Die Autobiographie und die Sprachlichkeit des Gedächtnisses

Martina Wagner-Egelhaaf über "Autobiographie"

Von Eva KormannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Kormann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten zwanzig Jahren ist das Interesse von Literaturwissenschaftler, Sozialhistorikern und Anthropologen an autobiographischen Schriften sprunghaft angestiegen und hat zu einer kaum noch überschaubaren Zahl von Aufsätzen, Sammelbänden und Monographien geführt. Das bis in die siebziger Jahre dominante Bild der Autobiographie als geschlossener Selbstdarstellung eines autonomen Subjekts mit einer Prototypen-Reihe Augustinus-Rousseau-Goethe wird seit den achtziger Jahren aufgelöst, die Verschiedenartigkeit fällt in den Blick, der Einfluss von Schicht, Kultur und Geschlecht wird herausgearbeitet. Unter dem Zeichen der "linguistischen Wende" wird die Autobiographie und ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit neu diskutiert, und im Zeichen der These vom "Verschwinden des Subjekts" wird die Geschichte der Autobiographik umgeschrieben. Ein Forschungsüberblick, der alle autobiographietheoretischen und -geschichtlichen Publikationen berücksichtigen wollte, würde ohne Schwierigkeiten die Monumentalität der Autobiographiegeschichte Georg Mischs erreichen.

Martina Wagner-Egelhaafs Band der Sammlung Metzler reagiert auf das Bedürfnis, sich zügig einen Einblick in die Gattungsdiskussion zu verschaffen. Nachdem der einflussreiche "Wege der Forschung"-Band Günter Niggls von 1989 vor kurzem eine - nur wenig bearbeitete und die neueren Strömungen daher kaum streifende - Neuauflage erhalten hat, sind Einführungen in die Autobiographietheorie und -geschichte, die die neueren Theoriebeiträge berücksichtigen und die sich etwa auch als Grundlage von Universitätsseminaren nutzen lassen, ein Desiderat.

Wagner-Egelhaaf kann sich allerdings nicht entscheiden, ob sie eine Darstellung der bisherigen Theorien geben oder ein eigenes Konzept der Gattung in den Vordergrund stellen will. Sie beginnt mit der Diskussion einiger grundlegender erzähltheoretischer Voraussetzungen der Autobiographie und geht dann zu einem systematischen Forschungsbericht über die verschiedenen Autobiographiekonzepte über, Konzepte von den Anfängen bei Dilthey und Misch bis zu Arbeiten der neuziger Jahre, von denen die meisten bei ihr berücksichtigten auf Derridas Dekonstruktionen des Autobiographischen fußen. Auch ältere Konzepte filtert sie und dreht sie so, dass sie zu Vorläufern einer Autobiographiekonzeption geraten, die eine Sprachlichkeit des autobiographischen Gedächtnisses betont. Pascal und Shumaker werden dazu aus ihrer Verankerung im Kontext neoklassizistischer Kunsttheorien der fünfziger Jahre herausgerissen und zu Wegbereitern der Dekonstruktion stilisiert. Problematischer ist allerdings, dass sie die Ende der neunziger Jahre vorwiegend im angloamerikanischen Raum entstandenen Neuansätze einer Gattungsdiskussion ignoriert, die die Autobiographie nicht mehr als die Königsgattung des sich als autonom verstehenden Subjekts betrachten, sondern die Relationalität des Autobiographischen betonen. Als Grundfrage der Autobiographen akzeptieren diese Ansätze nicht mehr ein "Wer bin ich?", sondern ein "Wohin gehöre ich?"

Im Anschluss folgt ein Schnellspurt durch die Geschichte des Autobiographischen - von altägyptischen Grabinschriften und griechischen Apologien über die Schriften mittelalterlicher Mystikern bis hin zur Autobiogaphik des 20. Jahrhunderts, das für sie "Im Zeichen der Sprache" steht. Bis zur Darstellung über das 17. und 18. Jahrhundert liefert sie dabei kaum mehr als eine - knappe - Zusammenfassung Mischs mit gelegentlichen Einstreuungen neuerer Forschungsergebnisse, die allerdings in ihrer Repräsentativität kaum durchschaubar sind. So steht bei ihr - wie bei älteren Arbeiten zur Gattungsgeschichte - Seuses Vita im Mittelpunkt der Mystiker-Autobiographik. Die Frage nach der Autorschaft dieser Vita, die Frage also, ob dieser Text eher eine Autobiographie Heinrich Seuses oder eine Biographie durch Elsbeth Stagel ist oder eine - zeitspezifische - andere Form des kollektiven lebensgeschichtlichen Schreibens, gerät bei ihr zur Kuriosität einer überholten Forschungsperspektive. Wagner-Egelhaaf deutet die Bemerkungen in der Vita zur kollektiven Autorschaft als "verklausulierte Darstellung einer sich offenbar aus christlicher Bescheidenheit und/oder aus mangelndem auktorialen Selbstbewusstsein nicht zu sich selbst bekennenden Autorschaft". Worauf diese Vermutung gründet, wo die neuere Seuse-Stagelforschung diese These vertritt, verschweigt Wagner-Egelhaaf.

Zur Autobiographik des 17. Jahrhunderts vervielfältigt dieser Band unverdrossen die Mahrholzsche Verfallsthese - trotz des klugen Plädoyers für die "Relativität und den heuristischen Charakter von Gattungsbestimmungen", das die Autorin an den Anfang ihrer Überlegungen stellt:

"Indessen ging mit der Errichtung absolutistischer Staatsformen die Bedeutung des städtischen Groß- und Handelsbürgertums und damit offensichtlich auch die autobiographische Produktion zurück. Neumann spricht daher von einem ,Moratorium' in der Entwicklung der Autobiographie in Deutschland von etwa einem Jahrhundert."

Was Wagner-Egelhaaf hier nicht mitteilt, ist, dass Neumann sich für die Behauptung eines solchen "Moratoriums" ungeprüft auf Mahrholz' Studie von 1919 stützt. Wagner-Egelhaaf nimmt die neueren Beschreibungsprojekte zur Autobiographik des 17. Jahrhunderts in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland nicht zur Kenntnis. Nicht zufällig fehlen die Namen von Krusenstjern, Tersch und von Greyerz in ihrem Literaturverzeichnis. Ihre Darstellung der frühpietistischen Autobiographik ist mit Vorsicht zu genießen: ihre Kurzbeschreibung der Autobiographie Johanna Eleonora Petersens ist vergröbernd und das Selbstbewusstsein Petersens überzeichnend. An anderer Stelle notiert sie, dass es im englischen Raum "starke pietistische Strömungen" gegeben habe, und ignoriert somit, dass die breite englische Bewegung, die den deutschen Pietismus beeinflusst hat, der Puritanismus ist. Und wenn sie die Stereotypie der reitzschen Lebensläufe betont, missachtet sie damit Schraders umfangreiche Forschungsarbeiten zur reitzschen Sammlung von Exempel(auto)biographien.

Wesentlich überzeugender sind Wagner-Egelhaafs Analysen gerade der Autobiographik des frühen 20. Jahrhunderts. Wenn sie allerdings mit einer Deutung der Klüger-Autobiographie "weiter leben" ihren Band abschließt, reduziert sie aus der eigenen sprachzentrierten Perspektive heraus dieses vielschichtige Werk ganz erheblich:

"Klügers Buch macht deutlich, dass die Autobiographie am Ende des 20. Jahrhunderts jenseits einer Dialektik von Sprache und Leben, Dichtung und Wahrheit zu denken ist. Das als Bedingung ihrer selbst anerkannte Wissen um die Sprachlichkeit aller Realität verleiht der sprachlichen Setzung des autobiographischen Ichs eine neue Verbindlichkeit."

Diese Behauptung der Sprachlichkeit aller Realität oder auch der Sprachlichkeit des autobiographischen Gedächtnisses liegt Wagner-Egelhaafs Gattungskonzeption ebenso zugrunde wie ihre Ablehnung der Referentialität der Gattung, ohne dass sie explizit formuliert, was sie darunter verstehen will, wie weit die Behauptung der "Sprachlichkeit" geht. Bezieht sie radikalkonstruktivistische Positionen oder formuliert sie - im Einklang mit aktuellen sozialpsychologischen Forschungen etwa Jerome Bruners - die Einsicht in eine Unhintergehbarkeit der Konstruktion beim menschlichen Wahrnehmen, Reflektieren und Erinnern von Realität? Diese Unhintergehbarkeit der Konstruktion würde sehr wohl die Unterscheidung zwischen referentiellen und nichtreferentiellen Texten, die die Abgrenzung einer Gattung "Autobiographie" überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt, möglich machen. Doch um tragfähige Gattungskonzepte zu entwickeln, die Texte verschiedener Epochen, Schichten, Kulturen und Geschlechter umfassen können und beschreibbar machen, müsste dieser Band auf ein Jonglieren mit modischen Begriffen, die bewusst in der Schwebe gehalten werden, verzichten.

Titelbild

Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
200 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3476103234

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