Zunehmende Eskalation

Über Carlo Gentiles Studie „Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg: Italien 1943-1945“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grundlage dieses Buches ist Carlo Gentiles Dissertation von 2008, die sich mit den deutschen Kriegsverbrechen in Italien beschäftigte und die überarbeitet und ergänzt wurde. Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Martin-Buber-Institut für Judaistik an der Universität Köln, Mitglied der deutsch-italienischen Historikerkommission und trat in zahlreichen Kriegsverbrecherprozessen als Sachverständiger auf.

Die Geschichte der deutschen Kriegsverbrechen in Italien ist, außer durch einige Prozesse, kaum so in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit gedrungen, wie die Verbrechen der Wehrmacht und der SS im Osten Europas. Gentile geht chronologisch vor und zeigt den Zusammenhang zwischen dem Waffenstillstand Italiens und den Alliierten im September 1943 und der daraufhin erfolgten Kriegserklärung Deutschlands an Italien sowie der Besetzung Italiens durch die deutschen Truppen und die Waffen-SS, dem allmählich beginnenden Widerstand gegen die Besetzung und der Entwicklung des Partisanenkrieges.

Gentile unterscheidet vier Phasen der Besatzung und der militärischen Auseinandersetzungen. Die erste Phase setzte er vom Frühherbst 1943 bis zur Jahreswende 1943/44 an, hier ging es um die Sicherung beziehungsweise den Ausbau der Besatzung von Nord- und Mittelitalien sowie den militärischen Rückzug aus Süditalien. Die zweite Phase im Frühjahr 1944 war geprägt von Befriedungsversuchen durch Amnestieversprechen. Die dritte Phase war bestimmt von wechselnden Kampfhandlungen an der Front und zunehmender Eskalation des Partisanenkrieges im Hinterland.

Die vierte und letzte Phase im Herbst und Winter 1944 zeichnete sich durch verstärkte militärische Maßnahmen der Widerstandsbewegung und dem Aufstand der Bevölkerung bei Kriegsende aus. Wie Gentile an zahlreichen Beispielen aufzeigt, waren noch zu Beginn der Besatzung die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Wehrmachts- und SS-Führung darüber, wer die dominierende Rolle in Italien spielen sollte, bestimmend, die dann im Verlauf der Entwicklung des Krieges kaum noch relevant waren. Unmittelbar nach der Kriegserklärung und der überraschend unproblematischen Entwaffnung von großen Teilen der italienischen Armee, wurden sofort viele italienische Soldaten als Arbeitskräfte nach Deutschland verschleppt. Insgesamt kann man von Hunderttausenden von verschleppten Soldaten sprechen, die dann zu Arbeitssklaven in Deutschland degradiert wurden.

Dies hatte zur Folge, dass sich viele Italiener in den Untergrund absetzten und sich zum Teil sogar den Partisanen anschlossen. Daneben führten die zunehmende Brutalisierung des Krieges und der Ausbeutung beziehungsweise Ausplünderung der Bevölkerung zu einer weiteren Eskalation und zunehmendem Widerstand der Bevölkerung. Dies war vor allem in Süditalien der Fall, rund um die Gegend südlich von Rom und um Neapel, aber auch in anderen Gebieten kam es zu Exzessen.

Beispielhaft seien die Massaker der deutschen Besatzer in den italienischen Ortschaften Sant’ Anna di Stazzema, Civitella in Val di Chiana und Marzabotto erwähnt, auf die Gentile auch ausführlich eingeht. Das zunehmend brutale Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung nach vermeintlichen oder tatsächlichen Angriffen auf deutsche Soldaten mit anschließenden Geiselerschießungen, Erschießungen von Unschuldigen, darunter auch Frauen und Kinder sowie die Vergewaltigungen führten zu einem deutlichen Anwachsen des Widerstandes der Bevölkerung.

Aber nicht alle Italiener stellten sich gegen die Deutschen. So unterstützen einige faschistische Armeeführer mit ihren Truppen die Deutschen in ihrem Kampf gegen die Alliierten und die Partisanen, weil sie eine kommunistische Machtübernahme befürchteten. Auch die Maßnahme der deutschen Armee, die Kampfgebiete von der italienischen Bevölkerung zu räumen, führte zu weiteren Gräueltaten.

Da sich viele Italiener weigerten, die Gebiete zu verlassen, aus Angst nach Deutschland verschleppt zu werden oder aus Angst vor der Zerstörung ihrer Häuser und Gehöfte, gingen Teile der deutschen Armee gegen die Verbliebenen vor und liquidierten ganze Dörfer oder kleine Anwesen. Männer, Frauen und Kinder wurden erschossen, ihre Körper liegengelassen oder in Massengräbern verscharrt. Da dieses Vorgehen in der Verantwortung der militärischen oder der SS-Führer lag, konnte es vorkommen, dass ein Gehöft liquidiert wurde, jedoch ein anderes Gehöft, nur wenige hundert Meter entfernt, dagegen verschont wurde. Bei diesem brutalen Gewalteinsätzen taten sich besonders die Einheiten der SS-Division „Leibstandarte Adolf Hitler“ und der Panzerdivision „Hermann Göring“ hervor.

Die These, dass ein Zusammenhang zwischen der Partisanentätigkeit und der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung bestand, ist durchaus nachvollziehbar und wird durch neue Quellefunde bestätigt, allerdings vermag sie nicht die starke Eskalation der Gewalt bereits im Herbst 1943 in Süditalien zu erklären. Ebensowenig vermag sie die bereits erwähnten starken Unterschiede im Verhalten der deutschen Einheiten gegen die gesamte Bevölkerung zu begründen. Gentile erläutert, dass die militärische Krise und Angst vor Anschlägen die Brutalität schlüssiger erklären können als ideologische Motive, wie etwa die Empörung über den italienischen „Verrat“ oder antisemitische Haltungen der Truppen.

Auch die oft zitierte „Osterfahrung“ von Einheiten und Offizieren vermag sicherlich einen Teil der Brutalität zu erklären, hier wäre als Beispiel die 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ zu nennen, aber auch eingesetzte Verbände ohne Osterfahrung, wie die Division „Hermann Göring“ oder die 15. Panzergrenadierdivision, gingen mit äußerster Brutalität rücksichtslos gegen die Zivilbevölkerung vor.

So wurden in dieser Zeit zwischen Herbst 1943 und Ende 1944 über 70.000 Menschen getötet, darunter ungefähr 10.000 Zivilisten, vor allem auch an Kampfhandlungen unbeteiligte Männer, Frauen und Kinder. In diesem Zusammenhang mit den Erklärungsgründen für die Brutalität der Kampfführung kommt Gentile zu einem überraschenden Ergebnis in der weiteren Täterforschung. So schreibt er: „Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der Gewalt gegen Zivilisten war das Alter der eingesetzten Soldaten.“

So habe man die Gruppe der jüngeren Kriegsfreiwilligen bisher in der Täterforschung kaum beachtet, aber es lässt sich nachweisen, dass Truppen mit vielen jungen Soldaten besonders häufig an Übergriffen beteiligt waren, zumal sich zwischen 1943 und 1945 ein Großteil der Kampfsoldaten der Waffen-SS aus diesen jungen Kriegsfreiwilligen zusammensetzte. Man kann nur fassungslos diese unzähligen Details und den Umfang der Gräueltaten durch die deutschen Truppen in Italien zur Kenntnis nehmen und hoffen, dass sich dies nie wiederholen wird.

Zwar gab es schon vorher einige Bücher, die über die deutschen Kriegsverbrechen berichtet haben, aber in dieser detaillierten Darstellung und Ursachenforschung ist dieses Buch einzigartig. Gerade vor diesem Hintergrund der deutschen Verbrechen in Italien, die zum großen Teil ungesühnt geblieben sind, kann man durchaus davon sprechen, dass Deutschland Italien noch etwas schuldet und man das Land in seinem Bemühen um die Bewältigung der Krise in Italien doch großzügig unterstützen sollte. Dieses Buch ist allen politisch Interessierten nur zu empfehlen, auch gerade was die heutige Debatte um Europa und den Wert der politischen Gemeinschaft betrifft.

Titelbild

Carlo Gentile: Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg Italien 1943-1945.
Krieg in der Geschichte Band 65.
Schöningh Verlag, Paderborn 2010.
466 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783506765208

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