So kaputt wie Deutschland

Rainald Goetz erklärt die Nullerjahre zu Geschichte, versäumt allerdings, aus ihr große Literatur zu machen

Von Juan SolRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juan Sol

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hat es wieder getan. Rainald Goetz liefert mit „Johann Holtrop“ nach fast dreißig Jahren wieder einen echten, einen – wie er sagt – „historischen Roman“. Das Buch ist thematisch angebunden an Goetz’ Untersuchung der Nullerjahre „Schlucht“, zu welcher unter anderem auch die Publikationen „loslabern“ und „elfter september 2010“ gehören.

Der Roman spielt in der Welt der Wirtschaft und erzählt ein Jahrzehnt aus dem Leben des titelgebenden Protagonisten. Johann Holtrop ist mit Anfang 40 bereits gefeierter Vorstandsvorsitzender des börsendotierten Medienunternehmens „Assperg“, das er als Ziehsohn des Patriarchen Bertold Assperg erfolgreich ins 21. Jahrhundert geleitet hat. Alles in allem ein charismatischer, kreativer und rationalistischer Humanist, so würde sich Holtrop selbst am ehesten beschreiben, so will er verstanden werden, als „Genie der unkonventionellen Impulse“. Der Erzähler, genauer genommen Rainald Goetz, hält nicht lange damit vor, dass Holtrops Selbstverständnis kaum Schnittmengen mit der Realität hat. Goetz zeichnet ihn als einen „komplett entscheidungsverrückten, sprunghaften und rücksichtslosen Entscheidungshysteriker“. Er ist maßlos überheblich, ein pseudophilosophischer Dummschwätzer und erklärter Feind der sozialen Marktwirtschaft. Holtrop, das wird schnell klar, ist ein neoliberales Schreckgespenst.

In drei Teilen erzählt der Roman vom Absturz und dem ungebremsten Aufschlagen des einst angesehensten Managers der Bundesrepublik. En passant will Goetz dabei einen Einblick in das vermeintliche Selbstverständnis und das Ethos der Wirtschaftslandschaft in Deutschland gewähren, als eine Art „Analyse der Gesellschaft“, so Goetz in der Vertreterkonferenz im Suhrkamp Verlag. Es sei eine Untersuchung darüber, woher die im Wirtschaftswesen „so sehr beobachtbare Kaputtheit der Gesellschaft“ stammt, wie sich diese konstituiert und über die Unwesen, die es gebärt. Das ist der eigentliche Nukleus, das Ziel des Romans. Nämlich den New-Economy-Geist der späten Neunziger und frühen Nullerjahre („mehr, höher, größer, geiler, schneller“) und den Glaube an unendliches Wachstum zu statuieren. Bedauerlicherweise ist dieses Porträt eines Betriebs in einem viel zu starkem Maße von Goetz’ Verachtung für selbigen gefärbt und dementsprechend ermüdend einseitig.

Für sein Unterfangen führt der Erzähler den Leser hinter die Kulissen der Assperg AG. Geistig schlüpft man in einen edlen Anzug und tritt an der Seite von Holtrop durch die Drehtür des Haupteingangs. Der Leser bekommt einen Einblick in die Büros, die Gänge und Meeting-Räume des Unternehmens, vom Mittagspausengeschwätz bis zu den Vorstandssitzungen. Er verschwindet in der Menge. Diese Leseerfahrung zu generieren, den Eindruck sich durch einem unbekannte Räume wie ein Außerirdischer zu bewegen, gelingt Goetz fast durchweg. Augenblicklich stellt sich ein Gefühl für die Überdimensionierung dieses Riesenkonzerns ein. Man trifft auf eine Unzahl an Figuren, Abteilungen und Subunternehmen, so dass man sich gelegentlich fragt, in welcher Konferenz man sich jetzt eigentlich befindet und wer war noch mal Ahlers? Eindruckvoll simuliert Goetz die unkalkulierbare Eigendynamik eines solchen Kleinststaates, seine Berg- und Talfahrten.

Was bei diesen Besichtigungen eines solchen Staates zu Tage kommt, ist ein abstruses Kabinett von Unmenschen, ein stereotypisches Panorama von Intrigen, Grabenkämpfen, Größenwahn und Gier; nicht ohne Grund klingt in „Assperg AG“ die Entwicklungsstörung „Asperger Syndrom“ an, das erhebliche Schwächen bei sozialen Interaktionen und Kommunikation zur Folge hat. „Der Normalzustand ist die Turbulenz“, sagt der Wettermann, während Holtrop auf seinem Hotelbett eindöst. In diesem Nebensatz am Ende der Tagesschau steckt das Verständnis des Autors von einem Unternehmen als einen sich permanent im Bürgerkrieg befindenden Ort. Das ist die Anlage des Textes, die Analogie, die sich offenbart: Krieg und Wirtschaft. Entsprechend ist dem Buch ein Zitat aus Goetz’ Publikation „Krieg“ vorangestellt. Besonders auffällig ist allerdings die mit Kriegsvokabular gespickt Sprache der Figuren und des Erzählers („vernichten“; „Heerführer“; „Generalstab“; „Invasion“; „Befehl(ston)“; „Bombardement“; „Allianzen“; „Schönhausenoffensive“; „Krieg erklären“; „Rang“). Das Ganze kulminiert schließlich in einem Wahn Holtrops, der Schüsse und Granateinschläge zu hören meint, die Angreifer schon aus dem Wald stürmen sieht und sich – am Ende seiner Karriere – vor einen Zug wirft „und: war tot.“ Diese Grabenkämpfe auf Chefetage sind hoch interessant, weil beeindruckend plastisch, weil spannend. Und so scheint es nur folgerichtig, dass sich der größte Teil des Buches nicht um die Aktivitäten des Konzerns nach Außen dreht – seine Verträge, seine Handelsabkommen –, sondern sein Verhalten nach Innen, den Umgang mit sich selbst.

Auf das Präziseste beschreibt der Erzähler soziale Mechanismen, kommunikative Rituale und Floskeln („Guten Morgen.“„Guten Morgen.“„Guten Morgen.“; „Können wir dann gehen?“ „Ob du kannst, weiß ich nicht.“) innerhalb der Firma; solches Gerede über Nichtigkeiten, der „normale Nulltext“ eben, wird manchmal gar mit einem „usw.“ in absolute Belanglosigkeit gestoßen. Ein Beispiel: „Anschließend folgte ein Gespräch über Kaffeemaschinenkaffee, Espressomaschinen, solche für zuhause, im Büro, in Italien in den dortigen Espressobars, über das berühmte Einstein in Berlin, den Dampfdruck, die Filter, die Reinigung, die Zahl der erzeugten Espresso in Abhängigkeit von dieser Zahl, die Wartung und die Wartungskosten und dann all das Gesagte wieder im losen Reigen von vorn.“

Das sind starke Szenen eines um Normalität bemühten Realismus. Jedoch, so brillant nah der Text an dem ist, was sich in echten Stehkreisen um den Kaffeeautomat abspielen könnte, so trivial ist das Benennen dieser kommunikativen Belanglosigkeiten; Goetz’ Fingerzeig, das Ausstellen der Trivialität wird selbst zur Trivialität. Erst staunt man über die Genauigkeit der Mimesis solcher small talks, um dann ernüchtert feststellen zu müssen, dass damit nichts Weiteres geschieht. Es bleibt beim Fingerzeig.

Damit wären wir bereits beim größten Problem des Romans, der sich insbesondere durch die Erzählstruktur konstituiert. Doch der Reihe nach. Der Erzählgestus des Buches ist überraschend episch und überwalzt den Leser bereits auf der ersten Seite, wie ein pyroklastischer Strom: „Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren – Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzten, da leuchtete einsam, böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, ein Neubau, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren“.

Goetz holt aus wie zu einer großen russischen Erzählung. Ein fast klassisches Textgewebe, teils behäbig und müßig, wie bei den Alten Meistern. Aus gutem Grund. Die Sprachästhetik rührt aus Goetz’ Auffassung der Nullerjahre als „eine unerkennbarkeitsferne Jüngstvergangenheit“. Vor dieser Vorstellung erscheint es nachvollziehbar, dass der Erzähler, wenn er von den Geschehnissen bei der Assperg AG spricht, klingt, als spräche er über die Koalitionskriege. Die epische Erzählweise, mit ihren langen, teils sperrigen Sätzen, welche den oft banalen Inhalt kontrastieren, ist die Literarisierung von Goetz’ Idee der Nullerjahre. Das ist ganz hervorragend und eine fantastische Transkribierung in die Literatur.

Aber: Die sich ständig einschaltenden obsoleten Hasskommentare des Erzählers zerstören dieses prosaische Gewebe, heben ihren Zweck auf. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Interview, das Holtrop einer jungen Journalistin gibt und in dem er sich als Heilsbringer präsentiert und dabei nicht merkt, dass er sich als unverbesserlicher Schwätzer bloßstellt. Das Interview hätte genug Eigenliterarizität, – Holtrops figürliche Konturen sind ohnehin mit dem dicksten Filzstift gezogen –, aber der infantile Erzähler ruiniert diesen literarischen Gehalt der Szene, indem er sie auf das Unnötigste kommentiert: „Das war alles die allerabgedroschensten Platitüden, die Holtrop hier erzählt hatte, überall zusammengelesenes, letztlich nur nachgeplappertes Zeugs.“ Warum? Die Figuren sprechen für sich, der Kommentar, ein im Grunde wunderbares Mittel, dient hier bloß der Bevormundung des Lesers, falls dieser immer noch nicht verstanden hat, dass hier alle „kaputt“, „blind“, „falsch“, „größenwahnsinnig“ und „lächerlich“ sind.

Diese unnötigen Degradierungskommentare plus der ohnehin einseitigen Figuren („Wenningrode, 55 ein lascher Sack von Mensch“; „Sprißler war ein Unsympath und kultivierte den Habitus des Unsympathen, intellektuell, obsessiv, asozial“) schwächen lediglich all die Subtheorien und Subeinblicke – wie dem Unternehmen als ein Ort des andauernden Bürgerkrieges oder der unkontrollierbaren Überdimensionierung eines internationalen Konzerns –, all jene großartig herausgearbeiteten Beobachtungen. Die starken Momente des Romans – und es gibt sie in Mengen – verlieren an Wert, da sie durch das wütige Kommentieren des Erzählers zu einer Trivialität verkommen, serviert auf dem Silbertablett. Wirklich unangenehm wird es, wenn die Kommentare dann auch noch mit der moralistischen Keule daherkommen: „Sie waren oben angekommen, Bankvorstand, sogar im Vorstand der legendären Deutschen Bank, aber sie waren traurig, vom Apparat und der schon so lange laufenden Karriere im Apparat, traurig zusammengefaltete Existenzen. […] Aber wo bleibt das Glück?“ Solche Zitate könnte man zu Hunderten ausfindig machen.

„Am Schluss gibt es eine Frage“, sagt Rainald Goetz bei der Vorstellung des Leseexemplars in Berlin, „was taugt das Buch?“ Der Roman ist immer dann am besten, wenn Goetz den angelegten epischen Strömungen freien Lauf lässt und Kommentare des Erzählers außen vor bleiben. Denn das Sujet und das Bild des gierigen Managers als solches ist unlängst mit identischen Kommentaren, Codes und Urteilen belegt, die quasi a priori mit dem Roman und noch vor dem Aufschlagen der ersten Seite mitgeliefert werden. Mit den Kommentaren läuft Goetz Gefahr, diese vorgefertigten Bilder bloß zu paraphrasieren. Es hätte große Literatur werden können.

Titelbild

Rainald Goetz: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
343 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422816

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