Höhlenbewohner treten ans Licht

Christian Kienings und Ulrich Johannes Beils Leuchtschrift zu einer historischen Mediologie: Urszenen des Medialen von Moses zu Caligari

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Medien sind leicht zu erkennen, aber schwer zu beschreiben. An dem Zauberwort der Literatur- und Kulturwissenschaften hängen ganze Forschungsstämme mediengeschichtlicher, medientheoretischer, methodologischer und didaktischer Untersuchungen. Der Zürcher Mediävist Christian Kiening und sein medienwissenschaftlicher Kollege Ulrich Johannes Beil wählen einen Ansatz, der sich an signifikante Konstellationen der Mediengeschichte hält und daraus Ursprungsszenarien des Medialen ableitet. Es geht ihnen nicht um die Entstehung und Entwicklung der Medien, um den historischen Wandel des Bildes von der Welt, das die Medien uns vermitteln, sondern um genau diese Bilder selbst, die an jeweils entscheidenden Wegmarken das Verständnis des Medialen profilieren. So ist schon der „schreibende Gott“ im biblischen Schöpfungsbericht (darunter macht es die Einleitung nicht) ein Urbild des Medialen. Es besteht in der Schöpfung des Unterschiedenen („Himmel“ und „Erde“) und des Unterscheidens (der Dinge von den Zeichen). Damit lenken Kiening und Beil den Blick von der Substantialität des Mediums auf die Struktur und Funktion des Medialen. Was geschieht, damit etwas in einer bestimmten Situation zu einem – folgen- und beziehungsreichen – Medium wird: So lautet die Ausgangsfrage dieses höchst anregenden Buches.

Das ist alles anders als staubtrocken dargestellt. Die Imaginationsgeschichte des Medialen ist ein farbiger Ausschnitt aus einer Mediologie, die Ursprungsbedingungen von Kommunikation und medialen Wissensformationen reflektiert. Wie spannend das sein kann, zeigt zum Beispiel das Kapitel über Lessings „Laokoon“ (1766), einen Gründungstext der historischen Mediologie. Lessing zieht nicht nur in Abwendung vom antiken Vorbild („poema loquens pictura, pictura tacitum poema debet esse“: das Gedicht soll sprechende Malerei, Malerei ein stummes Gedicht sein) eine neue Grenze zwischen Poesie und Malerei. Er vollzieht eine „kopernikanische Wende“ (Inka Mülder-Bach), indem er statt von der mimetischen Annäherung der Sprache an ihren Gegenstand von der Struktur der Signifikanten ausgeht, welche in ein „bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten“ treten müssen. Damit wird das Zeichen-Objekt-Verhältnis umgekehrt. Das Mediale hat eine Aufgabe, und diese Funktion verändert auch das, was vermittelt wird. Vereinfacht gesagt: Welt wird nicht abgebildet, sondern konstruiert. Auf diese Weise nimmt Lessing dem Diktum „ut pictura poesis“ seine „mimetische Versöhnlichkeit“ und dynamisiert den medialen Diskurs über die Künste.

Nicht weniger paradigmatisch werden andere Ursprungszenen des Medialen ausgeleuchtet: etwa die Geschichte von der tuchwebenden Penelope, die etwas Mediales hervorbringt, das sie selbst wieder zerstört, oder den Mythos von Narziß und Echo, in dem die Bilder von Spiegel und Stimme das Mediale erzeugen. Es geht um den Mittler Moses, der die ihm von Gott beschrifteten Gesetzestafeln zertrümmert, und um Paulus, einen Mediologen avant la lettre, der im zweiten Korintherbrief einen Medienwechsel von der auratischen zur pneumatischen Kommunikation beschreibt. Auch hier ist die Funktion des Mediums paradox: Es vermittelt in einer bestimmten medialen Form (Brief) zwischen zwei unterscheidbaren Bereichen und stellt dennoch ein Drittes her, das die ursprüngliche Medialität der Schrift zugleich nutzt und überschreitet. Materialität und Medialität des Mediums der Schrift werden auf diese Weise reflektiert. Mit den Worten Robert Gernhardts: „Paulus schrieb den Irokesen: / Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen.“

Besonders aufschlussreich sind die Schlusskapitel. Sie gelten dem Medium des Films, welches am Ursprung der „reflexiven Moderne“ (Helmuth Kiesel) steht und wie kein anderes das 20. Jahrhundert geprägt hat. So lässt sich Bram Stokers Roman „Dracula“ ohne die filmischen Adaptionen des Vampirstoffes kaum angemessen würdigen. Im Roman fällt der Begriff „Medium“ zweimal, einmal auf den Rosenkranz, sodann auf das Blut bezogen, das ein Medium der Zirkulation wie auch des Austausches ist. Im Film (vor allem bei Francis Ford Coppola, 1992) spielen die modernen audiovisuellen Aufzeichnungsmedien (Fonograf und Film), die den Vampirjägern die Aufspürung Draculas ermöglichen und überhaupt erst dessen erschreckende Faszination belegen, eine entscheidende Rolle. So wie der Vampir durch seinen Biss neue Untote, also Figuren der Medialität, produziert und damit alte Medien reproduziert, so wird das Vampirische selbst zum Medialen, das Latenz in Evidenz verwandelt.

Beil und Kiening zeigen die Festtage des Medialen im Kalender der Mediengeschichte. Auratisierung, Historisierung und Diskreditierungen der Kommunikationsbedingungen sind dabei die entscheidenden Prozesse. Wer wissen will, wie sich der Medienwechsel in Platons Höhlengleichnis abspielt, was spätmittelalterliche Andachtsbilder mit filmischen Großaufnahmen des Gesichts zu tun haben und auf welche Weise im Film der 1920er-Jahre das spiritistische Medium zur Geltung kommt, der findet in diesem Buch reichlich Material.



Titelbild

Christian Kiening / Ulrich Johannes Beil: Urszenen des Medialen. Von Moses zu Caligari.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
366 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311275

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