Der Widerspruch zwischen Kriegswirtschaft und Rassenpolitik

Rolf Keller untersucht in seiner Studie „Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941“ den Tod von mehr als 200.000 Opfern in den Stammlagern auf deutschen Boden

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit geschätzten über 2 Mio. Toten zählten sowjetische Kriegsgefangene im Gewahrsam der Deutschen Wehrmacht nach den Juden zur größten Opfergruppe der NS-Herrschaft in Europa. Hunger, Entbehrungen und Krankheiten rafften in den ersten neun Monaten nach der Eröffnung des Krieges gegen die Sowjetunion mehr als die Hälfte der zwischen 5,3 und 5,7 Mio. sowjetischen Kriegsgefangenen hinweg. Erstaunlich ist jedoch, dass auch von den etwa eine halbe Millionen Sowjetsoldaten, die bis Ende 1941 in die 14 so genannten Russenlager im Reich gelangten, beinahe die Hälfte durch grobe Vernachlässigung oder gezielten Mord umkam. Gerade diese Gefangenen hatte das verzweifelt um Arbeitskräfte bemühte Terrorregime nach Deutschland gebracht, um französische Kriegsgefangene in der Landwirtschaft oder im Straßenbau zu ersetzen.

Von einer vorsätzlichen Vernichtungspolitik der beteiligten Behörden kann also zumindest im Hinblick auf diese Personengruppe, so Rolf Keller in seiner Studie über die sowjetischen Kriegsgefangenen im Deutschen Reich, nicht die Rede sein. Damit widerspricht der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter bei der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten ausdrücklich der bisher grundlegenden Arbeit zu diesem Thema von Christian Streit („Keine Kameraden“), der zumindest für die erste Phase des „Unternehmens Barbarossa“ bis Ende September 1941 noch eine gezielte Vernichtungspolitik der NS-Behörden unterstellt.

Anhand neuer Quellen, die vor allem den Schriftverkehr zwischen dem verantwortlichen Allgemeinen Wehrmachtsamt (AWA) und den regionalen Behörden dokumentieren, kann Keller nachweisen, dass bereits im Frühjahr 1941 die Absicht bestand, den Arbeitskräfteausfall in der deutschen Wirtschaft durch die in großer Zahl zu erwartenden sowjetischen Kriegsgefangenen auszugleichen. Insgesamt plante die Wehrmacht dazu 19 spezielle Stammlager (so genannte Russenlager) einzurichten, die eine Aufnahmekapazität von 790.000 Gefangenen haben sollten.

Noch vor Beginn des Feldzuges wurden diese Planungen auf 440.000 Plätze reduziert, ehe Hitler mit einem Erlass vom 2. August 1941 die Zahl der sowjetischen Kriegsgefangenen im Reich ausdrücklich auf 120.000 beschränkte. Da er bis dahin noch davon ausging, dass der Krieg gegen die Sowjetunion spätestens im Herbst siegreich beendet sein würde, hatten für ihn die ständigen Klagen der Wirtschaft über den dramatischen Arbeitskräftemangel nur wenig Relevanz. Nach dem Sieg über Stalin würde die Wehrmacht, so seine Kalkulation, erheblich weniger Soldaten benötigen, die dann wieder an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren könnten.

Als der erhoffte schnelle Sieg jedoch ausblieb und sich stattdessen ein Ressourcen verzehrender Abnutzungskrieg gegen das gröblich unterschätze rote Imperium abzeichnete, schien die Führungsspitze des Regimes endlich bereit, ihre rassistischen Vorbehalte vor einer Überfremdung und bolschewistischen Infizierung der deutschen Bevölkerung zumindest teilweise zurückzustellen. Doch die erhoffte Menge neuer und arbeitsfähiger Kriegsgefangener blieb aus. Obwohl die Wehrmacht ursprünglich mit fast 800.000 sowjetischen Kriegsgefangenen geplant hatte und das Reichsernährungsministerium immerhin die Versorgung der Hälfte dieser Menschen zugesagt hatte, waren das AWA offenbar schon mit den knapp 300.000 gefangenen Rotarmisten, die sich am 1. Oktober 1941 in den Stamm- und Außenlagern auf Reichsboden aufhielten, hoffnungslos überfordert.

Wegen des schlechten Gesundheitszustandes der meisten dieser Gefangenen durch mangelnde Ernährung, schlechte Hygiene und fehlende feste Unterkünfte befanden sich tatsächlich nur 112.400 Sowjetsoldaten im Einsatz. Zwar erhöhte sich bis zum 1. November (Gefangene aus dem Unternehmen „Taifun“) die Quote auf 63 Prozent, doch inzwischen waren schon zahllose Todesfälle aufgetreten, so dass sich trotz neu eintreffender Transporte aus den frontnahmen Lagern auch einen Monat später die Gesamtzahl von 350.000 Gefangenen nicht weiter erhöht hatte. So sehr sich hinter diesen nackten Zahlen auch das Grauen und Martyrium hunderttausender Menschen verbirgt, ist dieser Aspekt bei aller betonten Empathie mit den Opfern nicht Kellers Hauptthema. Ihm geht es vor allem darum, das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen im „Dritten Reich“ entlang des ständigen Widerspruches von kriegswirtschaftlichen Interessen und ideologischer Rassepolitik neu zu beschreiben. Trotz ihrer regionalgeschichtlichen Ausrichtung auf die so genannten Russenlager der Wehrkreise X (Hamburg) und XI (Hannover) erörtert seine mitunter detailverliebte Arbeit auch die übergreifende Fragestellung der Geschichte, Organisation und Struktur des Kriegsgefangenenwesens der Wehrmacht.

Als klares Fazit lässt sich festhalten, dass das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener in den Stammlagern auf Reichsgebiet nicht die Folge einer gezielten Vernichtungspolitik war. Wohl spielten rassistische Vorbehalte bei der inhumanen Behandlung der Sowjetsoldaten auf allen Verantwortungsebenen von Wehrmacht, Verwaltung und Wirtschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle. Doch von den rund 500.000 dringend in der Wirtschaft benötigten sowjetischen Kriegsgefangenen musste fast die Hälfte der Menschen sterben, weil Wehrmacht sowie private und öffentliche Arbeitgeber (in den Außenlagern) einfach nicht in der Lage waren, für ausreichende Verpflegung und Unterbringung zu sorgen. Zwar gab es zahlreiche, oft verspätete Bemühungen, die ausgemergelten Gefangenen in den Stammlagern wieder „aufzupäppeln“, doch geschah dies allein aus Nützlichkeitserwägungen. Auf humanitäre Gesichtspunkte ist Keller in den einschlägigen Schriftwechseln offenbar nicht gestoßen.

Dass Menschen in Mülltonnen nach Essensresten suchten oder während ihrer Märsche zu den Arbeitsstätten rohe Feldfrüchte von den Äckern herunterschlangen, blieb auch der Öffentlichkeit nicht verborgen. Von privaten Hilfsmaßnahmen ist jedoch nichts bekannt, was schon auf eine beunruhigende Verrohung der deutschen Gesellschaft hinweist. Keller thematisiert diesen Gesichtspunkt jedoch nicht weiter. Dass es die Wehrmacht entgegen den Bestimmungen des Genfer Abkommens von 1929 der Gestapo gestatte, rund 38.000 Gefangene als angeblich aufrührerische oder bolschewistische „Elemente“ aus ihrem Verantwortungsbereich auszusondern und zur Tötung in SS-Konzentrationslager (hier Sachsenhausen und Neuengamme) zu überstellen, ist zwar nur ein Nebenaspekt dieser unglaublichen Tragödie, darf aber nicht verschwiegen werden.

Insgesamt hat Keller auf der Grundlage einer sehr sorgfältigen Auswertung der noch verfügbaren Quellen eine fundierte und inhaltlich klar gegliederte Studie vorgelegt, die zu einem überraschenden Befund gelangt: Wo rassenideologischer Vernichtungswahn im „Dritten Reich“ bei der massenhaften Zerstörung von Menschenleben nicht wirksam war, half eben – wie in diesem Fall – organisatorisches Unvermögen.

Titelbild

Rolf Keller: Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Erfordernissen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
511 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783835309890

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