Vorname: Unterwegs. Nachname: Unterwegs

Wend Kässens unterhält sich mit Autoren über ihre realen und ihre metaphorischen Reisen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wichtig ist das Reisen für Schriftsteller? Nach der Lektüre der zehn Gespräche, die Wend Kässens mit deutschsprachigen Autoren führte, muss man sagen: Zumindest die Bedeutung von „realen“ Reisen als Inspirationsquelle wird stark überschätzt. Das mag freilich auch an Kässens Auswahl liegen, denn genuine Weltenbummler wie Christoph Ransmayr oder Christian Kracht fehlen leider unter den Interviewten. Brigitte Kronauer fallen dagegen bei der Frage als erstes die Wandertage in der Schule ein, und Wolf Wondratschek glaubt, hätte er ein Nomaden- statt ein Schreibtischleben geführt, gäbe es seine Bücher gar nicht; überhaupt genüge ihm die russische Steppe von Tschechow.

Immerhin erinnert sich der in der DDR aufgewachsene Ingo Schulze dankbar an seine werkprägende Zeit im postkommunistischen St. Petersburg. Und das Dramatikerduo Tankred Dorst und Ursula Eher besteht darauf, dass Texte nirgends so gut reifen wie unter den Bedingungen eines anonymen Hotelzimmers. Doch sind auch diese längst nicht mehr das, was sie einmal zu Zeiten eines Joseph Roth waren: „Mittlerweile hast du in solchen Hotels nicht mal mehr einen Schreibtisch, es dominiert der Fernseher“, so Peter Kurzeck, der es deshalb inzwischen vorzieht, vom Reisen nur noch zu träumen.

Das wiederum ist für einen Gegenwartsautor ein wahrer Luxus. Denn nur naive Leser glauben, dass sich heutige Autoren ihren Unterhalt immer noch am Schreibtisch verdienen. Sie leben vom Unterwegssein, von ‚Lesereisen‘, die aus dem Dichter einen „U-Boot-Matrosen“ machen, so Katja Lange-Müller: „Man kommt unheimlich rum, aber am Ende muss man sagen: Ich habe nüscht gesehen. Außer dem Hotel, dem Flughafen und dem Goethe-Institut.“ Schon mehrmals sei sie von einem Albtraum heimgesucht worden, in dem sie vor einer Musterungskommission steht, in der ihr mitgeteilt wird, sie heiße ab heute „Unterwegs. Unterwegs, unterwegs. Vorname: Unterwegs. Nachname: Unterwegs.“

Kässens Autorengespräche wären daher weitaus weniger faszinierend zu lesen, würden sich seine Fragen auf das reale Unterwegssein beschränken. Doch macht schon der Untertitel – „Unterwegs im Leben und Schreiben“ – deutlich, dass es in diesem Band mehr noch um das Reisen im übertragenen Sinne geht: in Fantasie und Erinnerung, Kunst und Literatur, Sprache und Schreiben. Mit Fragen zum Verhältnis zur Natur, dem Begriff „Heimat“ oder der Rolle des Unbewussten im Kreativitätsprozess gelingt es dem langjährigen NDR-Kulturredakteur, seinen Gesprächspartnern bemerkenswerte Auskünfte über ihre Schreibantriebe zu entlocken.

Auffallend ist etwa, wie lust- oder unlustorientiert sich die jeweilige Textarbeit gestaltet und wie konfliktträchtig ihr Verhältnis zum restlichen Leben. Für Hanns-Josef Ortheil ist das ständige Notieren eine lustbetonte, ichbestätigende „Naturgeste“, und Juli Zeh bastelt so lange an ihren Textfragmenten, bis plötzlich eine Komplexitätsschwelle überschritten und sie als Autorin regelrecht eingesaugt werde und sie unbedingt sehen wolle, wie es weitergeht. Wolf Wondratschek dagegen stilisiert das Schreiben heldenhaft zum „Risikoberuf“, könne einen die fortwährende Isolation doch verrückt werden lassen.

Und Peter Kurzeck würde einfach verrückt werden, würde man ihm das Schreiben verbieten: „Ich gehe also nachts schon mit der Vorstellung ins Bett: Sobald du morgen aufwachst, kannst du so weitermachen! So ähnlich wie ein Kind, das Weihnachtsgeschenke bekommen hat und damit spielt, aber dann irgendwann ins Bett muss. Es stellt die Weihnachtsgeschenke um sein Bett herum auf. Vielleicht schlafe ich auch deshalb so schlecht, weil ich natürlich im Schlaf weiter daran arbeite.“

Titelbild

Wend Kässens: Das Große geschieht so schlicht. Unterwegs im Leben und Schreiben.
CORSO, Hamburg 2011.
190 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783862600281

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