Mythos und Messias

Andreas Greiert erläutert in seiner Studie „Erlösung der Geschichte vom Darstellenden. Grundlagen des Geschichtsdenkens bei Walter Benjamin 1915 – 1925“ den Geschichtsbegriff des Philosophen

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Werner Fuld beginnt seine 1979 erschienene Benjamin-Biografie mit der grotesken Fehleinschätzung, die Benjamin-Renaissance sei vorbei. Das Gegenteil war und ist der Fall: Kaum ein anderer Theoretiker kann sich mit dem Appeal messen, den der 1940 verstorbene Benjamin auf die internationale Leserschaft ausübt. Während Bloch, Marcuse und Lukács nach ihrem Tod schlagartig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden, Adorno, Horkheimer und Kracauer nurmehr als historisch interessant galten, Löwenthal und andere Theoretiker im Umkreis der Kritischen Theorie nie besonders große Popularität genossen, stieg das nationale und internationale Renommee Benjamins stetig an.

Und damit verbunden auch die akademische Rezeption seiner Werke, die mittlerweile tausende von Titeln zählt. Benjamin hat von Beginn an seine Leser fasziniert, und so ist die erste Rezeptionsphase zum einen von den philologischen Bemühungen um einen möglichst vollständigen und wortgetreuen Corpus seiner Schriften und einer Reihe von nicht selten idolatrischen Studien gekennzeichnet. Darauf folgte eine in die Breite gehende Phase, die möglichst alle Aspekte von Leben und Werk bis ins Detail ausleuchten wollte, die mit dem Abschluss der Werk- und Briefausgabe zu Ende ging und im Benjamin-Handbuch ihren überzeugenden Abschluss fand. Die seither stattfindende spezialisierte Benjamin-Forschung, und dafür ist Greierts Studie ein gutes Beispiel, kann daher auf eine breit wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor zurückblicken.

Greierts Ausgangsthese begründet sein Untersuchungsziel, denn er will Benjamins Geschichtsbegriff, anders als seine Vorgänger, nicht nur anhand der späten Texte untersuchen, sondern er möchte erweisen, dass Benjamin bereits seit seiner Frühzeit zentral an der Konstruktion eines eigenständigen Geschichtsbegriffs arbeitet. Dies, so viel vorweg, ist dem Autor in vorbildlicher Weise gelungen. Erste, deutliche Hinweise auf eine frühe Geschichtskonzeption finden sich ja bereits in Scholems Erinnerungsbuch, die durch eine genaue Lektüre der Schriften und Briefe des jungen Benjamin bestätigt und ergänzt werden.

Greiert kennt die gesamte einschlägige Forschungsliteratur, und er benutzt sie auf kritisch-souveräne Weise. Seine Urteile sind fast ausnahmslos ohne messianischen Eifer gefällt und gut begründet. Überhaupt zeigt er bei allem Respekt vor seinem Untersuchungsgegenstand eine erfrischende Freiheit in der Bewertung, die sich auch, in einem unter Benjamin-Exegeten eher seltenen, klaren Darstellungsstil äußert, ohne der Komplexität Abbruch zu tun. Wohltuend sachlich führt er den Leser durch die verschlungenen Gedankengebäude in Benjamins Frühzeit, erläutert den Mythosbegriff in der Komplementärposition zum Geschichtsbegriff und legt die Wurzeln und Absichten des Messianismus-Gedankens offen.

Dabei kann er auf umfassende Wissensbestände der zeitgenössischen Kulturphilosophie zurückgreifen, die es ihm erlauben, ein dichtes und dickes Gewebe von unabdingbaren Kontextualisierungen zu entwerfen. Diese – manchmal etwas langatmig scheinenden – Hintergrundanalysen sind dennoch von großer Bedeutsamkeit und letztlich unverzichtbar, auch wenn sie den Textumfang auf über fünfhundert Seiten dehnen. Die Genauigkeit der Analyse und der unaufgeregte Ton ist dabei wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass Greiert Historiker ist, der eine geschichtswissenschaftliche und keine germanistische Arbeit schreibt. Davon zeugt vor allem der faszinierende dritte Teil der Arbeit, der sich mit Benjamins anti-historischer Hermeneutik befasst und – wie schon zuvor – seine grundlegende Ablehnung der „bürgerlichen“ akademischen Disziplinen in toto dokumentiert.

Dieser prononcierte Generalverriss der traditionellen Wissenschaftsdisziplinen ist von der Forschung zwar hier und da beschrieben worden, aber seine methodischen Konsequenzen werden erst durch Greierts Studie vollends sichtbar. Benjamin berücksichtigt nicht nur nicht die Erkenntnisse der akademischen Tradition, sondern sein Schreibimpuls nährt sich geradezu aus ihrer Verachtung, so dass viele seiner Schriften, vor allem der „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ ist hier zu nennen, geradezu von der polemischen Distanz zu den Methodologien und nicht selten auch den Gegenständen der akademischen Disziplinen leben. Greiert hütet sich hier vor weitergehenden Schlüssen, aber seine Studie beschreibt im Detail derartige Kontextualisierungen.

Der Umfang der betrachteten Werke, die Präzision der Darstellung und die bemerkenswerte detaillierte Differenziertheit der geistesgeschichtlichen Kontexte machen aus Greierts Spezialuntersuchung so eine veritable Grundlagenstudie zum Autor. Immer wieder sieht man sich – vor allem zu Beginn – dazu verführt, statt „Geschichte“ Literatur beziehungsweise Literaturwissenschaft zu lesen, so dass die Aufschlüsse der Arbeit auch die Nachbarwissenschaften von großem Interesse sind. Überhaupt ist die Fokussierung auf „Geschichte“ eine sanfte Irreführung: Hier geht es am Leitfaden der Geschichte um den ganzen Benjamin. Man wird zukünftig in der Benjamin-Forschung um Greierts große Studie nicht herumkommen. Ein Desiderat allerdings wird auch von Greiert nicht eingelöst, weil es den Zielen seiner Arbeit nicht unbedingt dienlich war: Eine Berücksichtigung der neurotisch-narzisstischen Autorpsychologie für die schwierigen Begriffsbildungsprozesse, die ohne genaueste Kenntnis der persönlichen und individuell-intellektuellen Umstände für Dritte gar nicht nachvollziehbar sind, gibt es auch bei Greiert nicht. Schon Adorno, selbst ein Neurotiker von Graden, hatte zwar Krankheitseinsicht im Falle Benjamins, scheute sich jedoch auch postum, mehr als nur Andeutungen zu machen. Die psychologisierende Entzauberung dieses wirkungsmächtigen intellektuellen Idols wird, trotz Palmiers Ansätzen, wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.

Titelbild

Andreas Greiert: Erlösung der Geschichte vom Darstellenden. Grundlagen des Geschichtsdenkens bei Walter Benjamin 1915 - 1925.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
549 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770551439

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch