolf stand zur Debatte, sondern die gesamte deutsche Literatur der Nachkriegszeit, und das unter so weitläufigen Fragen wie denen nach dem Verhältnis zwischen Ästhetik und Moral, Literatur und gesellschaftlichem Engagement.
1966, zu Beginn des „Zürcher Literturstreits“, hatte Emil Staiger unter Berufung auf Schiller „die aller Dienstbarkeiten enthobene Souveränität des Schönen“ beschworen und der engagierten Literatur, namentlich Peter Weiss, vorgehalten, sie gebe ihre „Freiheit“ auf zugunsten von „vorgegebenen humanitären, sozialen, politischen Ideen“. Dies entsprach genau der „neuen“ Kritik Greiners an der die deutsche Nachkriegsliteratur beherrschenden „Gesinnungsästhetik“. Schirrmachers Abschied von der Literatur der Bundesrepublik wiederum erinnert an jene effektvolle und jugendbewegte Rhetorik von 1968, mit der Leslie Fiedler, Hans Magnus Enzensberger oder Walter Boehlich die von ihnen nicht mehr gewünschten Formen von Literatur und Literaturkritik kurzerhand totsagten. Seinen Beitrag zur Frankfurter Buchmesse und zum offiziellen Tag der neuen deutschen Einhheit begann so: „Die Literatur der Bundesrepublik wurde dreiundvierzig Jahre alt. Wie jener in der DDR steht auch ihr das Ende bevor. Nicht heute vielleicht, aber morgen.“ Jene Literatur, die in Christa Wolf ihre herausragende Repräsentantin besitzt, hat zusammen mit der gealterten Literatur der Bundesrepublik, die so etwas wie ihr moralisches Gewissen bildete, zu verschwinden.
Die Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur von der Studentenrevolte im Jahr 1968 bis zur deutschen Einheit im Jahr 1990 scheint also von zwei einander ähnlichen, doch auch grundlegend verschiedenen Versuchen markiert, eine einschneidende Zäsur zu setzen. Der erste Versuch radikalisierte die Forderungen nach gesellschaftlicher Wirksamkeit von Literatur bishin zur Absage an die Kunst überhaupt. Der Versuch scheiterte und schlug im Laufe von gut zwanzig Jahren in sein Gegenteil um: in den ebenso einschneidenden Versuch, die Literatur als ästhetisch autonome Kunst von allen sozialen Ansprüchen zu befreien.
Der Versuch, die Kritik an den Intellektuellen und an der engagierten Literatur der Nachkriegszeit im Namen der Befreiung der Ästhetik von der Moral zu rechtfertigen, unterstützt wohl nicht zufällig die in den letzten Jahren verstärkten Bemühungen, Deutschland endlich von den moralischen Lasten der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befreien. „Mit der Moral einer von Auschwitz erschütterten Kunst soll es ein Ende haben“, kommentierte ein Artikel der Süddeutschen Zeitung diesen Versuch. Das Postulat einer entmoralisierten Kunst gleicht dem einer entmoralisierten Geschichtsschreibung, über die noch vor wenigen Jahren die Historiker gestritten hatten. Der Literaturstreit ist auch in dieser Hinsicht eine verdeckte Fortführung des Historikerstreits.
7. Vergangenheitsbewältigung: Literatur und Staatssicherheit
Von Christa Wolf und ihrer Erzählung hat sich der deutsche Literaturstreit schnell entfernt. In mancher Hinsicht waren sie und ihre Erzählung von Anfang an, im Vergleich etwa zu Hermann Kant oder Stefan Hermlin, ein wenig geeignetes Objekt von Angriffen, die an ihrem Beispiel die Schuld und das Versagen der deutschen Intellektuellen gegenüber dem „zweiten totalitären Sündenfall“ in der jüngeren deutschen Geschichte erweisen wollten. „Ihr Versuch, sich zu salvieren“, sei symptomatisch für das Bemühen vieler DDR-Intellektueller, sich um die Aufarbeitung ihrer Rolle im SED-Staat zu drücken“, schrieb einer ihrer Kritiker. Christa Wolf war indes, vor allem auch in Was bleibt , mit nichts mehr als mit dieser „Aufarbeitung“ befaßt. Was sie daran hinderte, in ihrer literarischen und politischen Opposition, ihrer „leisen Dissidenz“ gegenüber dem SED-Regime noch weiter zu gehen, weniger Kompromisse zu schließen und die Grenzen des für diesen Machtapparat noch Zumutbaren zu überschreiten, hat kaum einer genauer gesehen, beschrieben, analysiert und kritisiert als sie selbst. Die Kritiker Christa Wolfs konnten es sich leicht machen, sie brauchten nur abzuschreiben, was die Autorin an kritischen Einsichten über sich selbst mitgeteilt hat. Wohl kein Autor aus der DDR hat während der Ereignisse des Jahres 1989 und 1990, aber auch schon vorher soviel Trauerarbeit über den Verlust ehemaliger Hoffnungen geleistet und so stark auf kritische Selbstbefragung gedrungen wie sie.
Seit dem 19. Oktober 1991, als Wolf Biermann in seiner Büchner-Preisrede den Lyriker Sascha Anderson aus der anarchischen Avantgardeszene des Prenzlauer Berges öffentlich der Stasi-Mitarbeit beschuldigte, wurde der Streit, der sich an einer Erzählung über die psychischen Auswirkungen der Stasi-Bespitzelung entzündet hatte, in den Medien ersetzt durch immer neue Enthüllungen und Debatten zur Beziehung zwischen DDR-Autoren und dem Staatssicherheitsdienst. Eine Fortführung der Christa Wolf-Debatte war dies insofern, als es weiterhin um das große Thema ‚Geist und Macht‘ ging. Wieder wurde dabei ein Stück DDR-Kultur entwertet, das, wenn auch diesmal bei einem exklusiveren Publikum, vormals im Westen ebenfalls hohes Ansehen genoß. Und wiederum wurde auf dem Gebiet der Literatur stellvertretend über Probleme gehandelt, die ähnlich auch die Repräsentanten der Kirche, Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft betrafen oder zumindest hätten betreffen können. Dennoch unterschieden sich die Debatten über die Fälle Sascha Anderson oder Rainer Schedlinski von der über Christa Wolf erheblich. Die kritischen Fragen bekamen jetzt zum eine geradezu kriminalistische Konkretheit: Hatte dieser oder jener Schriftsteller mit der Stasi kollaboriert, Freunde bespitzelt, Berichte über sie geliefert und jemandem damit geschadet? Zum anderen bezogen sie sich auf einen Kreis von Autoren, die längst nicht die Prominenz und den Rang von Christa Wolf haben und die eine gänzlich andere Ästhetik repräsentieren. Von dem Verdikt einer „Gesinnungsästhetik“ gegen eine politisch oder moralisch engagierte Literatur jedenfalls waren die experimentellen Texte des Prenzlauer Berges, die mit ihrem avancierten poststrukturalistischen Hintergrund (Foucaults Macht- und Diskurs-, Baudrillards Simulations- oder Derridas Dekonstruktionstheorien) manchen westdeutschen Kritiker in Erstaunen versetzt hatten, nicht tangiert. Infrage stand im Wissen um die Stasi-Verwicklungen der Anarchoboheme vom Prenzlauer Berg eher der subversive, machtkritische Anspruch avantgardistischer Techniken und Traditionen.
Auf dem Höhepunkt der erregten Stasi-Debatten geriet indes, nach Heiner Müller, erneut Christa Wolf ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik. Am 21. Januar 1993 informierte sie selbst in der Berliner Zeitung unter dem Titel Eine Auskunft die Öffentlichkeit über die Beziehungen zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit und ihr: „Die Vorgänge um Heiner Müller sind der letzte Anstoß für mich, diesen Artikel zu schreiben, über den ich seit einigen Monaten nachdenke: seit dem Mai vorigen Jahres, als mein Mann und ich unsere Stasi-Akten einsehen konnten. Wir sahen uns mit 42 Bänden konfrontiert, allein für die Zeit zwischen 1968 und 1980 – die Akten über die letzten zehn Jahre scheinen vernichtet zu sein.“ Bei der Akteneinsicht erfuhren Christa und Gerhard Wolf, „daß wir seit 1968 als als ‚Operativer Vorgang‘ ‚Doppelzüngler‘ minutiös observiert wurden, daß wir von einem Netz von ‚IM‘ [Informellen Mitarbeitern] umgeben waren, […] daß natürlich unser Telefon, zeitweilig auch die Wohnung abgehört, die Post ausnahmslos geöffnet und zum Teil abgelichtet wurde“ und „daß man jedes einzelne meiner Bücher von anscheinend germanistisch gebildeten IM ‚begutachten‘ ließ, die in grotesken ‚Analysen‘ eine ständig wachsende Staatsfeindlichkeit konstatierten.“ Diese Akten bestätigten und konkretisierten, was Christa Wolf schon vorher wußte und worüber sie in Was bleibt bereits erzählt hatte.
Aus den Akten ging jedoch ebenfalls hervor, daß Christa Wolf 1959 von der Stasi als Inoffizielle Mitarbeiterin gewonnen werden konnte. Die von ihr gelieferten Informationen waren allerdings so unergiebig, daß die Behörde schon 1962 auf ihre „Mitarbeit“ verzichtete. Über den Vorgang existieren zwei Aktenmappen mit 130 Blättern. Ihnen stehen 43 Aktenordner gegenüber, in denen die Stasi seit 1968 Spitzelberichte über sie und ihren Mann angesammelt hat. Die Artikel mancher deutscher Zeitungen haben diese Proportionen umgekehrt. Über Christa Wolfs mehr als dreißig Jahre zurückliegende Tätigkeit für die Stasi berichteten sie mit großer Ausführlichkeit, über ihre Rolle als langjähriges Opfer staatlicher Überwachung verloren sie wenige Worte. Christa Wolfs Verhalten damals ist nicht zu beschönigen, und auch ihre Reaktionen auf den Streit um sie und auf die „Enthüllungen“ ihrer Arbeit für die Stasi mögen in mancher Hinsicht fragwürdig gewesen sein, festzuhalten bleibt jedoch: Ihre literarischen Werke hat sie nach der Kooperation mit der Stasi geschrieben, die meisten in einer Zeit, in der der DDR-Staat die Autorin streng observierte und offensichtlich als Gefährdung seiner Sicherheit einschätzte. Dem zuvor geführten Streit um Christa Wolf haben jedenfalls die 1993 hinzugekommenen Ereignisse, Informationen und Debatten keine wesentlich neuen Gesichtspunkte hinzugefügt.
8. Deutsche Kultur kontra westliche Zivilisation
Zumindest um einen Aspekt wurde der Streit jedoch, wenn auch eher beiläufig, seit 1993 bereichert, und zwar im Rahmen eines Problemkomplexes, bei dem es auch, aber nicht vorrgangig um Christa Wolf geht. In den USA hatte bereits im Dezember 1990 ein lesenswerter Beitrag zu dem Streit auf die antiwestliche Zivilisationskritik aufmerksam gemacht, die rechten und linken Intellektuellen in Deutschland gemeinsam sei. In der Zeit erschien am 4. Juni 1993 ein Artikel des Berliner Literaturwissenschaftlers Richard Herzinger, der vor allem in Texten Heiner Müllers, aber ähnlich auch in einigen von Christa Wolf oder Volker Braun eine antiwestliche Rationalitäts- und Zivilisationskritik nachzuweisen versucht, die sich kulturkonservativer Topoi einer genuin deutschen Tradition bediene und darin „in unmittelbare Nähe zu der gegenwärtig erstarkenden neuen Rechten“ rücke. Iris Radisch zeigte in der gleichen Zeit-Ausgabe gleichsam als Ergänzung dazu, wie die alte Dichotomie von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation jüngeren Autoren zur Verklärung der ehemaligen, von westdeutschen Einflüssen noch relativ unbeschädigten Ost-Kultur diene. Diese Artikel initiierten Ansätze zu einer Debatte, die sich fortzuführen lohnte, gerade auch mit Blick auf das Werk von Christa Wolf. Mit besseren Argumenten, als sie Thomas Assheuer in der Frankfurter Rundschau gegen die beiden Artikel vorbrachte, müßten dabei die bei aller Ähnlichkeit doch sehr unterschiedlichen Versionen einer Vernunft- und Zivilisationskritik aufgezeigt werden, die nicht nur für Autoren aus der ehemaligen DDR, sondern für die gesamte Gegenwartsliteratur und schon für die literarische Moderne seit Beginn dieses Jahrhunderts konstitutiv ist. Der Streit um Christa Wolf könnte dann zu den Dimensionen erweitert werden, die dem Werk dieser Autorin angemessen sind, zu einem Streit um die literarische und zivilisatorische Moderne.
Der Aufsatz erschien zuerst in: German Monitor. Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. Ed. by Peter Monteath and Reinhard Alter, No.38, 1996, S.1-17. Eine Fassung dieses Aufsatzes mit Zitatbelegen und zusätzlichen Anmerkungen ist Online-Abonnenten von literaturkritik.de hier zugänglich. Der Aufsatz greift zurück auf die ausführlich eingeleitete und kommentierte, inwischen vergriffene Dokumentation zum Streit um Christa Wolf: „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von Thomas Anz. München: edition spangenberg 1991 (mit einem aktualisierenden Nachwort erweitert: Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1995).