Doppelte Moral, verlogenes Arrangement

Ein Familienepos von Rafael Chirbes

Von Manuela JahrmärkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuela Jahrmärker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rafael Chirbes ist ein Erzähler, der seinen literarischen Ort kennt, der sein literarisch-ästhetisches wie sein intellektuelles Ziel genau kennt und der die erzählerischen Fäden sicher zu ziehen weiß. Das hat er in Romanen wie "Der lange Marsch" oder "Die schöne Schrift" bewiesen. Sein neuer Roman "La Caída de Madrid", führt den Leser auf eine Lesereise, die ihn mit sich zieht, hinein in eine Welt der Widersprüche, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in eine Welt auch, über der die Last der geschichtlichen Stunde . Ihren eigenen Anteil daran hat Dagmar Ploetz, die vergessen macht, dass es sich um eine Übersetzung handelt.

"Der Fall von Madrid" - gemeint ist der 19. November 1975, der Tag, als Franco stirbt, der Tag, als der Senior der Möbelfabrik Ricart, José Ricart, seinen 75. Geburtstag feiern soll, als die Studenten einen literarischen Marathon zum Zwecke der politischen Solidarisierung beginnen, aber bald von der Polizei daran gehindert werden, als der Untergrundkämpfer Enrique Roda gefangengesetzt wird und in dem berüchtigten Gefängnis Carabanchel erschossen werden soll. Ein Tag, sein Morgen und sein Nachmittag, aufgegliedert in insgesamt 20 Kapitelstationen, als Spiegel für einen synchronen Schnitt durch die Gesellschaft Spaniens und ihre Zeitsituation. Soweit kennt die Darstellung nur ein Minimum an Verlauf - vom Vormittag zum Nachmittag. Diachronie und historische Verlaufsdimension gewinnt die punktuelle Situation in weit stärkerem Maße durch die Erinnerung, in die die Figuren immer wieder versinken, und das über allem lastende und in vielfältigen Nuancen zum Ausdruck gebrachte Gefühl von schon vollzogenen und sich noch weiter vollziehenden großen Veränderungen, für die symbolhaft der Tod Francos steht. Nicht weil hier der Name einer historischen Figur und ein ihr zugehöriges Datum auftauchen, ist dies ein historischer Roman, sondern weil sich die politischen - d. h. die historischen - Verhältnisse tatsächlich in Handeln, Denken und Wünschen der Figuren manifestieren, die historische Situation also nicht in einem öffentlich-abstrakten Raum bleibt.

Chirbes' Anliegen ist es, seine Position in der Geschichte seines Landes zu bestimmen. Es geht um ihn und seine Generation. Dabei aber wählt er nicht etwa die eigene Person als Gegenstand der erzählten Reflexion, vielmehr sind es fiktive Figuren, an denen er unterschiedliche Perspektiven sichtbar machen und Zusammenhänge aufdecken will. Ein Anliegen zugleich, das er in "Der Fall von Madrid" auch explizit formuliert. Literatur benötige als Fundament Geschichte. Aus dieser Einsicht heraus hatte sich der Literaturstudent Quini Ricart, der Schriftsteller werden wollte, dem Fach Geschichte zugewandt, aber bald entdecken müssen, dass auch sie keine Eindeutigkeit bringen kann, dass auch hier viele Wege ohne klare Ziele und ohne eindeutiges Urteil bleiben müssen. Quini - das verdeckte Ego für die Person Chirbes? Immerhin ist das aufgrund des zwischen fiktiver und historisch-realer Gestalt gleichen Studienfaches und der gleichen Bevorzugung der Geschichte nicht ganz undenkbar, sagt ästhetisch allerdings wenig über das Buch aus. Vielmehr ist zu fragen, ob dies lediglich eine für sich stehende, eingestreute Bemerkung ist oder ob und wie der Roman als ganzer diese Aussage rechtfertigt, selbst wenn sie aus dem Mund einer der fiktiven Figuren kommt. Dies ist eine zentrale Frage, die man entsprechend auch an alle ähnlichen allgemeinen, verallgemeinerten Aussagen, typischen Urteile und Vorurteile, an denen der Roman reich ist, richten muss. Denn sie bergen natürlich die Gefahr des Vorwurfs, es seien hier derartige Meinungen bloß versammelt. Doch ist es Chirbes gelungen, sie textimmanent immer wieder als nicht so einfach richtig oder als einseitig zu enttarnen und klarzustellen, dass das Leben nicht nur vielschichtig, sondern auch so widersprüchlich ist, dass es Eindeutigkeit kaum oder gar nicht geben kann.

Dies erreicht Chirbes mit Hilfe eines engen Personennetzes, das einen weiten sozialen Kreis vom meistgefürchteten Beamten der Staatspolizei übFer den mit dem System konformen Fabrikanten bis hin zum Arbeiter und zum Untergrundkämpfer umspannt, eine soziale Anordnung, die in der Tradition des Stammbaums steht, der Zolas "Rougon-Macquart"-Roman-Zyklus als Konstruktions- und Anschauungsmodell zugrundeliegt. Und dass Chirbes um der Aussage willen, die er zu machen hat, Erzähltradition aufgreift und mit ihnen arbeitet, gibt er nicht nur selbst zu, sondern unterscheidet ihn auch in positivem Sinne von der heutigen Modeliteratur. Im Zentrum des Romans steht die Fabrikantenfamilie Ricart, von der drei Generationen auftreten - der Großvater, dessen 75. Geburtstag gefeiert werden soll, sein Sohn als gegenwärtiger Geschäftsinhaber und dessen Frau, sowie deren zwei studierende Söhne. Sieben der zwanzig Kapitel sind im engeren Sinn der Familie Ricart, und zwar bald der einen und bald der anderen Figur gewidmet, aber stets in Erwartung desselben Ereignisses, der bevorstehenden Geburtstagsfeierlichkeit, vor deren Beginn der Roman jedoch zu Ende geht. Dieser gleichsam virtuelle Mittelpunkt bewirkt Offenheit als dem ästhetisch entscheidenden Merkmal des Ganzen, bewirkt, dass die anderen Kapitel Eigengewicht erhalten, auch wenn die Figuren, auf die jeweils das Augenmerk gerichtet wird, oft über vielfache Fäden mit der Kernfamilie verbunden sind. So steht die Fabrikantenfamilie außer für die Tradition für die sozial hohe Schicht ein, die über den Freundeskreis Verbindungen zum Polizeikommissar Arroyo und damit zur Staatspolizei hat. Über den Sohn Quini öffnet sich der Weg zur Universität und damit zu Professor Bartos und zum Intellektuellenmilieu, in dem Figuren wiederum sozial ganz unterschiedlicher Herkunft, aber gleicher Denkungsart aufeinander treffen; über das Dienstmädchen Lurditas ergibt sich ein Faden zum Arbeiter in der Metro, der Bomben baut und legt und im Untergrund tätig ist; und durch Olga, die Frau des Hauses, die eine Kunststiftung aufbaut, sind Verbindungen auch zur Künstlerwelt entstanden, hier der Frau des Professors. Die Themen, die angesprochen werden, betreffen Religion und Kirche, Sprache und Macht, Kunst und Politik bzw. politische Haltungen, letzteres das zentrale Thema schlechthin.

Wenn mittels der Kernfamilie Ricart bereits drei Generationen und deren jeweilige Ansichten dargestellt werden können und der Roman so trotz der Konzentration auf einen gegebenen Zeitpunkt, den 19. November 1975, eine diachrone Bewegung erhält, so kommt als zweites Mittel, die Zeit in ihrem Verlauf einzufangen, die Technik der Erinnerung, meist in Form des inneren Monologes, hinzu und hier ist zumindest die Frage angebracht, ob Chirbes da nicht allzuhäufig die immer gleiche Technik anwendet. Und ein weiteres kritisches Fragezeichen sei immerhin erlaubt: Obgleich die Technik, je Kapitel eine andere soziale Gruppe zu beleuchten

Ansichten differenziert Chirbe, indem er sie im Dialog der Figuren austragen lässt.

Die Ehe wird als zweifelhaftes, zum Teil verlogenes Arrangement dargestellt, die dort gut geht, wo sich beide nicht wirklich im Klaren über sich selbst sind, und einen schönen Schein nach außen tragen. Das mag eine der möglichen Sichtweisen sein, der Chirbes jedoch nicht in simpler Idealisierung die Liebesbeziehungen der einfachen Leute gegenüberstellt. Dort ,besitzt' man sich zwar nicht - weswegen Lucio seine Geliebte Lurditas denn auch ,Genossin' nennt -, aber man gehört auch kaum zueinander, weiß nicht einmal, was der andere arbeitet. Das gilt für Lurditas und Lucio ebenso wie für Carmen und den Gefängniswärter Guillermo. Eine andere Widersprüchlichkeit ergibt sich aus der Ehe des Geschichtsprofessors Bartos mit der Malerin Ada Dutruel, die zwar Zusammenhalt kennt und beiderseitige Entfaltungsmöglichkeit bietet: aber, so muss der Leser aus dem Roman lernen, nicht frei ist von deutlichen immanenten Widersprüchen, vor denen gerade diese Vertreter der Intellektuellen offenbar um so fester die Augen verschließen. Professor Bartos versucht sich nicht nur der Verantwortung für aufrührerische Treffen zu entziehen, indem er sein Zimmer in der Universität dafür zur Verfügung stellt, nicht aber persönlich daran teilnimmt. Auch in seinem Haushalt gilt offenbar eine Art doppelter Moral (wenn man nicht resignierend sagen will, anders ließe es sich in einer Diktatur nicht gut leben). Denn seine Frau, gleichfalls fortschrittlichem Denken verpflichtet, hat sich teilweise zurückgenommen, wenn es denn um ihren Vorteil gegangen ist: Sie arbeitet mit staatlichen Galerien zusammen, also Galerien des politischen Establishments. Wie hier keine Eindeutigkeit, so auch nicht im Hause des Fabrikanten, für dessen Gemäldestiftung Olga eben bei dieser Künstlerin einkauft. So dass also der Fabrikant, für den ein Mangel an Realität in der Malerei schon eo ipso ein beunruhigendes Moment darstellt, modernste Kunst kauft, ohne zu merken, dass diese Kunst gegen ihn revoltiert.

Eindeutigkeit? Sie gibt es nicht. Auch kaum die Eindeutigkeit für eine Person. Das ist ein thematischer Faden, der gleich zu Beginn exponiert wird. Denn mit zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg, so erlebt es der 75-jährige Jubilar, haben die Unsicherheit und die Gefahr eines Bankrotts gleichermaßen zugenommen. Und in einem der letzten Kapitel wird dies nochmals explizit an der Figur Quini, dem Sohn aus Fabrikantenhause, der sich kommunistischen Ideen verschreibt: »Nichts sein, nichts sein wollen«, ist da sein Ausweg bzw. seine Ausflucht. Eine Familiengeschichte als Zeitdokument, die - anders als die Vorläufer, an die Chirbes erzählerisch anknüpft -, eine geschichtspessimistische Sicht vermittelt und generell deutlich macht: der Geschichtsroman ist nur als vielgleisiges Stimmengewirr möglich, in der der einzelnen Stimme immer nur ein Mehr oder Weniger an Berechtigung zusteht.

Titelbild

Rafael Chirbes: Der Fall von Madrid.
Verlag Antje Kunstmann, München 2000.
301 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3888972434

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