Von der Präidee zur Tatsache

Die Wissenschaftstheorie Ludwik Flecks erhält die Aufmerksamkeit, die sie verdient

Von Benno KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benno Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Evolution, meint Ulrich Kutschera in einem in gewisser Hinsicht faszinierenden Buch, ist „ein realhistorischer Prozess […], der stattgefunden hat, andauert und mit naturwissenschaftlichen Methoden analysiert werden kann. Das historische Gewordensein der Organismen ist somit eine belegte Tatsache“ (Tatsache Evolution, 2008). Und Alain de Libera zieht in seinem Buch „Penser au Moyen Âge“ (1991) die Schlussfolgerung, die Kutschera an der zitierten Stelle für sich behält: „Die Tatsache, dass die ‚Araber‘ bei der Entstehung der kulturellen Identität Europas eine entscheidende Rolle gespielt haben, braucht man nicht zu diskutieren und noch weniger zu leugnen – es war einfach so.“

Kutschera und de Libera sind zwei Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Disziplinen – Biologie der eine, Geschichtswissenschaft der andere – die sich aber offensichtlich in der Vorstellung einig sind, dass es sich bei „Tatsachen“ um gegebene, unabänderliche Artefakte handelt. Wer in der Lage ist, diese Tatsachen zu identifizieren und zu benennen, hat den Schritt von der Wahrheitssuche eines Wissenschaftlers zur Wahrheit an sich geschafft. Er hat Unklarheiten ausgeräumt, Widersprüche beseitigt, Missverständnisse verunmöglicht und die Notwendigkeit zur diskursiven Suche beseitigt. Er hat das letzte Wort gesprochen, in letzter Instanz, ex cathedra – und wer jetzt noch Zweifel äußert, so die implizite Schlussfolgerung, ist entweder bösartig oder dumm.

Gegen diesen ahistorischen, unreflektierten Tatsachenbegriff, der allerdings womöglich der vorherrschende ist, hat sich schon in den 1930er-Jahren, noch vor Joseph Kuhn und dem postmodernen „cultural turn“, Widerspruch geregt. Einer der frühen modernen konstruktivistischen Wissenschaftstheoretiker ist Ludwik Fleck, dessen bedeutendstes Werk „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ 1935 erschien. Darin entwickelt er Begriffe wie „Denkkollektiv“ – eine Gemeinschaft von Menschen, die sich in denselben Kategorien verständigen, zum Beispiel eine Forschergruppe – , und „Denkstil“, also die Art, in der ein Denkkollektiv kommuniziert. Entscheidend ist dabei, dass Fleck annimmt, dass „Tatsachen“ von Denkkollektiven geschaffen werden, dass Tatsachen nicht, im übertragenen Sinne, in der Luft herumschwirren und nur noch eingefangen und dingfest gemacht werden müssen. Es sind vielmehr soziale Konstrukte, unabhängig davon, dass es Erkenntnisse gibt, die als „wahr“ angesehen werden können.

Im ersten Teil des Buches versammeln die Herausgeber verschiedene wissenschaftstheoretische Texte Flecks aus den Jahren 1927 bis 1962. Fleck hat am Beispiel der Entdeckung der Bordet-Wassermann-Reaktion zur Diagnose der Syphilis demonstriert, dass wissenschaftliche Tatsachen aus einem Arbeitszusammenhang heraus entstehen, und zwar durchaus als Nebenprodukt oder als Folge eines Irrwegs. Dass es einzelne, heldenhafte Forscher gebe, die dank ihres Genies die Wissenschaft voranbrächten, bestreitet er. Auch Wassermann war kein Held, kein Genie, sondern der Chef einer Arbeitsgruppe, der sich im Forschungsprozess über sein Ziel nicht unbedingt im Klaren war. Erst nachträglich wurde der eher chaotisch abgelaufene Erkenntnisprozess rationalisiert und Unschärfen und Abirrungen geglättet, so dass die „Bordet-Wassermann-Legende“ entstehen konnte.

Nach Fleck verläuft der wissenschaftliche Erkenntnisprozess in Wirklichkeit nämlich so ab: Eine Gruppe von Wissenschaftlern – ein „Denkkollektiv“ – bringt sich gegenseitig in eine bestimmte „Denkstimmung, wobei aus der gegenseitigen Verständigung, aber auch aus zufälligen Missverständnissen heraus nun ein spezifisches Denkgebilde entsteht, dessen Autorschaft keiner Person, sondern nur jenem Kollektiv als Ganzem zugehört.“

In gewisser Weise denkt der Mediziner Fleck hier soziologisch, indem er der Interaktion zwischen Menschen und der dadurch entstehenden Gemeinschaft die ihr gebührende Bedeutung beimisst. Inwieweit er die Bedeutung des Kollektivs überbetont, sei dahingestellt. In jedem Fall müsse man erkennen, meint Fleck, „dass der Motor einer Entwicklung nicht der rationale Plan eines einzelnen Individuums, sondern vielmehr die Stimmung einer Denkgemeinschaft ist“, aus der letztlich dort entwickelte „Präideen“ in wissenschaftliche Gedanken, Erkenntnisse und Theorien umgeformt wird.

Die Rezeption der Wissenschaftstheorie Flecks beendete der Hitler-Stalin-Pakt, der ihn zunächst unter sowjetische Besatzung brachte. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion geriet auch Fleck in die Mordmaschinerie der SS. Der zweite Teil des Bandes versammelt Texte von Fleck und anderen, die seine Zeit als Gefangener im Lemberger Ghetto und in den KZs Auschwitz und Buchenwald betreffen. Als forschender Arzt mit dem Schwerpunkt Serologie konnte Fleck auch unter widrigsten Umständen seine Arbeit fortsetzen. Die Verhältnisse im Ghetto waren aber auch für ihn entsetzlich, wie aus einer Nebenbemerkung hervorgeht: „Eine andere Schwierigkeit resultierte aus den ständigen ‚Aktionen‘ der Deutschen, die den Wohnungen, den Passanten auf der Straße und auch dem Krankenhaus galten. Infolge dieser Aktionen verschwanden Patienten, die man verschleppte und liquidierte. Die Mitarbeiter kamen manchmal einige Tage nicht zur Arbeit, manchmal verschwanden sie für immer.“

In Auschwitz musste Fleck miterleben, wie die SS Menschenversuche an Kranken vornahm und dabei ihren Tod billigend in Kauf nahm, wenn sie ihn nicht ohnehin beabsichtigte. Hier erkrankte er selbst an Fleckfieber, das er aber vermutlich wegen einer früheren Impfung überlebte. In Buchenwald entwickelte er mit seinen Mitarbeitern – aufbauend auf seinen Studien, die er bereits im Lemberger Ghetto durchgeführt hatte – einen Impfstoff gegen Flecktyphus, den er an die Deutschen ablieferte. Allerdings gelang ihm dabei unter höchster Gefahr ein Coup: Der Impfstoff war vorsorglich unbrauchbar gemacht, lediglich die Kontrollproben waren wirksam.

Nach dem Krieg arbeitete er weiter – und blieb ganz Arzt und Wissenschaftler: In einem Aufsatz beschäftigte er sich mit der Frage nach den Umständen, unter denen Versuche am Menschen zulässig sein sollten. Er argumentierte, dass die Grenzen zwischen Diagnostizieren und Heilen fließend seien und dass man deshalb klare Kriterien erarbeiten sollte, um „dieses äußerst wesentliche Problem der heutigen Entwicklung medizinischer Wissenschaft lösen helfen kann.“

Wie aus dem Briefwechsel mit dem Benno Schwabe Verlag hervorgeht – abgedruckt im vierten Teil –, war die Zeit nach dem Krieg in wissenschaftstheoretischer Sicht für Fleck wenig fruchtbar. 1949 glaubte Fleck, „ein wachsendes Interesse für die im Buch [„Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“] bearbeiteten Probleme“ zu bemerken. Doch der Verkauf entwickelte sich in den folgenden Jahren nur schleppend, so dass der Verlag entschied, die verbliebenen Exemplare, die einen Bombentreffer auf das Leipziger Verlagshaus überstanden und keine Käufer gefunden hatten, 1966 zu makulieren. Fleck, der schon 1961 gestorben war, erreichte diese Nachricht jedoch nicht mehr – vielleicht ist der Vorgang bezeichnend für die Bedeutung, die Fleck in dieser Zeit, vor seiner Wiederentdeckung, beigemessen wurde. Er war irgendwie aus dem Blick geraten.

Es ist der gegenwärtig zu beobachtenden Fleck-Renaissance zu verdanken, dass der vorliegende Band das Licht der Welt erblicken konnte. Ein Rezensent seines Hauptwerks hatte bereits 1939 geschrieben: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir in Flecks Arbeiten eine sehr tiefe und treffende, mit großem Talent durchgeführte Analyse des Erkenntnisprozesses vor uns haben. Obwohl der Autor von Beruf Arzt und Bakteriologe ist und sich ständig der Begriffe bedient, die aus seinem eigenen Arbeitsgebiet stammen, lassen sich seine Schlüsse mutatis mutandis auf jegliches wissenschaftliche Erkennen anwenden.“ Der Band enthält sämtliche Texte, die in „Erfahrung und Tatsache“ enthalten waren, und fügt ihnen neue hinzu. Damit erhält man einen soliden Ausschnitt aus seinem Werk und aus den Debatten, die um das Werk und den Autor geführt wurden. Zur Entdeckung der Denkkollektive, in denen Fleck sich bewegte und die seine Theorie hervorbrachten, ist der Band allerdings nur bedingt geeignet. Sicherlich enthält er Dokumente verschiedener wissenschaftlicher Kontroversen, und auch die Berichte über die Arbeit in den Konzentrationslagern sind aufschlussreich. Für einen tieferen Einblick in Flecks Denkkollektive ist das nicht genug, aber es wäre eine Überforderung, das von dem Band zu erwarten.

Anzunehmen ist natürlich, dass die Fleck-Renaissance an denen vorbeigeht, die ihrer am dringendsten bedürfen, nämlich Wissenschaftlern wie Kutschera und de Libera, denen es, wie man unschwer erkennen kann, mit ihrer Rede von „Tatsachen“ vor allem darum geht, abweichende Deutungen und unerwünschte Diskussionen zu unterbinden. Die Themen mögen unterschiedlicher nicht sein – bei Kutschera geht es um die Abwehr von Deutungsschemata, die seinen dezidiert atheistischen Evolutionsglauben in Frage stellen, bei de Libera um die christlichen Wurzeln Europas, die von interessierter Seite systematisch kleingeredet werden –, aber der Mechanismus ist stets derselbe. Der Band ist deshalb ebenso wie Flecks Hauptwerk allen zur Lektüre empfohlen, die geahnt haben, dass ein heroisches Bild des Wissenschaftlers der Wirklichkeit nicht entspricht und dass auch unkonventionelle Ansätze gehört werden sollten.

Titelbild

Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
682 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518295533

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