Terror als erfolgreiches Herrschaftsprinzip

Jörg Baberowskis Studie „Verbrannte Erde“ zeigt eindrucksvoll, wie Stalin den größten Staat der Erde für drei Jahrzehnte unter seine Kontrolle brachte

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Josef Stalin in den 1920er-Jahren die Macht in der Sowjetunion erlangte, bearbeiteten die meisten Bauern in seinem Riesenreich ihre Äcker noch mit dem Holzpflug. Bei seinem Tode im Jahre 1953 hinterließ der Diktator, so sein erster echter Biograf Isaac Deutscher, ein industrialisiertes Land mit Atommeilern. Mit Dutzenden von Millionen Toten, die durch Hunger, Terror und Kriegsereignisse umgekommen waren, erschien der Preis für diesen radikalen Wandel einer rückständigen und durch traditionelle Vorstellungen geprägten Gesellschaft zwar außergewöhnlich hoch, doch immerhin noch mit einem – wenn auch absurden – Sinn verknüpft.

Wenn sich aber nun diese barbarische Teleologie als bloße Konstruktion erwiese, die dem Tod von mehr als 30 Millionen Menschen in Stalins Sowjetunion eine Art historiografischer Rechtfertigung liefern sollte? Was wäre, wenn der durch Gewalt sozialisierte Pate aus Georgien aus reiner Mordlust seine Todesbefehle erteilt hat und dabei stets auf loyale Vollstrecker in seinem engsten Kreis rechnen konnte? Wenn er gar aus pathologischer Freude an Terror und Unterdrückung wahllos Menschen umbringen ließ und seine Schergen dazu anhielt, ihn selbst noch im Aufspüren angeblicher Trotzkisten, Faschisten oder sonstiger Saboteure zu überbieten?

Genau dieses kafkaeske Bild eines multiethnischen Riesenreiches, das immerhin rund ein Fünftel der Erdoberfläche umfasste und dank eines bizarren Verhängnisses unter die Knute einer mafiosen Gang erbarmungsloser Schlächter geraten war, hat Jörg Baberowski in seiner beim Münchener Beck Verlag erschienenen Studie zu Stalins Herrschaft zu entwerfen versucht.

Der Berliner Historiker und Professor für die Geschichte Osteuropas beschreibt ausführlich – manchmal wohl auch zu detailverliebt – die drei Dekaden der Gewaltherrschaft des Georgiers als eine Abfolge willkürlicher Mord- und Terrorwellen, die keinem anderen Zweck dienten, als die Herrschaft einer Clique von Gewaltfanatikern um den Diktator zu sichern. In Stalins Reich war die Gewalt, so Baberowski, als Prinzip perfektioniert und als politische Ressource akzeptiert. Doch der Diktator und seine selbst stets in Angst lebenden Satrapen bestimmten nicht nur über Leben und Tod, sie entschieden auch mit heute kaum vorstellbarer Dreistigkeit, was für mehr als 150 Millionen Menschen als Wahrheit zu gelten hatte. Eine wirksame Gegenwehr schien praktisch unmöglich, da jeder jeden als Konterrevolutionär verdächtigen konnte und private Rückzugsräume praktisch nicht existierten.

Stalins Reich der Gewalt war zugleich ein gigantischer geschlossener Raum der inszenierten Lüge, gegen die sich in einer systematisch atomisierten Gesellschaft kaum jemand wehren konnte. Gegenüber der Parteilinie zählten die eigenen Überzeugungen nichts mehr, da ihnen ein eigener Kommunikationsraum entzogen war. Auffallend war auch für westliche Besucher der Sowjetunion in den 1930er-Jahren die trostlose Leere der Straßen in ihren Städten. Wahllos konnten jeden Menschen Terror und Folter treffen und jeder rechnete damit, auch nachdem Stalin am 17. November 1937 offiziell das Ende des Massenterrors verkündet hatte. Wie aber war es möglich, dass sich ein derart brutales, verlogenes und überdies ökonomisch ineffektives System, das ein ressourcenreiches Land in ein gigantisches Armenhaus verwandelt hatte, so lange halten konnte?

Nur wenig außer dem Terror funktionierte wirklich in Stalins Sowjetimperium, folgt man Baberowski. Gewaltige Ressourcen wurden in blindem Eifer verschwendet und Industrieprojekte scheiterten, weil die mit Hungertoten erkauften ausländischen Maschinen aus Mangel an Sachkenntnis einfach verrotteten. Doch schuld an diesen Desastern waren nach der Parteilogik nicht die Inkompetenz der herrschenden Clique oder die Unzulänglichkeit der sozialistischen Planwirtschaft, sondern stets die zahllosen Verräter und Saboteure, die daher umso erbarmungsloser verfolgt werden mussten. Terror und Ineffizienz waren somit nur zwei Seiten eines kaum vorstellbaren Verhängnisses, durch das eine verschworene Bande von Mördern ein multiethnisches Riesenreich für praktisch drei Dekaden vom Rest der Menschheit fast vollkommen isolierte.

Nur einmal fand die sowjetische Gesellschaft unter Stalin für eine kurze Periode von vier Jahren zu einer vom Diktator geschickt inszenierten Solidarität zusammen, als dessen scheinbar marodes Imperium durch die Armeen Hitlerdeutschlands erstmals in existenzielle Gefahr geriet. Zwar erfuhren Leid und Tod jetzt noch einmal eine ungeheuerliche Steigerung, doch erstmals hatten die Überlebenden die Chance, auch darüber zu sprechen. Dies wurde gemeinhin schon als eine Art Befreiung empfunden und schweißte die Sowjetgesellschaft nach einer Dekade der Isolation zusammen.

In der Konfrontation der beiden Gewaltherrschaften aber erwies sich Stalin als Meister. Hitler sei schlecht beraten gewesen, so Baberowski in einer schon zynisch klingenden Anmerkung, Krieg gegen ein Regime zu führen, dem die Massengewalt zur zweiten Natur geworden war und dessen Soldaten mit dieser Gewalt umzugehen verstanden. „Gegen einen solchen Gegner konnte die Wehrmacht auf Dauer nicht Sieger bleiben.“ Jenseits aller bisher bekannten Deutungsmuster für das Scheitern der Aktion „Barbarossa“ liefert der Verfasser damit auf der Basis seiner Befunde eine verblüffende Erklärung für Hitlers vernichtende Niederlage im Osten. Stalins Untertanen waren ihres Menschseins durch jahrelangen Terror beraubt worden. In gewissem Sinne waren sie damit tatsächlich die bolschewistischen „Untermenschen“, die Hitler zu dezimieren und auszubeuten gehofft hatte, aber gerade deswegen waren sie auch in der Lage, die vermutlich größte und brutalste Aggression in der Geschichte der Menschheit zu überstehen.

Dazu noch einmal der Verfasser: „Menschen, die über Jahrzehnte in Gewalträumen leben und überleben mussten, begegneten dem Krieg auf andere Weise als es Menschen taten, die aus bürgerlichen Schutzräumen kamen“. Ein Paradox! Die Soldaten der Wehrmacht waren somit zu zivilisiert für Hitlers rasseideologischen Ausrottungskrieg gegen die Sowjetunion? An Baberowskis Deutung von Stalins Herrschaft irritiert nicht allein die klar und konsequent herausgearbeitete Rolle von Gewalt und Destruktivität als politischem Prinzip, sondern mehr noch die damit verknüpfte Einsicht, dass Staaten und Gesellschaften dank derartiger Methoden eine erstaunliche Resistenz nach Außen entwickeln können. Das erschreckende Resümee einer Geschichte der Sowjetunion unter Stalin müsste also lauten: Entmachte, vertreibe und töte die alten Eliten, dezimiere und unterdrücke aber auch wahllos die neuen Führungsschichten in Armee, Wirtschaft und selbst in der Partei, und gehe trotz allem aus einem mörderischen Krieg als neue Weltmacht hervor. Was aber sagt nur dieses Rezept über den tatsächlichen Nutzen von Eliten aus, wenn man offenbar so leicht auf sie verzichten kann?

Titelbild

Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
606 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406632549

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch