Unter dem Glück lauert die Angst

Franz Hessels Episodenroman „Der Kramladen des Glücks“ erlebt nach 100 Jahren eine Widerauferstehung in schönem Gewand

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gelegentlich einmal kommt es vor, dass einem Buch eines unbekannten Literaten oder einer vergessenen Autorin das Glück zuteil wird, nach etlichen Jahrzehnten ungebrochener Missachtung eine Neuauflage zu erleben, die sich dann womöglich sogar noch als Verkaufsschlager entpuppt. Andere Romane und Erzählungen nie ganz in den Nachschlagewerken der Literaturhistorie versunkener SchriftstellerInnen wiederum erleben von Zeit zu Zeit Neuausgaben, die sich zwar mäßig, aber doch immerhin regelmäßig verkaufen. Auch das darf schon als Glücksfall gelten.

Bei Franz Hessels Episodenroman „Der Kramladen des Glücks“ handelt es sich um ein solches Werk. Alle Jubeljahre mal wieder wird es neu aufgelegt. Zuletzt war dies in den 1980er- und 1990er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Fall. Und nun also wieder. Diesmal im kleinen aber feinen Lilienfeld Verlag, der Hessels Werk als schön aufgemachtes Büchlein, das man gerne in die Hand nimmt, auf den Markt gebracht hat.

Hessel erzählt hier in einem lakonischen und darum nicht selten erheiternden Stil diverse Episoden aus dem Leben seines im sich dem Ende entgegen neigenden 19. Jahrhundert geborenen Protagonisten Gustav, dem die Lesenden auf den ersten Seiten als kleinem Buben begegnen und der sie auf den letzten als junger Mann wieder verlässt. Walter Benjamin fühlte sich durch den Autor an eine „tagaus, tagein“ nickende kleine chinesische Figur im Schaufenster des Berliner Warenhauses „Wertheim“ erinnert. Bei Hessels Protagonisten Gustav nun könnte es sich um einen nicht ganz entfernten Verwandten Oblomovs handeln, welcher dem melancholischen Familienzweig entstammt und dem ein gewisser Hang zu homoerotischen Empfindungen und sadomasochistischen Fantasien in die Wiege gelegt wurde. Ringt der Junge einmal mit einem Freund, so genießt er „die köstliche Lust des Besiegten“, ohne sich der sexuellen Note seines Gefühls recht bewusst zu sein.

Gustav ist ansonsten ein recht passiver Knabe, der allerlei mit sich geschehen lässt, kaum einmal jedoch selbst die Initiative ergreift. Viel mehr steht er lieber beobachtend beiseite und freut sich über den Disput der „klugen eifrigen Freunde“. Streut er selbst einmal eine Bemerkung ein, dann nur „damit die Streiter neuen Streit hätten“. Und noch seine eigenen Worte empfindet er als von anderen eingeflüstert.

Der Knabe entwickelt sich zu einem empfindsamen, verträumten, vor allem aber noch immer antriebslosen Menschen, der zwar „vor lauter Unglück ganz selig“ sein kann, dessen Melancholie aber durchaus nicht immer süß ist. Zuweilen plagt ihn vielmehr eine regelrechte Todessehnsucht.

Um des Studiums willen zieht der junge Mann nach München, wo er einige kuriose Gestalten kennenlernt, deren erster sein Fechtlehrer ist. In der Schwabinger Bohème, deren Dunst- und andere Kreise ihn zunehmend anziehen, treten weitere hinzu. Von einem ernsthaften Studium des Jus kann kaum die Rede sein, und ist es in dem Buch auch nicht.

Nach einer Knabenfreundschaft mit unüberhörbar homoerotischen Obertönen haben sich Gustavs nunmehr nicht immer gar so harmlose sexuelle Fantasien den Frauen zugewandt. Mit den realen Schwabinger Frauen hat er allerdings seine liebe Not. Dabei gilt es ihm doch als unabdingbare Voraussetzung, „ein richtiger Mann“ weden zu können, erst einmal „ein richtiges Verhältnis“ zu haben. Einem solchen sind die Damen der Schwabinger Bohème nun zwar keineswegs abgeneigt. Die Schwierigkeiten liegen vielmehr in Gustav selbst. Doch schließlich findet er das ersehnte Verhältnis in Gestalt der ihm zugetanen Marianne. Zuletzt aber flieht er sie ohne ein Wort des Abschieds.

Das titelstiftende Geschäft hat er da schon längst auf einer Reise in die Schweiz betreten. Es erweist sich als Zürcher „Spezereiladen“, in dem er eine Tüte Bonbons ersteht.

Für Gustav, der gelegentlich „glücklich mit den Glücklichen“ ist, reicht es kaum einmal zu eigenem Glück. Auch es scheint ihm nicht mehr als der in einschlägigen Läden feilgebotene Kram zu taugen. Tiefer als das Glück, das ihm so selten zuteil wird, sind seine inneren Abgründe. Denn „unter dem Glück ist eine Angst“. Doch dank seiner Passivität und Antriebsschwäche läuft er nie wirklich Gefahr in den Abgrund seiner selbst zu stürzen.

Als Lesender wird man wiederum nicht immer ganz glücklich mit dem Nachwort von Manfred Flügge. Dass Hessel zusammen mit der im Roman als Gerda von Broderson literarisierte „Liebesheroin“ Franziska zu Reventlow und ihrem Geliebten Bogdahn von Suchocki eine „Ehe zu Dritt“ lebte, lässt sich ungeachtet des gemeinsam bewohnten Eckhauses in der Münchner Kaulbachstraße und nach allem, was man etwa aus ihren Tagebüchern weiß, schwerlich behaupten. Auch schätzt Flügge den Anteil Reventlows am „Schwabinger Beobachter“ sträflich gering, wenn er es darauf reduziert, dass sie das satirische Blatt „redigiert“ habe. Und ob die Lektüre Hessels wirklich glücklich macht, wie Flügge meint? Das mag denn doch etwas zu viel versprochen sein. Wenngleich Flügge selbst das Glücksgefühl seiner Hessel-Lektüre keineswegs abgesprochen werden soll. Für die meisten aber dürfte gelten, dass sie sich als Begleiter Gustavs recht gut unterhalten fühlen. Und das ist doch schon mal nicht wenig.

Titelbild

Franz Hessel: Der Kramladen des Glücks. Roman.
Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2012.
311 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783940357267

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