Das neu erwachte Interesse am Comic?

Zur Rolle der Literaturwissenschaft in der deutschen Comicforschung

Von Sigrun GalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrun Galter

Wirft man einen Blick in die Feuilletons großer deutscher Zeitungen oder auf die Zahl der Neuerscheinungen zur Comicforschung, könnte man meinen, Comics seien in Gesellschaft und Wissenschaft gleichermaßen anerkannt und bedürften keiner kulturellen Legitimation mehr. Die Nachwirkungen der Schmutz und Schund-Debatte der 1950er- und der Diskurse um Trivialität und Massenzeichenware der 1970er-Jahre sind abgeebbt. Selbst das Vorurteil, Comics seien ausschließlich auf die Zielgruppe der Kinder zugeschnitten, scheint angesichts eines vielfältigen Angebots an Erwachsenencomics und Graphic Novels endgültig überholt.

Die Comicforschung hat Anschluss an aktuelle Forschungsrichtungen unterschiedlicher Disziplinen gefunden und ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Zugriffen entwickelt. – Und doch halten die meisten ComicspezialistInnen einen solch positiven Befund für verfrüht. Es handle sich nur um den Anfang eines Prozesses, viele Vorurteile gegenüber Comics seien nach wie vor in Gesellschaft und Wissenschaftsbetrieb weit verbreitet. Noch 2009 widmete sich eine Tagung an der Freien Universität Berlin dem Thema „Comics: Zum Stand der kulturellen Legitimität eines intermedialen Mediums“. Besonders schwer hat sich bisher die Neuere deutsche Literaturwissenschaft damit getan, Comics als Literaturform ernst zu nehmen. Zeichnet sich eine Wende ab?

Zur Entwicklung der deutschen Comicforschung

In den letzten Jahren ist eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung deutschsprachiger Comicforschung zu beobachten. So wurde 2005 die „Gesellschaft für Comicforschung“ (ComFor) gegründet, seit 2008 bietet die „Bonner Online-Bibliographie zur Comicforschung“ Recherchemöglichkeiten in einem inzwischen kaum noch überschaubaren Publikationsfeld, und 2010 nahm die DFG-Forschergruppe „Ästhetik und Praxis populärer Serialität“ ihre Arbeit auf.

Das sind jedoch nur einige Eckdaten dieser Entwicklung. Ihre Anfänge lassen sich erheblich weiter zurückverfolgen. 1963 wurde in Frankfurt das „Institut für Jugendbuchforschung“ gegründet, das heute über ein umfangreiches Comic-Archiv verfügt. Den Grundstock der Sammlung bilden – Ironie des Schicksals – in der Nachkriegszeit als „jugendgefährend“ eingestufte, konfiszierte Comics. Das „Institut für Jugendbuchforschung“ und die 1990 gegründete „Arbeitsstelle für Graphische Literatur“ (ArGL) an der Universität Hamburg sind bis heute zentrale universitäre Einrichtungen für ComicforscherInnen: Einerseits fungieren sie als Forschungszentren und bieten ComicspezialistInnen einen institutionellen Rahmen für ihre wissenschaftliche Tätigkeit, andererseits stellen sie durch die angegliederten Bibliotheken eine Materialbasis an Primär- und Sekundärliteratur bereit. Die Ausstattung deutscher Bibliotheken mit Comics ist ansonsten bestenfalls dürftig.[i] Selbst die Deutsche Nationalbibliothek bezieht Comics nur partiell in ihren Sammelauftrag mit ein. Zudem werfen die Publikationsweisen von Comics allgemeine Fragen der Archivierung und konservatorische Probleme auf, besonders im Fall von Zeitungs-Strips. Hinsichtlich der Forschungsliteratur zu Comics ist die Situation ebenfalls prekär, selbst internationale Standardwerke sind nur an ausgewählten Standorten vorhanden.

Der mangelhaften Archivierung in Bibliotheken steht eine rege Publikationstätigkeit deutscher ComicforscherInnen gegenüber. Insbesondere seit 2000 ist eine Vielzahl an grundlegenden Monografien, Einzelstudien und Sammelbänden veröffentlich worden, darunter folgende: Michael Hein, Michael Hüners und Torsten Michaelsen (Hg.), „Ästhetik des Comic“ (2002), Stephan Packard „Anatomie des Comics: Psychosemiotische Medienanalyse“ (2006), Jakob Dittmar „Comic-Analyse“ (2008), Martin Schüwer „Wie Comics erzählen: Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur“ (2008), Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein (Hg.), „Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums“ (2009), Ole Frahm „Die Sprache des Comics“ (2010), Oliver Näpel „Das Fremde als Argument: Identität und Alterität durch Fremdbilder und Geschichtsstereotype von der Antike bis zum Holocaust und 9/11 im Comic“ (2011) und Thomas Becker (Hg.), „Comic: Intermedialität und Legitimität eines populärkulturellen Mediums“ (2011). Bereits die Titel der genannten Untersuchungen machen deutlich: Grundlagenforschung hat Hochkonjunktur. Daniel Stein konstatiert in seiner Diagnose der gegenwärtigen Situation gar eine „Konsolidierungsdynamik“ der „Comicwissenschaft in Keimform“.[ii] Diese zeige sich an Publikationen wie dem von Barbara Eder, Elisabeth Klar und Ramón Reichert herausgegebenen Sammelband „Theorien des Comics: Ein Reader“ (2011).

Aktuelle Herausforderungen

Die deutliche quantitative und qualitative Steigerung deutscher Comicforschung sollte jedoch nicht über die existenten Probleme hinwegtäuschen. Insbesondere die mangelnde wissenschaftliche Vernetzung und die nur in Ansätzen vorhandene Internationalisierung werden vielfach beklagt. So diagnostiziert Ole Frahm den „Stand der deutschen Comic-Forschung 2009“ als schlichtweg „unsäglich“: „Während in Frankreich, England und den USA längst auf Grundlage der Semiotik und der Cultural Studies Betrachtungen vorgenommen werden, die sich nicht im Allgemeinen verlieren und tatsächlich den Schatten eines wissenschaftlichen Diskurses werfen – fachliche Meinungsverschiedenheiten werden ausgetragen, es beziehen sich einzelne Arbeiten aufeinander, nicht jede Frage wird so gestellt, als sei der Autor der Erste, der sie beantwortet –, bleibt Deutschland, anders als in der Comic-Produktion, doch ganz in den nationalen, wenn nicht sogar nationalistischen Provinzen, eine irritierende Tatsache bei einem Medium, das maßgeblich zur Internationalisierung der Kulturproduktion selbst beigetragen hat.“[iii] Die aktuelle Situation schätzt Daniel Stein hingegen positiver ein: „In vielerlei Hinsicht steht die jüngere Comicforschung in Deutschland nämlich durchaus im Kontext der internationalen Comics Studies, auch wenn es ihr […] immer noch an internationaler Anschlussfähigkeit zu mangeln scheint. Wir haben es hier vor allem mit sprachlichen Eingrenzungen zu tun (nicht nur bei Primärquellen, sondern auch in der Wissenschaftssprache).“[iv]

Interdisziplinäre Interessenverbände wie die ComFor und internationale Netzwerke sichern die Kommunikation und Kooperation von ComicforscherInnen im In- und Ausland in zunehmendem Maße. Nicht zuletzt ist die steigende Zahl an Comic-Tagungen und neu gegründeten Publikationsorganen ein Indikator fortschreitender Vernetzung.

Die akademische Institutionalisierung der deutschen Comicforschung befindet sich jedoch nach wie vor in ihren Kinderschuhen. Ein Grund dafür dürften tief sitzende Vorurteile vieler WissenschaftlerInnen sein, die Comics mit Kinderlektüre, Eskapismus, Kulturindustrie und nicht zuletzt Anspruchslosigkeit assoziieren. Ein Urteil, das zumeist auf schlichter Unkenntnis beruht. Zwar handelt es sich bei nicht wenigen der oben genannten Monografien um Dissertationen, was eine gewisse akademische Akzeptanz der Comicforschung anzeigt. Doch stellt die Entscheidung, eine Qualifikationsschrift über Comics zu verfassen, die meisten WissenschaftlerInnen immer noch vor Herausforderungen. So merkt Martin Schüwer im Vorwort zu seinem annähernd 600 Seiten umfassenden „Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur“ an: „Unterstützung für ein Promotionsprojekt zu finden, das noch weitgehend Neuland betritt, ist oftmals nicht einfach.“[v] Dies liest man immerhin über eine 2006 abgeschlossene Dissertation! Daniel Stein, der zurzeit im Rahmen einer DFG-Forschergruppe über „Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens am Beispiel der Gattungsgenese von Batman- und Spider-Man Comics“ habilitiert, ist ebenfalls der Meinung, „dass Forscher, die ihre Dissertationen und Habilitationen über Comics schreiben, immer noch unter gesteigerten Rechtfertigungsdruck stehen“.[vi]

Die zögerliche universitäre Anbindung deutscher Comicforschung ist neben der literarischen (Ab-)Wertung grafischer Literatur auch im Gegenstand selbst begründet: Comics erfordern interdisziplinäre Zugänge, während der Wissenschaftsbetrieb Deutschlands überwiegend disziplinär organisiert ist. ComicwissenschaftlerInnen sind daher in einigen wenigen interdisziplinären Forschungseinrichtungen, in den Universitäten aber überwiegend in komparatistischen, medien- und kulturwissenschaftlichen Instituten tätig, also in Fächern, die per Definition breite Gegenstandsbereiche abdecken. Auffällig ist zudem die Öffnung vieler anglistischer Institute für Comicforschung.

Allgemein kann man jedoch sagen, dass Comicforschung an deutschen Universitäten nur punktuell verankert ist. Dies zeigt sich auch in Bezug auf die universitäre Lehre und Betreuung von Abschlussarbeiten. 2011 hat Joachim Trinkwitz in seinem „Erfahrungsbericht aus vier Jahren akademischer Lehre zum Thema“ Probleme in diesem Bereich skizziert. „Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen nehmen die Mitteilung, man plane ein Seminar zu Comics, mit einem Ausdruck zur Kenntnis, der zwischen herablassendem Amüsement, Mitleid und Entsetzen schwankt.“[vii]

Große organisatorische Probleme für die Planung von Seminaren bereitet die mangelnde Verfügbarkeit von Comics: Universitäts-Bibliotheken sind in der Regel schlecht ausgestattet, mittlerweile kanonisierte Comics sind meist vergriffen, Neuausgaben älterer Comics entsprechen häufig nicht editorischen Grundprinzipien und aktuelle Graphic Novels sind nicht selten für Studierende kaum erschwinglich. Eine weitere Herausforderung stelle auch die kaum vorhandene Kompetenz der Studierenden im Umgang mit Comics dar. Denn während im Zuge der Umstrukturierung des deutschen Bildungssystems die Notwendigkeit, Kompetenzen im Umgang mit Film und Neuen Medien gezielt zu fördern, betont und in den nationalen Bildungsstandards festgeschrieben wird, existiert kaum ein Bewusstsein für das, was man comic literacy nennen könnte. – Trotz dieser problematischen Situation werden an deutschen Universitäten zunehmend Seminare zu Comics, Graphic Novels und Mangas angeboten. Auch die Zahl an Abschlussarbeiten über comicbezogene Themen steigt kontinuierlich, wie allein die entsprechenden Einträge in der „Bonner Online-Bibliographie“ vor Augen führen.

Die Germanistik und die Erforschung deutschsprachiger Comics

Die Literaturwissenschaft spielt im Konsolidierungsprozess der deutschen Comicforschung kaum mehr als eine Nebenrolle. Der institutionelle Anschluss comicorientierter Forschung ist in dieser Hinsicht meist nur lose gegeben. So ist zum Beispiel die „Bonner Online-Bibliographie“ mit dem „Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft“der Universität Bonn vor allem durch die Person des Gründers und Projektleiters Joachim Trinkwitz verbunden. Auch das „Institut für Jugendbuchforschung“ kooperiert zwar eng mit den germanistischen Instituten der Universität Frankfurt, versteht sich aber als eigenständige Einrichtung. Die Mehrzahl deutschsprachiger Forschungsbeiträge über Comics lässt sich in anderen Disziplinen verorten, literaturwissenschaftliche Arbeiten entstehen meist in den Fächern Anglistik, Amerikanistik oder Komparatistik. Dass 2009 in der prestigeträchtigen germanistischen Reihe „Text + Kritik“ ein Band über „Comics, Mangas, Graphic Novels“ (herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold und Andreas C. Knigge) erschien, deutet wiederum auf eine beginnende Anerkennung des Gegenstandes in der Literaturwissenschaft hin.

Man mag darüber spekulieren, ob die Literaturwissenschaft eine konservative Fachkultur pflegt. Zu fragen wäre aber auch nach pragmatischen Gründen für diese Zurückhaltung. Das traditionelle Kerngebiet des Faches widmet sich der Untersuchung deutschsprachiger Literatur. Nun ist die Zuständigkeit für grafische Literatur wie Comics, Graphic Novels und Mangas bereits eine Streitfrage unter LiteraturwissenschaftlerInnen und berührt grundsätzliche Fragen nach dem jeweils vertretenen Textbegriff. Entscheidend ist daneben aber eben auch die Sprache, in der Texte verfasst wurden. Und deutschsprachige Comics spielen im internationalen Vergleich zu englisch-, französischsprachigen und japanischen eine deutlich untergeordnete Rolle.

Es lässt sich nicht leugnen, dass deutschsprachige Comics lange Zeit ein Stiefkind der Comicforschung waren. Allerdings hat das „Institut für Jugendbuchforschung“ in Frankfurt seit seiner Gründung nicht nur den Sammelschwerpunkt deutschsprachige Comics, sondern auch zahlreiche Forschungsprojekte und Publikationen zur Erfassung der deutschsprachigen Comictradition betreut. In diesem Kontext entstand zum Beispiel die grundlegende Monografie „Comics – Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945“ von Bernd Dolle-Weinkauff (1990).

Seit 2005 widmet sich außerdem das „Patrimonium deutsche Comicforschung“ der „Aufarbeitung der Comictradition in den deutschsprachigen Ländern“ und möchte „dazu beitragen, dass im großen Getümmel internationaler Comics der Beitrag der deutschen, österreichischen und Schweizer Zeichner und Autoren nicht zu kurz kommt“.[viii] Ziel ist es, die Geschichtsschreibung deutscher Comicproduktion schrittweise zu vervollständigen und eine empirische Basis für weitere Untersuchungen zu schaffen. Ebenso notwendig ist bei einer globalen Literaturform wie dem Comic aber auch der Blick auf die vielfältigen Querverbindungen zwischen Ländern und Kulturräumen – jenseits aller Sprachgrenzen.

Eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft, die sich – auch nicht deutschsprachigen – Comics gegenüber weiter öffnet, wäre unbedingt wünschenswert: Zunächst einmal, um denjenigen GermanistInnen, die bereits zu Comics forschen, einen institutionellen Rahmen zu bieten. Und nicht zuletzt leben interdisziplinäre Forschungsnetzwerke auch von der produktiven Verknüpfung disziplinärer Herangehensweisen.

[i] Vgl. dazu Matthias Harbeck: Das Massenmedium Comic als Marginalbestand im deutschen Bibliothekssystem? Analyse der Sammlungsstrategien und -absprachen in wissenschaftlichen und öffentlichen Bibliotheken. Berlin: Inst. für Bibl.-Wiss. der Humboldt-Univ. 2009 (Berliner Handreichungen zur Bibliothekswissenschaft 253). http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/serien/aw/Berliner_Handreichungen/253.pdf (Zugriff 20.5.12).

[ii] Daniel Stein: Comicwissenschaft in Deutschland. Ein Einschätzungsversuch. In: Homepage der Gesellschaft für Comicforschung, 2.1.2011. http://www.comicgesellschaft.de/?p=2450 (Zugriff 20.5.12).

[iii] Ole Frahm: Unsäglich. Zum Stand der deutschen Comic-Forschung 2009. In: ORANG Comic Magazin, 13.11.2009. http://www.orang-magazin.net/?p=451 (Zugriff 20.5.12).

[iv] Daniel Stein: Comicwissenschaft in Deutschland, a.a.O.

[v] Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier: WVT 2008 (zgl. Gießen, Univ., Diss., 2006) (WVT Handbücher und Studien zur Medienkulturwissenschaft 1). o.S.

[vi] Daniel Stein: Comicwissenschaft in Deutschland, a.a.O.

[vii] Joachim Trinkwitz: Zwischen Fantum und Forschung: Comics an der Universität. Ein Erfahrungsbericht aus vier Jahren akademischer Lehre zum Thema. In: Mathis Bicker; Ute Friederichs; Joachim Trinkwitz (Hg.): Prinzip Synthese: Der Comic. Bonn: Weidle 2011 (Edition Kritische Ausgabe 1). S. 65-71, hier S. 65.

[viii] Homepage des Patrimoniums deutsche Comicforschung. http://www.patrimonium.de (Zugriff 20.5.12).