Grenzen überschreitend

Über Tanja Langers Roman „Der Tag ist hell, ich schreibe Dir“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den neuen Roman „Der Tag ist hell, ich schreibe Dir“ von Tanja Langer, kann man zweifellos als Schlüsselroman bezeichnen. Denn der Bankier Julius Turnseck im Roman ist mehr oder weniger unverhohlen der 1989 bei einem Attentat ermordete Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen.

Tanja Langer hat schon mehrere Romane veröffentlicht, ohne jedoch in der allgemeinen Wahrnehmung in die oberste Liga der deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen vorzustoßen. Völlig zu unrecht. Denn sie ist eine aufregende und avancierte Autorin mit Gespür für politisch-gesellschaftliche Umbrüche, die sie immer auch aus privater Sicht zu spiegeln weiß. Das gelang ihr mit dem ausgesprochen bemerkenswerten Buch über den Ibsen-Übersetzer und Hitlerfreund Dietrich Eckart „Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich“ (2002), das allerdings von der Literaturkritik in erstaunlich bornierter Weise abgelehnt wurde. So meinte beispielsweise Martin Halter in der „FAZ“ das geradezu peinlich chauvinistische Resümee ziehen zu müssen: „hier ist der Nazismus das schärfste Aufputschmittel in Mutters Hausapotheke und der Narzißmus das Aspirin einer frustrierten Hausfrau.“ Schriftstellerkollegen wie Daniel Kehlmann lobten diesen Roman dagegen: „Man könnte an diesem Buch einiges aussetzen: Es ist lang, manchmal auch langatmig, und der Leser braucht eine Weile, bis er in der Lage ist, sich in dem erzählerischen Labyrinth aus historischen Fakten und fiktiven Spiegelungen zurechtzufinden. All diese Klippen hätte Tanja Langer vermeiden können, wäre sie dem zur Zeit so verbreiteten Brauch gefolgt, die Erzählhaltung einfach und das Personal überschaubar zu halten, jeden historischen Bezug auszublenden und die Inhalte aus der Lebenswelt junger Partybesucher zu beziehen. Doch diese Schriftstellerin will es weder uns noch sich selbst leicht machen: sie geht das größtmögliche Risiko ein.“ (Literaturen 5/2002, siehe auch literaturkritik.de 6/2002)

2006 erschien der Roman „Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte“, in dem Edvard Munch eine bedeutende Rolle spielt, dem 2008 der Roman „Nächte am Rande der inneren Stadt“ folgte, zwei Romane, die zum Teil das gleiche Personal haben und die Stimmung der 1990er Jahre einfangen.

Langer ist eine vielseitige Autorin, die sich nicht auf den Roman beschränkt, sondern die auch Hörspiele, Theaterstücke, Opernlibretti schreibt, unter anderem 2008 für die Oper „Kleist“, zu der Rainer Rubbert die Musik komponierte. Rechtzeitig zum Kleist-Jahr 2011 kam ihr Roman „Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit – Die letzte Nacht von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist“ heraus, in dem sie Henriette Vogel sozusagen rehabilitiert.

Ihr neuer Roman „Der Tag ist hell, ich schreibe Dir“ bietet auf einer der vielen Ebenen ein Panorama der politischen Situation in den 1980er Jahren: Die Wiedervereinigung spielte noch keine Rolle, aber in der Sowjetunion kam mit dem Machtantritt Michail Gorbatschows einiges in Bewegung. Ihre weibliche Hauptfigur Helen, die gelegentlich als Ich-Erzählerin und Briefschreiberin fungiert, kommt als Abiturientin in Kontakt und pflegt dann eine sehr intensive (Brief-)Freundschaft mit einem Bankier, der sich durchaus von den heute bekannten und auch geschmähten Bankern markant unterscheidet. Bei einem Besuch in seinem Dienstzimmer ganz hoch oben im Frankfurter Bankenviertel sagt dieser Bankier Sätze, die heute geradezu hohnvoll klingen: „Ein Bankier darf nie die Herrschaft über sich selbst und das Geld verlieren. Wenn er es dennoch zulässt, also dass das Geld oder die Macht von ihm Besitz ergreifen, wird er alles verlieren. Beide, das Geld und die Macht haben nur einen Sinn, wenn sie anderen dienen. Sie müssen von einer übergeordneten Idee gelenkt werden.“ Folgerichtig zitiert dieser Bankier bei einer Tagung des Internationalen Währungsfonds 1987 in Washington den mexikanischen Präsidenten, der gesagt habe, dass ein toter Schuldner gar kein Schuldner sei. Zum Entsetzen der anderen Bankvertreter verlangt der Bankier einen Schuldenschnitt für Länder der „Dritten Welt“. Das meint er deswegen verantworten zu können, weil seine Bank, die „Deutsche Aufbau“, ausreichend Rücklagen gebildet hat. Er verweist zur Begründung seines Vorschlags auf die Londoner Schuldenkonferenz 1953, in der dem durch den Krieg geschwächten Deutschland ein Großteil seiner Schulden erlassen wurde: das war die Voraussetzung für das sogenannte Wirtschaftswunder Westdeutschlands. Das klingt heute fast schon als eine Handlungsanleitung für den Umgang mit Griechenland. Denn der Bankier Julius Turneck distanziert sich außerdem klar davon, mit faulen Krediten zu handeln.

Langer erzählt auch in diesem Roman ebenso wenig wie in ihren früheren brav stringent, sondern liebt die Abschweifung und die Multiperspektive. Das bekräftigt sie geradezu, indem sie den Artikel „Abschweifung“ aus dem Grimm‘schen Wörterbuch zitiert, in dem es heißt, die Abschweifung sei eine Form des Denkens. Und doch ist Helen als Ich-Erzählerin, als Briefschreiberin und auch auktorial praktisch immer präsent und man kann ihr fast wie in einem Entwicklungsroman bei ihrem Erwachsenwerden folgen. Denn mit Helen geschieht die Reifung zur erwachsenen Frau aus einer Mischung aus „Erfahrenheit und Unerfahrenheit“ zugleich – so heißt es an einer Stelle des Romans. Das hat sie durchaus mit den weiblichen Erzählerinnen und Hauptfiguren ihrer früheren Romane gemeinsam. Aber eines gibt es im Gegensatz zu den früheren Romanen weniger: die Erzählerin des Romans teilt seltener ihre private Befindlichkeit während des Schreibens mit. Das tut ihrem Werk in dieser sparsamen Form sehr gut, wenngleich es vollkommen überzeugend ist, die Schreibzeit selbst zu thematisieren.

Großen Raum nimmt im Buch die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ein. Denn Julius Turnseck ist Vertreter einer Generation, deren Jugend durch den Nationalsozialismus geprägt ist: „Ich will von deinem Leben etwas verstehen, und deshalb habe ich mich mit Büchern befasst, in denen es um die Eliteschulen der Nationalsozialisten ging.“ schreibt Helen, nachdem sie sich 15 Jahre nach der Ermordung des Bankiers durch Journalistenanfragen gezwungen sieht, sich mit dem väterlichen Freund auseinanderzusetzen, mehr über ihn zu erfahren als er während seiner Lebzeiten erzählen oder erklären konnte. Dabei stößt sie auf die „Ratlosigkeit von uns Nachgeborenen gegenüber der Gleichzeitigkeit der Ereignisse“. Ihre Figur Julius Turnseck, Jahrgang 1930, der gleiche Jahrgang wie der Vater der Erzählerin, kam mit 13 Jahren auf eine Reichschule in Feldafing am Starnberger See, die in gewisser Weise mit den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) vergleichbar ist, jedoch im Unterschied zu diesen durchaus reformpädagogische Konzepte aufgenommen hat. Die Autorin lässt ihre Hauptfigur als Schüler dieser Reichsschule an dem Nachmittag mitten im Krieg nach München zu einer Opernaufführung fahren, an dem Sophie Scholl verhaftet wird. Doch es gibt für den Jungen keine Verbindung zwischen ihm und der Studentin, die in Opposition zum Hitler-Regime steht. Obwohl alle diese Ereignisse zusammengehören und gleichzeitig geschehen.

Die Hauptfigur Helen sagt an einer Stelle: „Ich muss dich erfinden, um dich wieder zu finden.“ Ein riskantes Verfahren – aber es ist auch Zeichen für die Skrupel, die die Autorin mit ihren Figuren hat. So wahrt sie Distanz zwischen einer berichteten Wirklichkeit und der dichterischen Wahrheit. Denn am Schluss des Buchs muss sie „natürlich“ auch auf das gewaltsame Ende der männlichen Hauptfigur kommen. Ihre Romanfigur Julius Turnseck wird ebenso wie der Vorstandschef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen durch ein Attentat ermordet. Damals gab es einen Bekennerbrief der terroristischen Rote Armee Fraktion. Aber es gab und gibt an dieser Version inner- und außerhalb des Romans Zweifel. Die Stasi wurde als Verantwortliche ins Gespräch gebracht oder andere Geheimdienste, da der Bankier durchaus Freinde in Bankenwelt und Politik hatte. Helen schildert ihre Recherchen dazu und merkt, dass sie damit eine Grenze überschreitet. Denn der Roman ist der Versuch, die ungewöhnliche Beziehung zwischen der jungen, politisch links eingestellten Frau und dem älteren mächtigen Bankier zu rekonstruieren. Deshalb kann sie die Frage, wer Turnseck/Herrhausen ermordet hat, nicht auch noch behandeln. Und so heißt es ganz zum Schluss, dass sie die Frage, wer für den Mord verantwortlich ist, im Roman nicht beantworten kann, weswegen sie schließlich aus dem Roman hinausweist in die Wirklichkeit: „Ich reiche den Stab weiter, denn die Suche führt in Bereiche der Wirklichkeit, für die es bessere Agenten gibt als mich.“

Tanja Langer hat mit „Der Tag ist hell, ich schreibe Dir“ einen herausragenden Roman geschrieben, der sowohl faktengesättigt als auch sinnlich und sensibel ist, der sowohl politisch als auch privat ist und der außerdem sowohl anspruchsvoll komponiert als auch höchst spannend zu lesen ist. Ein im besten Sinn aufregendes Buch.

Titelbild

Tanja Langer: Der Tag ist hell, ich schreibe dir.
Buchverlage LangenMüllerHerbig, München 2012.
408 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783784433059

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