Der junge Mann, das Meer und die Frauen

Jochen Jungs Geschichte „Wolkenherz“ erzählt von einer Flucht in den Norden

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonathan ist auf der Flucht. Mitten während der Beerdigung seiner eigenen Mutter ist er einfach abgehauen und findet sich nun fast wider Willen in deren Heimatsdorf wieder, einem winzigen Ort irgendwo am Meer. Zuflucht findet er in einem Haus, das bewohnt wird von drei rätselhaften Frauen verschiedenen Alters. Irgendwie scheinen diese drei Frauen und Jonathan miteinander verbunden zu sein. Außerdem spielen das Meer, die Möwen und die Wolken, in denen Jonathan liest wie in einem Buch, eine wichtige Rolle für den jungen Mann. Aber was das alles zu bedeuten hat und wovor Jonathan eigentlich wegläuft, das kann er selbst nicht ergründen.

Jochen Jung hat mit „Wolkenherz“ ein leises Buch geschrieben, das sich weder für die Bestsellerlisten noch zum Lesen in der U-Bahn eignen dürfte. Nur gut 140 Seiten stark verlangt es dem Leser umso mehr Konzentration ab durch seine sich eher langsam entfaltende Bildsprache. Die Handlung, sofern man den Inhalt des Buches an einer solchen messen will, steht im Hintergrund von dem Entwurf einer beinah traumähnlichen Szenerie. Das kleine Dorf am Meer, der Schauplatz der Geschichte, könnte überall unter einem norddeutschen Wolkenhimmel liegen. Oder eben auch nirgends, so weit wie es abseits der modernen Zivilisation vor sich hin zu träumen scheint.

Alle hier lebenden Personen, die für Jonathans Geschichte eine Rolle spielen, sind Frauen. Selbst Plato, ein riesiger Neufundländer in Besitz von Jonathans Gastgeberinnen, ist trotz ihres Namens eine Hündin. Da lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass Jungs Protagonist hier immer wieder mit dem symbolisch Weiblichen in allen möglichen Erscheinungen konfrontiert werden soll. Im Mittelpunkt steht zwischen all diesen Damen die Figur der Johanna (in der Geschichte auch mythisch als die „Graue“ bezeichnet). Sie agiert nicht nur als alternde Verführerin, die Jonathan fast wie eine Circe in ihr Haus lockt, sie ist gleichzeitig das Spiegelbild der verstorbenen Mutter mit der sie den Vornamen teilt. Sie erscheint aber auch als fürsorgliche Tochter einer gelähmten alten Mutter und vor allem als Hausherrin, als die selbstständige Vorsteherin des Haushalts. Hinzu kommt, dass sie so riecht wie die Meeresfische und dass sie das Meer auch in ihren grauen Augen und dem grauen Haar zu tragen scheint. Selbst das Meer ist eine Frau, scheint die Geschichte dem Leser also zu suggerieren.

Jonathan, der von Mutter und Freundin verlassen wurde, trifft hier endlich wieder auf das andere Geschlecht in all seinen Facetten. Auch wenn vieles ungeklärt bleibt zwischen ihm und den Frauen, zuletzt kann er doch in seine eigene Welt zurückkehren.

Wie Jochen Jung Jonathans Geschichte erzählt, das ist mal wie ein Märchen, mal rätselhaft und mal mit subtilem Humor. Zudem spielt der Autor zuweilen mit den Regeln der literarischen Gattungen, gebraucht Bilder, die sonst eher in der Lyrik zu erwarten wären oder schmuggelt unter seine Kapitel ganze Monologe aus der Sicht seiner Figuren, die ebenso gut einem Theatertext wie einer Erzählung entstammen könnten. Diese Vielseitigkeit und der unaufdringlich liebenswürdige Erzählton machen „Wolkenherz“ zu einer lesenswerten, manchmal überraschenden und komischen Geschichte.

Titelbild

Jochen Jung: Wolkenherz. Eine Geschichte.
Haymon Verlag, Innsbruck 2012.
140 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783852187617

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