Von Bettbeschreibungen, Mitleidsfragen und dem Gral

Michaela Schmitz eröffnet in ihrem Kommentar zum 16. Buch des „Parzival“ tiefe kultur- und alltagsgeschichtliche Einblicke.

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der „Parzival“ eines der bekanntesten, anspruchsvollsten und faszinierendsten Werke der mittelhochdeutschen Literatur ist, steht außer Frage – der Liste der obigen Superlative wären sicherlich noch einige hinzuzufügen. Dementsprechend erscheint es mehr als nachvollziehbar, dass über diesen Text seit den Zeiten von Karl Simrock viel gedacht und geschrieben wurde. Mit einem weiteren Kommentar tritt man nicht nur von Seiten der Primär- sondern auch mit dem Blick auf die Sekundärliteratur ein großes und schweres Erbe an.

Der hier besprochene Band hat sich ausschließlich mit dem 16. Buch als zusammenführenden Abschluss der Erzählung befasst und will laut eigener Aussage ein Hilfsmittel sowohl für Studierende als auch Lehrende sein. Als Apparat, der den Text anschaulicher und begreifbarer macht, eignet sich der Kommentar hervorragend, aber andererseits setzt die Kommentierung von Seiten der Studierenden zu viel Vorwissen voraus (etwa der Begriff der Kalokagathia), um gerade im Bereich der Lehre leicht benutzbar zu sein. Weiterhin bietet der Band keine neuen Informationen, die einen roten Faden bilden würden, um darauf eine weiterführende Interpretation des komplexen Schluss des „Parzival“ aufzubauen. Gerade eine abschließende Betrachtung der vorgelegten Fleißarbeit wäre wünschenswert.

Der gesamte Kommentar, der auch stellenweise Übersetzungen liefert, basiert auf der zweisprachigen DeGruyter-Ausgabe mit dem Vorwort von B. Schirock, sodass reine Übersetzungen ohne weitere Kommentierung oder Begründung redundant erscheinen. Hier wäre es sinnvoll gewesen, zu bemerken, dass es sich um ein begründetes Lesartenangebot handelt, das neue Perspektiven oder Interpretationen eröffnen kann, aber ohne diese Hinweise erscheinen die ausgewählten, übersetzen Stellen manches Mal willkürlich und ohne weitere Begründung Eingang in den Band gefunden zu haben.

Die Ordnung des Kommentars erscheint als die einzig sinnvolle, auch wenn eine Übersicht leitmotivischer Begriffe wie „Gral“, „âventiure“ et cetera. als „Pro-“ oder „Epilog“ durchaus hilfreich wäre und den Hauptteil textlich entlasten würde. Zur reinen Benutzerfreundlichkeit ist zu bemerken, dass gerade die Symbole Pfeil und Doppelpfeil, welche die Navigation und Orientierung im Kommentar stützen, hilfreich waren, gleiches gilt für das Glossar. Gewöhnungsbedürftig ist der Umgang mit den Textstellen, die zuerst im größeren Rahmen betrachtet werden, um dann kleinräumiger analysiert zu werden: Oftmals erweist sich diese Methode als ermüdend repetitiv, auch wenn sich Schmitz in solchen Fällen um eine detaillierter werdende Erläuterung bemüht – Dopplungen lassen sich damit nicht immer vermeiden. Weiterhin erschwert diese Gliederung den schnellen Zugriff auf angestrebte Informationen, wenn man den Apparat als „Lexikon“ zum 16. Buch und darüber hinaus nutzen möchte. Die ausgewählten und erläuterten Stellen sind als Zitate wiederholt ungeschickt gewählt, sodass den Lesern ein enges Parallellesen des Originaltextes mit weit ausgreifenden Textstellen manches Mal nicht erspart bleibt. Hier wäre eine kurze Paraphrasierung des Kontextes hilfreich und nützlich.

Zur Darstellung der Handschriften, die kaum weitere Verständnishorizonte eröffnen, sei bemerkt, dass es sich anscheinend um reine Beschreibungen handelt, die der Vollständigkeit halber hinzugefügt wurden, und für Interessierte sicherlich auch lesenswert sein mögen, aber keinen erkenntnisbringenden Mehrwert enthalten. Besonders die Trennung von Bildnachweisen und detaillierten Beschreibungen der Miniaturen vergällt die Freude am Nachvollziehen durch zähes Umherblättern.

Ein großer, nicht zu vernachlässigender Pluspunkt des Kommentars sind aber die fundierten und anschaulichen Erklärungen, die die alltags-, kultur- und hier auch besonders religionsgeschichtlichen Bezüge transparent und für den Benutzer die mittelalterliche, fiktive Lebens- und Glaubenswelt wesentlich anschaulicher und zugänglicher machen und so Stellen erhellen, die dem reinen „Überlesen“ zum Opfer fallen würden. Erfreulich wäre an gegebenen Stellen Bildmaterial (falls vorhanden und zugänglich). Schmitz hat sich mit ihrer Kommentierung ein ehrgeiziges Projekt zum Ziel gesetzt, das sie oftmals (bis auf winzige Schönheitsfehler wie fehlende Verweise) sehr gut realisiert hat und eine wirkliche Verständnishilfe ist; gerade die Erläuterungen zu Konnotationen, die ungeübteren Lesern entgehen würden, eröffnen ein tieferes Verständnis der angelegten Figuren, ohne überflüssig zu psychologisieren.

Inter- und intratextuelle Verweise erweisen sich als sehr nützlich und zeigen deutlich die Verwobenheit des Textes mit sich selbst und mit anderen Werken der Zeit auf, sodass – gerade für Studierende – spannende und fruchtbare Einblicke gegeben werden, ohne die Leser des Kommentars mit allzu strengen Lösungsvorschlägen zu versorgen. Interpretationsansätze, Forschungsüberblicke und -debatten werden zwar referiert, lassen aber in ihrer Darstellung noch genug Freiraum für eigene Ideen und deren Entwicklungen: Als problematisierende Denkanstöße sind diese gut nutzbar, und erweisen einmal mehr die sehr gute Eignung des Kommentars für das Selbststudium und die weiter- und tiefergehende Lektüre. Unter diesem Aspekt ist auch die ausführliche Bibliografie zu werten, die sich natürlich auf das 16. Buch und die Anschlüsse fokussiert, aber auch Anregungen für andere Themenkreise bietet.

Insgesamt erscheint dieser Kommentar zum 16. Buch als eine inhaltlich sehr gelungene Fleißarbeit, die methodisch zwar nicht immer ganz glücklich ist, aber durch ihre praktikable Handhabung, verständlichen und erhellenden Erläuterungen ein tieferes Verstehen des Textes fördert und die Lebenswelt der fiktiven – und extrafiktiven – Lebensumstände gerade Studierenden näher bringt.

Titelbild

Michaela Schmitz: Der Schluss des "Parzival" Wolframs von Eschenbach. Kommentar zum 16. Buch.
Akademie Verlag, Berlin 2012.
292 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-13: 9783050055718

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