Die große Kunst im kleinen Format sichtbar machen

Ein von Dagmar Grenz herausgegebener Sammelband untersucht Theorie, Geschichte und Didaktik der Kinder- und Jugendliteraturforschung

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn verdiente bzw. altgediente Hochschullehrer in den Ruhestand treten, halten sie oftmals Rückschau und reflektieren über die Entwicklung des eigenen Fachgebietes und die – neumodisch formuliert – Nachhaltigkeit der praktizierten wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse. Sie können zumeist im Rückblick bestehende Desiderate benennen, potentielle Trends beschreiben und zukünftige Problemkonstellationen unter Berücksichtigung eigener langjähriger Anstrengungen prognostizieren. Das Faktum, in einem Sammelband auf knappem Raum mehrere Beiträge von gerade emeritierten oder pensionierten Professoren versammelt zu finden, macht den von der Hamburger Literaturdidaktikerin Dagmar Grenz herausgegebenen Sammelband „Kinder- und Jugendliteratur. Theorie, Geschichte, Didaktik“ sicherlich besonders interessant.

Denn neben einem Beitrag der unlängst emeritierten Herausgeberin finden sich auch Beiträge der Duisburger Forscherin Maria Lypp, der Kölner Forscherin Gisela Wilkending, des Augsburger Didaktikers Kaspar H. Spinner, des Heidelbergers Wissenschaftlers Bernhard Rank und des vormals in Schwäbisch Gmünd wirkenden Professors Reinbert Tabbert sowie des Berliner Germanisten Rüdiger Steinlein. Zu diesen Beiträgen gesellen sich Texte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der jüngeren Generation wie Andrea Bertschi-Kaufmann, Gabriele von Glasenapp oder Petra Hüttis-Graff; als jüngste Mitwirkende übernahm Daniela Merklinger die Co-Autorinnenschaft eines Aufsatzes. Hervorgegangen ist das Buchprojekt aus einer Ringvorlesung mit dem Titel „Kinder- und Jugendliteratur im Spannungsfeld zwischen Erziehungswissenschaft, Literaturwissenschaft und Didaktik“ an der Universität Hamburg im Wintersemester 2007/2008. Ergänzt wurde der Sammelband durch Vorträge der Jahrestagung 2008 der „Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung“.

Der Band ist inhaltlich in drei Teile geordnet. Nach einer sehr lesenswerten „Einleitung“ der Herausgeberin finden sich sieben Aufsätze zur literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Kinder- und Jugendliteratur. Bewusst eröffnen Beiträge von M. Lypp und K. H. Spinner die Diskussion, die schwerpunktmäßig die literaturwissenschaftliche Sichtweise auf die entsprechenden Texte mit unterschiedlichsten Ansätzen fokussieren: Während Lypp poetische Strukturen in der Einstiegsliteratur für Kinder untersucht, arbeitet Spinner fünf ausgewählte Grundmotive in der KJL heraus, die er am Beispiel zweier Jugendbücher exemplifiziert: Singers „Norbert Nobody“ und van Ransts „Wir retten Leben, sagt mein Vater“ werden hinsichtlich der Motive „Tod und Leben“, „Das Böse“, „Verbotene Orte“, „Fliegen – Freiheit im Raum der Fantasie“ und „Minderwertigkeit und Selbsterprobung“ betrachtet.

Einen historischen Akzent setzen die vier Beiträge von I. Wild, G. Wilkending, G. von Glasenapp und R. Steinlein, die ein beachtliches Spektrum abdecken. Von „Sina“, einem der ersten Mädchenbücher, das um 1880 das weiblich-adoleszente Probehandeln literarisiert, über die Gattung des historischen Jugendromans im Wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel von Höckers „Wotans Ende“ bis zur deutschsprachigen jüdischen Kinder- und Jugendliteratur im Zeitraum 1933 bis 1938 und schließlich der Entwicklung der DDR-Kinder- und Jugendliteratur reichen die lesenswerten Ausführungen. Abgerundet wird der literaturwissenschaftliche Schwerpunkt mit einem farbig illustrierten Überblick über das postmoderne Bilderbuch. R. Tabbert nutzt diese Rundschau zugleich, um den Begriff der „Metafiktion“ zu erläutern und an zahlreichen Einzelbeispielen zu verdeutlichen, dass man es bei Bilderbüchern „mit zwei Welten in einem Werk zu tun“ hat.

Der zweite Teil des Sammelbandes nimmt sich der methodisch-didaktischen Sichtweise an und diskutiert die latente Spannung zwischen Leseförderung und literarischer Bildung von Kindern und Jugendlichen geschickt aus. Der grundlegende Beitrag Bernhard Ranks ruft in Erinnerung, dass als Fundament des Literaturunterrichts die Ermöglichung von literarischen Erfahrungen zu sehen ist, sodass sich Förderungs- und Bildungskomponenten ergänzen. Dagmar Grenz beleuchtet die Methode der Szenischen Interpretation und leitet anhand von Fallbeispielen aus der Grundschule ab, wie Emotionalität und Reflexivität in Passung gebracht werden können. Gleichfalls für die Primarstufe interessant ist der Beitrag von Andrea Bertschi-Kaufmann, welche die Methode des Lesetagebuchs als Referenzrahmen für die Leseentwicklung untersucht. Aus einer sprachdidaktischen Perspektive referieren des Weiteren Hüttis-Graff und Merklinger die Rolle der Hörkompetenz für die Anbahnung von Schreibfertigkeiten im Bereich der frühen „Literacy“. Sie zeigen, dass bereits Vorschulkinder sprachlich-mediale Muster von Hörspielen wahrnehmen und sprachlich artikulieren können. Im Kontext der aktuellen Diskussion um literarische Frühförderung kommt dem Aufsatz „Ohne Buchstaben Texte schreiben“ sicherlich ein paradigmatischer Stellenwert zu, da er medienintegrativ argumentiert. Entsprechend dieser Relevanz finden sich Ausschnitte aus dem eingesetzten Hörspiel „Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte“ sowie Tonaufnahmen vom Diktieren der Kinder auf einer dem Band beigefügten CD.

Abgerundet wird das Buch durch die Dokumentation eines lesenswerten Gesprächs mit der Autorin Alexa Hennig von Lange, welches am Rande der Ringvorlesung stattfand. Darin argumentiert die Schriftstellerin für eine literarische Bildung, die sich nicht ausschließlich auf das Analysieren und Interpretieren fokussiert, sondern Literatur als Kunstform begreift: „aber das literarische Interesse kann schon kaputt gemacht werden, wenn in der Schule Bücher bis zum Exzess auseinandergepflückt werden, und zwar zum zwanzigsten Mal vom immer selben Lehrer und immer auf die gleiche Art und Weise.“

Insgesamt kennzeichnet den Band eine Stimmung, die zwischen Hoffen und Bangen angesiedelt werden kann. Neben dem Blick auf die bleibenden Errungenschaften der bislang geleisteten Forschungsanstrengungen im Feld der Kinder- und Jugendliteratur schimmert immer wieder jene permanente Sorge durch, die viele geisteswissenschaftliche Disziplinen in Zeiten von Output-Orientierung, Dauerevaluierungen und Exzellenz-Clustern beschäftigt. Die Herausgeberin Dagmar Grenz hat die momentane Situation grosso modo umrissen: „Was die institutionelle Verankerung der Kinder- und Jugendliteraturforschung betrifft, so lässt sich sogar eine rückläufige oder zumindest stagnierende Entwicklung beobachten.[…] Das Einfrieren beziehungsweise der Abbau von Professuren für Kinder- und Jugendliteratur bedeutet, dass die Zahl derjenigen steigen wird, die die Kinder- und Jugendliteratur in der Lehre vertreten, ohne in der einschlägigen Forschung ausgewiesen zu sein.“ Dass sich im Feld der KJL vielfältige Fragestellungen auftun, die sowohl literaturwissenschaftliche Relevanz als auch literaturdidaktischen Handlungsdruck erzeugen, belegt der Sammelband eindrucksvoll. Zugleich ist er ein Plädoyer für die fachlich fundierte und methodisch versierte Wissenschaftlichkeit im Umgang mit der Kinder- und Jugendliteratur.

Titelbild

Dagmar Grenz (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. Theorie, Geschichte, Didaktik.
Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2010.
214 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783834007391

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