Sehen, Vergleichen und Denken

Die Neuauflage von August Sanders fotografischem Monumentalwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ im großformatigen Band ersetzt die 2002 erschienene, inzwischen vergriffene siebenbändige Ausgabe

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist ein Klassiker der Fotografiegeschichte. Kein anderer aus seiner Zunft hat ein Werk geschaffen, das seinem in Konzeption, Umfang und Entstehungszeit ähnlich ist. Sanders Intention war, wie er einmal schrieb, „,in absoluter Naturtreue ein Zeitbild unserer Zeit zu geben‘“. Dafür fotografierte er Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen, alte und junge, aus Stadt und Land, in Einzel-, Doppel- und Gruppenporträts.

Die Bilder, die August Sander (1876-1964) für dieses „Kulturwerk in Lichtbildern“ verwendet hat, stammen aus sechs Jahrzehnten, aus den Jahren 1892 bis 1954, und sind in eine so genannte Stammmappe und sieben Bildgruppen aufgeteilt. „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“ lauten die Überschriften der Gruppen, die wiederum in sich vielfach unterteilt sind und aus insgesamt 45 Bildmappen bestehen.

Die Idee zu seinem Unternehmen entwickelte er in den 1920er-Jahren, als er, bereits seit vielen Jahren als Fotograf tätig, in Kontakt kam mit den „Kölner Progessiven“ um die Maler Franz Wilhelm Seiwert (1894-1933) und Heinrich Hoerle (1895-1936). Diese hatten thematische Mappen zusammengestellt, in denen Menschen und Sozialstrukturen jener Epoche in typisierenden Darstellungen erfasst werden sollten.

In seinem 1925/27 entstandenen Konzept für sein „Menschen des 20. Jahrhunderts“ übersetzte Sander diese Vorstellung der „Progessiven“ in die Fotografie und überarbeitete es in den Folgejahren mehrfach, um es den Gegebenheiten der Zeit anzupassen. Der Wunsch, noch zu seinen Lebzeiten eine Veröffentlichung zu erleben, erfüllte sich aber nicht. Zwar erschien 1929 eine Auswahl von 60 seiner Porträts unter dem Titel „Antlitz der Zeit“ und mit einem Vorwort von Alfred Döblin und wurde sehr positiv aufgenommen, doch eine erste „Rekonstruktion“ kam erst 1980, betreut von August Sanders Sohn Gunther, heraus.

Der neue Band folgt der 2002 erschienenen, siebenbändigen Ausgabe, die von einem ein Jahr zuvor veröffentlichten Studienband begleitet wurde. Die großformatige Neuauflage umfasst ebenso 619 Bildmotive, von denen über 180 größtenteils erst 2002 publiziert wurden. Und auch die einleitenden Texte, die jeweils jedem der sieben Bände vorgestellt wurde, sind im vorliegenden Band an der entsprechenden Stelle zu finden.

Ein Unterschied indes besteht, so schreibt Sander-Expertin Gabriele Conrath-Scholl in ihren „Editorischen Vorbemerkungen“, in der verdichteten Form: „Mit der neuen, einbändigen Form geht einher, dass Sanders teilweise sehr konträre Typen der Gesellschaft quasi auf kleinerer Bühne, in engerem visuellen Kontakt wahrgenommen werden, wodurch die Dynamik, die Fragestellungen und Widersprüche der Zeit nochmals komprimierter hervortreten können.“

Sanders „sehr konträre Typen“ gehören inzwischen zu den Klassikern der dokumentarischen Fotografie und sind alle auch als großformatige Aufnahmen in der Neuauflage zu finden: „Der Herr Lehrer“ (1910), die drei „Jungbauern“ (1914), der stämmige „Konditor“ (1928), der „Handlanger“ (1928), „Raoul Hausmann als Tänzer“ (1929), die androgyne, kurzhaarige „Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk“ (1931) oder das „Mädchen im Kirmeswagen“ (1926-1932), das auch auf dem Cover der Ende 2010 erschienenen Neuausgabe zu sehen ist.

Doch darüber hinaus sind auch zahlreiche andere, weniger bekannte Aufnahmen zu entdecken. Von Bauern und Kleinstädtern, Industriellen und Technikern, Intellektuellen und Politikern, Künstlern und fahrenden Leuten sowie zuletzt Behinderten und Verstorbenen. Die Schwarzweiß-Fotos sind hauptsächlich in der Zeit der Weimarer Republik entstanden und geben tatsächlich, wie es Sander 1925 in einem Brief formulierte, einen „,Querschnitt durch die heutige Zeit und unser deutsches Volk‘“.

In den „Krisenjahren der Klassischen Moderne“ (Detlev J. K. Peukert) zeigen sich die Folgen des Ersten Weltkriegs gerade in Deutschland in besonders krasser Form – politische, wirtschaftliche und soziale Instabilität einerseits, eine Blütezeit der Kultur andererseits. Was die „Goldenen Zwanziger“ auszeichnet, ist die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Alles geriet in Fluss. Die bisher geltenden Konventionen verloren an Bedeutung, neue Lebensformen wie die der Angestellten oder der „Neuen Frauen“ entsten. Sander gelingt es, diese Umwälzungen anhand der fotografierten Personen, die für einen bestimmten Typ in der Gesellschaft stehen, auf eine nüchtern-sachliche Art einzufangen.

Zugleich veranschaulicht „Menschen des 20. Jahrhunderts“ quasi durch seine Anlage die Entwicklung Deutschlands von einer rural hin zu einer industriell geprägten Gesellschaft. Die Stammmappe beinhaltet Fotos von Bauern aus dem Westerwald – mit einer Ausnahme – aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. In den folgenden Gruppen sieht man Klein- und Großstädter, linke und demokratische Politiker sowie emanzipierte Frauen, Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Nationalsozialisten und von ihnen Verfolgte, politische Gefangene und Fremdarbeiter. Beschlossen wird der Band mit „letzten Menschen“, in denen beispielsweise Blinde, Kleinwüchsige und Verstorbene zu sehen sind. Das letzte Bild zeigt die Totenmaske von Sanders erstgeborenem Sohn Erich, der 1944, kurz vor Ende seiner zehnjährigen Haftstrafe, als politisch Verfolgter im Gefängnis starb.

Den 619 Aufnahmen vorangestellt ist ein 20-seitiger Essay Gabriele Conrath-Scholls und Susanne Langes, in dem beide genauer auf die Entstehung des Konzepts und die Entwicklung von August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ bis in die 1950er-Jahre eingehen. Der Text liefert Hintergrundinformationen über die verschiedenen künstlerischen Strömungen, die die Arbeit an seinem „Kulturwerk in Lichtbildern“ beeinflusst haben – die Daguerreotypien und realistische Malerei des 19. Jahrhunderts sowie die neusachliche der 1920er-Jahre.

Die Autorinnen beschreiben die langjährige Forschungsarbeit und Rekonstruktion dieses „kulturhistorischen Standardwerks“ (Conrath-Scholl). Wichtig dafür sei das Konzept von 1925/27, die Auswertung des Negativmaterials, der Briefe, Dokumente und die Recherchen zur Entstehungsgeschichte der einzelnen Fotos gewesen. Die Auswahl der Bilder für die Ausgabe von 2002 wie 2010 basiere letztlich „auf damals wie heute bestehenden subjektiven und ästhetischen Entscheidungen der Herausgeber und insbesondere auf der gegebenen Quellenlage“.

August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ lädt den Betrachter ein, die verschiedenen Gesellschaftsgruppen der Weimarer Republik in sehr genauen, sachlichen Aufnahmen, die jede eine eigene Geschichte zu erzählen scheinen, zu betrachten. Es erlaubt durch den langen Zeitraum, den es abdeckt, aber auch einen Vergleich zwischen den Generationen und gibt in der Sprache der Fotografie Aufschluss über die politische, soziale und kulturelle Entwicklung Deutschlands von der Kaiserzeit bis zu den Anfängen der BRD. Die Neuausgabe unterstreicht in ihrer dichten Form diese Intention Sanders zusätzlich und sei daher jedem, der seine kongenialen Aufnahmen intensiv studieren will, nur empfohlen.

Titelbild

August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2010.
807 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783829605007

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