Inkarnation des Widerspruchs

„Pathos und Ironie“ – Marbach feierte den 80. Geburtstag von Karl Heinz Bohrer

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Ein Zauberwort der Marbacher Schillerhöhe lautet seit 2004 „Ideengeschichte“, und zum Selbstverständnis des Deutschen Literaturarchivs gehört es seither, verstärkt auch solche Vor- und Nachlässe zu erwerben, die ideengeschichtlich relevant sind. In den letzten Jahren kamen, teils auf abenteuerliche Weise, Berthold Auerbach, Hans Blumenberg und Reinhard Koselleck ins Haus. Und Karl Heinz Bohrer? Karl Heinz Bohrer ebenfalls.

Er hatte das Haus kaum betreten, da überreichte ihm ein „Geist“ einen handlichen Würfel, in buntes Geschenkpapier gewickelt. Was da wohl drin sein mochte? Bohrer dankte, leicht irritiert, nahm erst einmal den Hut ab, wickelte sich den eleganten Kaschmirschal vom Hals und suchte sich einen Platz.

Wenige Intellektuelle dürften das Nachdenken über die alte und die neue Bundesrepublik, im Konzert der europäischen Nachbarn insgesamt, über die ästhetische, moralische, weltanschauliche Verfasstheit unseres Staates in der Nachkriegszeit so befördert haben wie er; wenige auch dürften die Kunst der Neubestimmung des scheinbar Vertrauten, Abgehakten, Erledigten so gut beherrschen wie Bohrer. Der Literaturwissenschaftler, Publizist, Journalist, geboren am 26. September 1932 in Köln, wurde daher im Deutschen Literaturarchiv Marbach mit einem Symposium geehrt. Die Tagung firmierte als drittes „Forschungstreffen Suhrkamp/Insel“, und das Podium war hochkarätig besetzt.

Bohrer drehte den Würfel in der Hand und beobachtete mürrisch, skeptisch oder konzentriert, wie sich der Saal allmählich füllte. Die Referenten, die Suhrkamp-Stipendiaten, die Gäste, der Geist, alles in allem fünfzig Personen, die da erfahren wollten, ob Herodot über den großen Krieg oder über sein Großes Sprechen sprechen würde: Es ist nicht leicht, gefeiert zu werden.

Als Aufgabenstellung hatte Ulrich Raulff, Leiter des Literaturarchivs und Spiritus rector der neuen Ausrichtung seines Hauses, vorgegeben, es müsse darum gehen, die „Entfaltungsgeschichte eines jungen Geistes“ nachzuzeichnen. Die vierfache Wurzel dieser hervorstechenden Autorschaft sei zureichenden Grundes, Karl Heinz Bohrer eigens zu würdigen: Da sei erstens die Autobiographie („Granatsplitter“), mittels derer sich der Schriftsteller manifestiert habe; da sei zweitens der Literaturwissenschaftler, der seit seiner Dissertation 1961 zur romantischen Schule und Verführung und zum romantischen Faszinosum und Verhängnis gearbeitet habe; da sei drittens der „Merkur“-Herausgeber, der mit Eigenwille, Eigensinn, eigener Regsamkeit dreißig Jahre lang die Geschicke der „Zeitschrift für europäisches Denken“ bestimmt und Impulse für eine leidenschaftlich geführte Debattenkultur geliefert habe; und da sei viertens der Journalist, der Blattmacher, der Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen“, der London-Korrespondent, dessen Invektiven gegen den deutschen Biedersinn sogar ihn, Raulff, als Abonnenten gewonnen hätten.

Karl Heinz Bohrer saß dabei, am Referententisch zwar, aber doch mit gehörigem Abstand zu Podium und Stehpult – und blickte besorgt in die Runde. Er wollte partout kein Namensschild, denn er mochte dies Aufhebens um sich eigentlich nicht, und daher hatte er sich auch neben Paul Michael Lützeler gesetzt, diesen diskreten Herrn, diesen anderen Kenner der Romantik, der von St. Louis aus mit kundigen „Rettungen“ für die moderne Literatur eintritt. Nichts zu befürchten also, keine Übergriffe.

Am Saum des Textes

Den Auftakt machte Jürgen Paul Schwindt, Altphilologe an der Universität Heidelberg. Er sprach über „Apodeixis und Epiphanie: Karl Heinz Bohrer und die Verfassung der Literatur“. Apodeixis bedeutet soviel wie „Beweisführung“, während sich die Epiphanie, die Erscheinung Gottes unter den Menschen der Beweisführung entzieht. Karl Heinz Bohrer sei denn auch eine häretische, wilde, abenteuerliche „Inkarnation des Widerspruchs“. Von Jürgen Paul Schwindt erfuhren wir, dass Karl Heinz Bohrer an einem Buch über den Gott der plötzlichen Erscheinung, den vielnamigen und vielgestaltigen Dionysos schreibt – kaum ist ein Buch fertig und erschienen, sitzt er am „Saum“ des nächsten. Als „Zeigen“, nicht als „Behaupten“ definierte Schwindt das philologische Selbstverständnis Bohrers: es sei Demonstration des zuvor Aufgefundenen, und nicht etwa Offenbarungsrede. Schwindt pries Bohrers Kunst der Eröffnung, die thematischen Setzungen, den subjektiven Zugriff, die unbequemen, sperrigen Sätze. Mit seinem Dionysos-Buch steuere Bohrer auf ein „mythopoetisches Kernstück“ der abendländischen Geschichte zu, das nicht erst seit Nietzsche bestehe.

Bohrer, der „alles affirmierte“, was Jürgen Paul Schwindt sagte, hatte den rätselhaften Würfel mittlerweile beiseite gelegt und stellte sich nun dem zweiten Vortrag: Niels Werber, Literaturwissenschaftler an der Universität Siegen, referierte über „Formkrise und Kulturkritik“ am Beispiel der Popliteratur. Werber zitierte das berühmte Motto der „Mesopotamia“-Anthologie von Herausgeber Christian Kracht: „Irony is over. Bye bye“, das auf einen Songtext der britischen Poplegende „Pulp“ zurückgeht: „Perfection is over, Sheffield is over, the fear is over, guilt is over. / The Bergerac is over, the hangover is over, men are over, women are over. / Cholesterol is over, tapers are over, breakdown is over, irony is over. / Bye bye, bye bye.“

Die Zeit der Granatsplitter war endgültig vorbei

Mit diesen „The day after the revolution“-Lyrics spielte Niels Werber auf den Tagungstitel („Pathos und Ironie“) ebenso an wie auf Bohrers Lesart der Bundesrepublik als dem langweiligsten und hässlichsten Land Europas. Langweilig trotz (?) und hässlich auch (!) wegen des Terrors der Baader-Meinhof-Bande, der späteren Rote Armee Fraktion, und hässlich trotz der „frechen“ Mode („Prada Meinhof“), die das Böse als Pop-Phänomen feiert und den „bewaffneten Kampf“ des Bürgerschrecks zum Kult erhebt: Andreas Baader und Gudrun Ensslin als coole Fashion-Helden in den Farben der Andy-Warhol-Ästhetik, und die „Public Enemy“-Serie von Bernhard Springer als Beispiel, ändern daran nichts, auch wenn sie radikal den Chic der neuen Mitte proben mögen. Pop als Terror begann, als im April 1968 auf der Frankfurter Zeil das Kaufhaus M. Schneider brannte („damit auch wir Vietnam erleben können“), und Pop als Terror endete, als Joachim Helfer, Helmut Krausser und Thomas Meinecke im Jahrtausendforum „Null“ (herausgegeben von Thomas Hettche) auf das „Barbarische“ des Jugoslawienkrieges hinwiesen, und als das Pop-Quintett „Tristesse Royal“ (herausgegeben von Christian Kracht u.a.) für eine neue, distinguierte Debattenkultur warb, die mit der „Schönheit des Arguments“ gegen die blutige Wahrheit der Tat auftreten sollte. Die dort geprägte Zwillingsformel aus „Autonomie“ (vom Zeitgeist) und „Vermittlung“ (im Weltbürgerkrieg) wurde plötzlich Handlungsmaxime von jungen Schriftstellern, die sich zwar nicht – wie weiland Böll, Grass und Lenz – auf Wächterposten begeben, die gleichwohl aber für ihre Gegenwart und ihre Generation sprechen wollten, weil sie weder im Fahrwasser des „Gesinnungsmilieus“ (Stephan Schlak) der Achtundsechziger schwimmen mochten noch in den Schulddebatten Alteuropas befangen waren. Niels Werber konnte mit seinen geflügelten Ohren zeigen, wie wichtig es ist, das „Manifest“ des popkulturellen Quintetts „Tristesse Royal“ als politisches Manifest wahrzunehmen.

Es kam dann eine entscheidende Reaktion aus dem Publikum, nämlich der Dank für diese neue Lesart des „Tristesse Royal“-Bandes, denn von der Literaturkritik sei das Popkulturelle Quintett nur lächerlich gemacht worden, gefolgt von der Frage, gerichtet an den Referenten, weshalb die Redaktion des „Merkur“ in dreißig Jahren, unter Bohrers Leitung, niemals auf diese wichtige Strömung der Popliteratur im Gefolge von Brinkmann, Goetz und Kracht eingegangen sei. Das sei doch ein Versäumnis? Hier wäre der Redaktion des „Merkur“ doch nachgerade eine „Steilvorlage“ für ihr Programm der „ästhetischen Standortbestimmung“ der Republik geliefert worden. Weshalb sie das nicht aufgegriffen habe?

Der Referent gab die Frage an Karl Heinz Bohrer weiter, und es war schön, den Jubilar einmal sprachlos zu sehen. Bohrer war vollkommen perplex, geradezu konsterniert ob dieses „Vorwurfes“, und in einem zunächst noch ungerichteten Appetenzverhalten griff er zum Nächstliegenden, zu dem hübsch verpackten Würfel, der ihm eingangs überreicht worden war: Er wisse die Antwort ebenfalls nicht, aber vielleicht sei hier die Antwort drin zu finden? Er wickelte, genau beobachtet von Paul Michael Lützeler, das Geschenk aus, er setzte zur Antwort an, er stieß auf einen bunt beklebten Karton, in dem ein weiterer Würfel steckte, in buntes Papier geschlagen, und endlich kam – ein Käfer zum Vorschein (gestaltet von Ross de Wayne Campbell). Eine Antwort war das nicht, und auch Bohrer war mit seiner Antwort noch nicht fertig. Die Beantwortung erfolgte in zwei Schritten. Das pragmatische Argument war, dass der Redaktion schon 1984, bereits kurz nach der Übernahme durch Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, klar geworden sei, dass die „ursprüngliche Neigung“, eine „wirkliche Literaturkritik“ zu betreiben, „aufgegeben“ werden musste. Der „Merkur“ war als Monatsmagazin zu langsam, um auf literaturkritische Debatten reagieren zu können, und er musste und wollte überdies „sein eigenes Programm“ umsetzen. Man habe also, so Bohrer, auf „Steilvorlagen“, und seien sie noch so attraktiv gewesen, gar nicht reagieren können. Das sei ihnen unmissverständlich deutlich geworden: „Wir mussten agieren, nicht reagieren.“ Hinzu kam, so Bohrer, „mein Misstrauen gegenüber der Kulturkritik und Gesellschaftskritik“, wie sie damals praktiziert worden sei. Die Folge war eine Art von „Puritanismus“: „Wir mussten unsere eigene Sache betreiben, nichts sonst.“ Das persönliche Argument, in der Pause nachgeschoben, ergab in Bohrers Lesart eine Art von „Narzissmus“: „Diese jungen Leute haben vielleicht genau das gemacht, was ich selbst machen wollte. Sie waren mir zuvorgekommen, jetzt konnte ich ihnen auf gar keinen Fall folgen.“ Ein sympathisches, ein überraschendes, ein willkommenes Eingeständnis: „Sie merken, die Frage hat etwas ausgelöst in mir. Ich bin dankbar für Ihre Intervention. Es war womöglich eine narzisstische Kränkung, die mich hinderte, etwas über diese radikalen Burschen zu machen. – Jetzt haben Sie meine Antwort.“

Ein liberaler, antiautoritärer Subjektivist

Etwas Wichtiges war deutlich geworden zur Geschichte des „Merkur“ und zu Bohrers Selbstverständnis, und daran konnte Lothar Müller mit seinem Referat „Augenblicksemphase. Bohrers Interesse an der Romantik“ mühelos anknüpfen. Mit der Kategorie der „Plötzlichkeit“ („Zum Augenblick des ästhetischen Scheins“) ging es Karl Heinz Bohrer um eine hermeneutische Kategorie, die Lothar Müller als Methode definierte, etwas zum Sprechen zu bringen, das nur durch den schieren Vollzug beschrieben werden kann. Die Beispiele von Hölderlins Sprache des Erhabenen (die „Plötzlichkeit“ der großen Hymnen) über Robert Musils „taghelle Mystik“ bis hin zu Walter Benjamins „prophaner Erleuchtung“ waren schnell zur Hand – sichtbar wurde das unerklärt und unerklärlich Ereignishafte als Darstellungspraxis moderner Literatur. Ein „prophanes Offenbarungsreden“ (Schwindt), das „rein begrifflich“ nicht zu fassen sei.

Es war eine gute Idee der Veranstalter, den Historiker Paul Nolte einzuladen, der seinen Vortrag „Abklärungen eines Anti-Intellektuellen“ nannte, im Untertitel „Karl Heinz Bohrer in der politischen Kulturgeschichte der Bundesrepublik“. Das durch Luhmann noch geläufige Wort „Abklärung“ (denn dessen Antrittsvorlesung in Bielefeld hatte einst den schönen Titel „Abklärung der Aufklärung“ getragen) führte sofort zu einer Situationsbeschreibung der Reformuniversität in den achtziger Jahren, als Nolte Assistent von Hans-Ulrich Wehler war und die Gräben spürte, die nicht nur zwischen den Disziplinen, sondern auch zwischen den einzelnen Lehrstuhlinhabern verliefen. Der Zeitgeschichtler wies auf die amerikanisch-westliche Initialzündung hin, die viele Intellektuelle nach 1945 erfasst hatte, darunter auch seinen akademischen Lehrer Wehler. Anders Bohrer: Dieser sei, wie man in seiner Erzählung „Granatsplitter“ (2012) nachlesen könne, durch eine „intellektuell-fundamentale Nähe zu England“ geprägt worden. Ähnlich wie Ralf Dahrendorf lasse Bohrer die liberale Prägung der Briten, die „Möglichkeit der Gelassenheit“, die „Anerkennung von Tradition“ erkennen, die nichts mit dem „missionarischen Eifer“ der USA-Fraktion zu tun habe. Bohrer sei ein „liberaler, antiautoritärer Subjektivist“, der gemäßigt konservative Haltungen repräsentiere, sich aber vom „älteren deutschen Konservativismus“ à la Carl Schmitt und Ernst Jünger unterscheide. Bei Bohrer manifestierten sich subtilere Beziehungen zum Konservativismus, und die Differenz liege im intellektuellen Habitus. Der Jubilar verweigere sich einer „vordergründigen Politisierung“, er habe „Verstörungen“ in den intellektuellen Diskurs hineingetragen und ein kompliziertes Aufbrechen des Kategoriensystems betrieben: „Statt Fortschritt wählt Bohrer die Verbindung von Mythos und Moderne; statt Entwicklung und Prozessualität heißt es bei ihm Augenblick und Plötzlichkeit; statt von Ankunft spricht er von Abschied.“

Abschließend stellte sich Karl Heinz Bohrer dem Gespräch mit Jan Bürger (Deutsches Literaturarchiv) und Stephan Schlak (Humboldt Universität). Neben der jüngst erschienenen Erzählung „Granatsplitter“ (vgl. die Rezension von Lutz Hagestedt in dieser Ausgabe von literaturkritik.de) ging es um Bohrers Zentralthema einer „Ästhetik des Staates“, um Benjamins „Sürrealismus“-Aufsatz als frühe Anregung für einen Intellektuellen, der von der „Ekstatik der reinen Theoriesprache“ ebenso affiziert war wie vom „Theorie-Enthusiasmus“ der Studenten im neo-marxistischen Zeitalter. „Was war Bielefeld?“ Auch diese Frage kam erneut auf, als Bohrer, für sich selbst überraschend, eingestand, dass mit der Übernahme seiner Professur die Lehrtätigkeit zum eigentlichen Aufgabengebiet geworden sei: „Mein ganzer Ehrgeiz war meine Bielefelder Professur.“

Der Abend klang aus mit einem Vortrag von Jan Philipp Reemtsma: „Wie redet man über Literatur?“ Die ganze Antwort, ebenso lapidar wie kurzweilig: Wie man möchte.

Anmerkung der Redaktion: Copyright der Bilder bei Anika Meier und literaturkritik.de