Lyrisches

Volker Klotz fragt danach, was ein lyrisches Gedicht kann und bleibt doch aufs Feinsinnige beschränkt. „Verskunst“ ist dennoch ein bestaunenswertes Kunststück in Sachen Philologie

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, was denn überhaupt Lyrik sei, scheint die Literaturwissenschaftler immer wieders aufs Neue zu bewegen, gerade weil die Lyrik immer geheimnisvoller zu werden scheint. Die Sicherheit jedenfalls, mit der uns der Geheime Rat über die drei Hauptgattungen belehrt hat, scheint uns mit dem Verlust des Vorrangs der Lyrik vor den anderen Gattungen verloren gegangen zu sein. Deshalb wohl ist die Frage nach den Charaktermerkmalen der Lyrik immer auch eine nach dem, was sie denn wirklich kann. Wo sie weder als Offenbarungs- noch als Ausdrucksmedium funktioniert, bleibt wenig übrig, zumal dann wenn die Alltagsformen der Lyrik völlig aus dem Blick geraten. Die Lyrik hat sich in der öffentlichen Wertschätzung an den Rand zurückgezogen, auch wenn sie immer noch breiten Raum einnimmt, im populären Lied („Frankfurt, München, Hamburg und Saarbrücken / es sind überall dieselben, die dich unterdrücken“) oder in den Kinderreimen („Dies Auto hier heißt Ferdinand / und steht an einem Bergesrand“). Selbst die Ehrerbietung, wie sie der Lyriker Durs Grünbein erfährt, ist dabei eher Indiz für die Randständigkeit der Lyrik als für ihren Rang.

Volker Klotz, der mit seiner Studie zum Großstadtroman der Moderne, die immerhin vor mehr als vierzig Jahren erschien, beständiger Bezugspunkt in der Literaturwissenschaft geblieben ist und auch in der Dramentheorie Bleibendes publiziert hat, legt nun mit „Verskunst“ eine gelehrte und belehrende Studie darüber vor, was Lyrik ist, soll und kann und wie man mit ihr umgeht. Und sie ist aller Ehren wert.

Die Genauigkeit und Geduld, mit der Klotz jene teils robusten, teils fragilen sprachlichen Gebilde unter die Lupe nimmt, die in seinem Sinne als Lyrik firmieren, wäre schon in früheren Jahren anachronistisch gewesen. Zuneigung und Genauigkeit, aber auch der Wunsch, die Vielfalt der formalen Möglichkeiten zu verstehen, gehen dabei eine wunderbare Verbindung ein. Mit anderen Worten, man mag den Gedichten, die sich Klotz vornimmt, ebenso gern folgen wie seinen exegetischen Bemühungen. Ja, so kann mans machen, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mühe machen will. Und wer sich für Literatur interessiert, sollte sich eben auch Mühe machen wollen. Dass es sich lohnt, weiß Klotz auf schönste Weise vorzuführen.

Dabei scheinen ihm seine klanglichen, reimlichen, rhythmischen, grammatikalischen und syntaktischen Erkundungen eine Menge Freude gemacht zu haben. Er bewegt sich mit offensichtlichem Vergnügen in jenem Mikrokosmos, der sich hinter der Oberfläche etwa von 14 Zeilen findet, die in vier Strophen gegliedert sind.

Dabei scheut er auch vor Texten nicht zurück, die herrlich unmodern sind. Fleming, Weckherlin, Zesen – die großen Autoren der Vor-Genie-Zeit, die noch wussten, dass für Lyrik vielleicht Talent, aber vor allem Übung und Wissen notwendig sind. Klopstock, Brentano, Mörike, Platen – wer liest das heute noch, außer verirrten Spezialisten ohne Karrierechance? Trinklieder gar – auch wenn es sich nur um die der Vormoderne handelt. Immerhin nimmt sich Klotz diese Texte und ihre Anwendung mit demselben freundlichen Ernst vor, die er auch den seriösen Texten widmet.

Dass er sich dabei auch einmal verirrt oder ein wenig kurzatmig wird, sobald er sich aus der Gestalt in die Bedeutung bewegt, lässt sich verschmerzen. Was die Brecht’schen „Terzinen über die Liebe“ angeht, wird man dem „utopischen Hergang ziellosen, herkunftlosen und schwerelosen Schwebens, droben im grenzenlosen Luftraum“ nicht trauen können. Einfach deshalb, weil sich das so gar nicht nach Brecht anhört.

Aber sonst kann man sich Klotz’ Überlegungen und Beschreibungen beruhigt anvertrauen. Zumal dahinter eine genaue Vorstellung davon steckt, was Lyrik, genauer gesagt, das lyrische Gedicht ist. Klotz stellt dafür eine Gruppe von Eigenschaften zusammen, die das lyrische Gedicht von anderen Formen der Lyrik abgrenzt, die er allerdings als Zwischen- oder Mischformen aus dem Kernbereich des Lyrischen verbannt sehen will.

Ein lyrisches Gedicht habe 1. keine Fabel, keine Handlung und keine Erzählung und es – nicht zuletzt deshalb – 2. kurz und prägnant. Die bestimmende Instanz, der Souverän im Gedicht ist 3. das lyrische Ich, das sich im Übrigen definitiv vom Autor oder wem auch immer unterscheidet. Das Gedicht ist bedingungslos subjektiv, ohne dass von seinem Autor die Rede wäre (eben keinesfalls). Und es ist 4. allein die Stimme dieses lyrischen Ichs, die zu hören respektive zu lesen ist. 5. entwerfe das Gedicht eine Eigen-Zeit, die gegen die Alltagszeit und alles, was damit zusammenhängt, gesetzt ist. Das Gedicht vermag daraus zu entheben und Leser darin aufzuheben, was immerhin kein schlechterer Zeitvertreib als anderes ist. Darüber hinaus vermag das Gedicht 6. mehr als nur einen Sinn in den Bann zu ziehen, was Klotz als synästhetischen Vollzug kennzeichnet. Die scharfe Signatur des Gedichts verführt Klotz denn auch dazu, das lyrische Gedicht als klingende Gemme zu kennzeichnen, also als eines jener Schmuckstücke, die gänzlich aus der Mode geraten sind und nur noch als antike Fundstücke Wertschätzung finden.

Das ist ein prätentiöses Bild, eben nicht nur für das Genre, sondern auch für seine heutigen Stand. Aber seis drum, zumal es darauf nicht ankommt.

Allerdings kommt es darauf an, dass Klotz in seinen Thesen radikal von der Textgestalt der Lyrik ausgeht. Kontext, biografische Ableitung, historischer Hintergrund spielen die geringste Rolle, auch wenn Blicke ins Umfeld dabei helfen, Bedeutung besser einzugrenzen. Daraus folgt naheliegend, dass Klotz sich intensiv mit der Form und der Textgestalt auseinandersetzt, was zu der anachronistischen Qualität seiner Studie führt. Was könnte man also besseres über diese mehr als 300 Seiten intensive Lyrikarbeit sagen, als dass sie mit Vergnügen und Gewinn gelesen werden können.

Titelbild

Volker Klotz: Verskunst. Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht?
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011.
313 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783895288005

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