Das Buch der Wahrheit

Daniel Millers „Das wilde Netzwerk“ wirft einen ethnologischen Blick auf Facebook

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

845 Millionen User hatte Facebook nach eigenen Angaben im Dezember 2011, mehr als die Hälfte davon loggt sich täglich ein. Mehr als siebeneinhalb Milliarden Fotos werden monatlich auf Facebook hochgeladen und diese Zahlen steigen unaufhörlich. Höchste Zeit, dass sich mit Daniel Miller ein Ethnologe mit viel Erfahrung in empirischen Studien zu alltäglichen Massenprodukten und Phänomenen des sozialen Netzwerks annimmt, das die Welt im Sturm zu erobern scheint. Der Londoner Universitätslehrer hat sich dazu klassisch in ein überschaubares Umfeld, nach Trinidad, begeben.

Miller nimmt bei seiner Untersuchung eine emische Perspektive ein, versucht bei seiner Feldforschung die Ziele, Bedürfnisse und den Umgang der Trinidader bezüglich Facebook hauptsächlich zu würdigen, zu verstehen und zu erklären. Aus den Ergebnissen generiert er anschließend seine Theorien. Eine erste wichtige Feststellung, die nicht nur auf Trinidad zutrifft, ist, dass die Globalität bei Facebook in der Praxis nicht vorhanden ist, der Einzelne nämlich fast ausschließlich mit Verwandten und in seinem Freundes- oder Bekanntenkreis und nicht global kommuniziert.

Im ersten Teil des Buches werden sieben Facebook-User völlig unterschiedlicher Persönlichkeit bei ihrer Kommunikation im sozialen Netzwerk beobachtet und analysiert. Mal ist Facebook der Scheidungsgrund, mal ist es eine Hilfe für Schüchterne, Alte oder Kranke, ein Ventil für einen zwanghaften Mitteilungsdrang, ein Werbemedium für Initiativen aller Art oder das Werkzeug, um längst vergessene Weggenossen aufzuspüren und mit geografisch entfernten Verwandten oder Freunden in Kontakt zu bleiben. Für Vishala beispielsweise ist Facebook wahrer als die Realität, man spricht dort einfacher aus, was man denkt, wie man sich fühlt und Geheimnisse oder Lügen werden schneller aufgedeckt. Da man im Facebook-Profil seine Person so darstellen kann, wie man eigentlich gerne wäre und nur allerlei Umstände verhindert haben, dass man so ist, entspricht das selbstkonstruierte Ich dem eigenen Wesen mehr als die Person, die man real ist.

Im zweiten Teil seines Buches formuliert Miller anhand der Porträts 15 Thesen, die die Folgen von Facebook beschreiben. Das weltweit größte soziale Netzwerk verändert unsere Einstellung zur Privatsphäre, unsere Beziehung zu Raum und Zeit, das Verhältnis von Arbeit und Freizeit, unsere Selbstdarstellung und -verständnis und schafft eine Renaissance der Gemeinschaft. Als die derzeit überzeugendste Form der vielfältigen Kommunikations- und Informationstechnologien sieht Miller in Facebook „das Internet von morgen“. Zumindest in Trinidad wünscht man sich längst, zum Mailen, Telefonieren, Shoppen, Chatten, Spielen oder Webcamen nicht die Website wechseln zu müssen.

Eine Gleichschaltung und Manipulation scheint dem normalen User eher recht als ein Unglück zu sein. So unterhaltsam es ist, die individuellen Porträts zu lesen, so häufig stößt man auf ein Verhalten, welches bei einem verantwortungsbewussten Menschen nur Kopfschütteln hervorrufen kann. Aber allzu viel Skepsis und mögliche Nachteile des sozialen Netzwerkes, eben ein Plädoyer für reale Kommunikation, werden vom Autor als „eindimensionale Romantizismen“ abgetan.

Facebook macht dem Schwund sozialer Vernetzung ein Ende, es belebt und erweitert die Gemeinschaft. Die Netiquette wirkt Fehlverhalten entgegen, so wie im virtuellen Netzwerk weniger Gewalt als bei einem analogen Streit festzustellen ist. Halt! Ist die psychische Gewalt, eine für Unzählige sichtbar gepostete Verleumdung, Beleidigung oder permanentes Mobbing nicht viel gefährlicher, als eine Ohrfeige oder ein Schimpfwort im realen, nicht dokumentierten Leben? Gut, dass Miller erkennt, dass Facebook als politische Wunderwaffe der Demokratie deren Anführer gleichzeitig für die Diktatoren identifizierbar macht und er anmerkt: „Auch wenn Aktivisten Facebook nutzen, macht Facebook offenbar niemanden zum Aktivisten.“ Man sollte dem hinzufügen, dass es eben auch Schüchternen den realen Kontakt nicht erleichtert, obwohl oder weil man zuvor auf Facebook so nett miteinander gechattet hat.

Es mag die Aufgabe des Ethnologen sein, Kulturen und Verhalten unkommentiert zu beschreiben. Deshalb liegt die Stärke des Werkes auch darin, dass eigenverantwortliche, reflektierende Leser, vom Stoff mitgerissen, den eindimensionalen Schilderungen dauernd ein: „Ja, aber!“ entgegenhalten wollen. Solche Menschen, die „aus einer Maschine zur Verbreitung von Trivialitäten und Klatsch ein effizientes Werkzeug der Informationsvermittlung […] machen“ können, sind auf Facebook aber eher in der Minderheit. Dem Vorwurf, stundenlange Tätigkeiten im Netzwerk seien Zeitverschwendung, erwidert Miller, dass zumindest auf Trinidad Facebook mit Entertainment-Angeboten wie Fernsehen und Computerspielen konkurriert, wobei man die Tätigkeiten im sozialen Netzwerk als lehrreichere Aktivitäten begrüßen sollte.

Im theoretisch-wissenschaftlichen Teil glänzt die Studie mit vielen Verweisen, die auch online konsultiert werden können. Hier verortet der Autor seine Ergebnisse in die ethnologische Forschungslandschaft und stellt Vergleiche an. Viele überflüssige Einschübe und Erfahrungen kulinarischer, touristischer und persönlicher Art, besonders bei den User-Porträts, stehen dabei in starkem Kontrast zur wissenschaftlichen Argumentation in Fachsprache, die fachfremden Lesern einiges abverlangen wird.

Dennoch bietet Miller einen fundierten Einblick in die Welt des größten sozialen Netzwerkes, der sowohl Außenstehende über die Möglichkeiten der virtuellen Gemeinschaft informiert, als auch den User zum Nachdenken über sein Facebook-Verhalten bringt.

Titelbild

Daniel Miller: Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Jakubzik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
220 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518260425

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch