Die Lizenz zum Experiment

Joachim Rickes hat eine Studie über „Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur“ verfasst

Von Jerker SpitsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jerker Spits

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Romane als große Träume, in denen alles möglich ist“, so bezeichnete Daniel Kehlmann den Einfluss der lateinamerikanischen Literatur auf sein Werk. Wiederholt hat Kehlmann ein Plädoyer für Literatur gehalten, die wie der lateinamerikanische realismo magico Grenzen zwischen Wachen und Traum durchlässig macht. „I have written a Latin American novel about Germans and German classicism“, sagte der Autor 2006 dem „Guardian“ über seinen größten Erfolg „Die Vermessung der Welt“.

Diesem Einfluss ist der Berliner Germanist Joachim Rickes in seiner Studie „Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur“ nachgegangen. Der schmale (132 Seiten) Band geht zurück auf eine gleichnamige Vorlesung 2011 am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Von den frühen Zauberkünsten in „Beerholms Vorstellung“ bis zum sechsten Roman „Ruhm“ versucht Ricke, die Frage zu beantworten, welche Autoren Kehlmann inspiriert haben könnten. Das macht er vor allem durch close reading.

Rickes macht deutlich, dass die Parallelen zwischen Kehlmanns Prosa und der lateinamerikanischen Literatur auf der Hand liegen. Bei Julio Cortázar wie Kehlmann geht es um das Verhältnis von dargestellter Realität und Fiktionalisierung, um die Ungewissheit darüber, was Wirklichkeit und was Fiktion ist. Überzeugend arbeitet Rickes die sogenannten „Spiegelszenen“ heraus, die identische oder seitenverkehrte Wiederholung einer Personen-, Handlungs- oder Gesprächskonstellation, die sowohl bei Borges als auch bei Kehlmann auftreten.

Wiederholt hat Kehlmann gegen einen vermeintlich humorlosen Realismus in der deutschen Nachkriegsliteratur agiert. Die lateinamerikanische Literatur scheint ihm die Lizenz zum Experiment gegeben zu haben und hat zum Erfolg seiner Bücher beigetragen. Es sind kunstvoll arrangierte Erzählungen, die mit einer Verunsicherung des Lesers enden. „Der Text insgesamt ist konsequent nach dem Prinzip konstruiert, dass jede der beiden Seiten immer neue Belege für ihre Sicht der Dinge finden kann“. Diese „doppelte Lesbarkeit“ zeigt sich deutlich in „Mahlers Zeit“.

Bereits Markus Gasser hat aufschlussreiche Hinweise auf die lateinamerikanischen Vorbilder gegeben, zum Beispiel die von Vargas Llosa übernommene Technik, Lebensschicksale in Kapiteln abwechselnd nebeneinander herlaufen zu lassen, bis sie sich kreuzen. Und dass es sich bei den vier Ruderern aus „Die Vermessung der Welt“ – Carlos, Gabriel, Mario und Julio – um die bedeutendsten Erzähler der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur – Carlos Fuentes, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa und Julio Cortázar – handelt, findet sich bereits bei Gasser wie in vielen Rezensionen.

Umgekehrt bleibt einiges unbewiesen: Warum sollten die Möwen in „Mahlers Zeit“ David Mahler selbst repräsentieren und die Libelle ein „eindeutiges Symbol seiner früh ums Leben gekommenen Schwester sein“? Und inwiefern ist das Spiegel-Motiv typisch für die lateinamerikanische Literatur, tritt sie doch auch bei Romantikern wie E.T.A. Hoffmann auf.

Wenn Rickes schreibt, dass „die vielfältigen Bezüge“ zwischen „Die Vermessung der Welt“ und „Hundert Jahre Einsamkeit“ „eine eigene Untersuchung“ wert wären, fragt man sich: wäre das nicht gerade das Ziel dieser Studie? Das gilt auch für die Frage, welche Autoren der „neuesten lateinamerikanischen Literatur Daniel Kehlmann gelesen und wie er sie rezipiert hat“.

Als Leser hätte man einfach etwas mehr erwartet als Antwort auf die Frage, was Daniel Kehlmanns mit der modernen lateinamerikanischen Literatur verbindet, wo Berührungspunkte liegen, und von welchen Themen und Techniken Anregungen ausgegangen sein könnten. Auch fehlt – abgesehen von einer relativierenden Nachbemerkung – eine Auseinandersetzung mit den Begriffen „lateinamerikanische Literatur“ und „realismo magico“.

Titelbild

Joachim Rickes: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
140 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783826048272

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