Zurück in die Bratkartoffelzeit

Birgit Vanderbekes „Die Frau mit dem Hund“ macht Appetit auf das Leben

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwann in der Zukunft, wenn die Menschen aus Angst vor Infektionskrankheiten ihre Umgebung und ihr Leben völlig durchsterilisiert haben; wenn es keine Regierung, sondern eine Stiftung gibt, die alles regelt und organisiert; wenn das Geld durch Punkte ersetzt wird, die man sich hinzuverdienen kann, aber nicht muss, um Dinge zu erwerben, die man nicht braucht, aber von den Medien aufgedrängt bekommt; wenn außerhalb der Stadt der wilde Dschungel tobt, in den sich niemand traut und in der Stadt, in anglisierten Fernsehshows Meinungsmache betrieben wird; wenn Kinder in einem bestimmten Stadtdistrikt aufwachsen, jegliche Haustiere aus Angst vor Infektionsgefahr ausgerottet sind, die Emotionen aus dem Fernseher kommen und kaum einer mehr etwas fühlt oder spürt; dann ist es an der Zeit, einen Helden zur Rettung der Menschheit zu kreieren.

Bei Birgit Vanderbeke ist es Pola Nogueira, „Die Frau mit dem Hund“, die eines Tages unverhofft, schwanger und schmutzig auf der Schwelle der Wohnung sitzt, in der Jule Tenbrock einsam keine Gewinnshow verpasst. Einkaufen, Waschen, Kochen, all das existiert nicht mehr, alles ist fertig vorbereitet und bedarf keinerlei Einmischung. Als Pola sich mit Hilfe Jules Nachbarn, Timon Abramowski, illegal im Dachboden einrichten will, ist Improvisation gefragt. Kühlschrank, Herd, Verlängerungskabel, Blumenerde, ja nicht einmal einen Baumarkt gibt es im Fertigboxzeitalter, wo das Eiaufschlagen in Kochshows als gefährlich und unappetitlich dargestellt wird. Omas Lebensmotto „Papperlapapp“ und Ausflüge in die verbotene Wildnis der Vorstädte helfen weiter, und die Protagonistin reißt Jule und Timon mit. Bald lachen sie Tränen und spüren, dass das Lachen daher kommt, „wo die Lust und die Sehnsucht sitzen.“

Gerade noch rechtzeitig, um die „humanitäre Käfighaltung“ infrage zu stellen, bringt die schwangere Hundebesitzerin das Leben von Jule und Timon gehörig durcheinander – als liebenswert unspektakuläre Retterin der Sinnlichkeit, der Gefühle und des Lebens.

Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin von 1990, Birgit Vanderbeke, die seit fast zwei Jahrzehnten in Frankreich lebt, erzählt ihre Geschichte gewohnt unterhaltsam, überschaubar und kurz. Ihr menschlicher Science-Fiction-Roman basiert auf einer Mischung aus in freiwilliger Selbstkontrolle lebender multikultureller Gesellschaft, der Allmacht von Anglizismen und des Stiftungs-Fernsehens, einem gänzlich gefahrenfreien, geschmacklosen, portionierten Leben und einer geschürten Angst vor Krankheiten, die jedes Mittel rechtfertigt.

Da die Handlung in Vanderbekes Roman keinen großen Raum beansprucht, gilt es einen Blick auf die Sprache zu werfen. Um ihre Zukunftswelt dem Leser nachhaltig begreifbar zu machen, verbirgt sich hinter fast jedem Namen eine andere Herkunft: Milos, Rahman, Zwi Benda und Malenka, aber auch Zsazsa, der Hund und die bereits Genannten. Der FC Rhein-Ruhr, Hainegg, Klein Camen, Detroit, Bunzlauer Porzellan, Bigosch, Maharani, Kichererbsen-Masala und Piroggen verweisen auf eine geografisch-kulinarische Vielfalt. Man trinkt einen Cappuccino im Coffee-Point, das Empowerment im Kindercenter, wie man ehrenamtliche Arbeit im Kindergarten nennt, bringt Punkte, die man bei Fernsehshows wie Cosy Home oder Grandma’s Cooking Corner in Gewinne einlösen kann. Vanderbeke warnt mit ihrem Horrorszenario vor der Zukunft. Dabei verdichtet sie die Anglizismen, multikulturellen Anspielungen und medizinischen Krankheitsbezeichnungen in einem Maße, das zunehmend die Schmerzgrenze streift.

Wenn man in der Welt, in der ein intakter Geruchs- und Geschmackssinn schon eine Seltenheit ist, plötzlich Bratkartoffeln riecht, „[d]iesen eigenartigen Geruch der Zwiebel, […] von dem man augenblicklich verrückt nach dem Leben wird und im selben Moment auch schon heulen muss“, dann hat man es geschafft. Für Timon und Jule ist der Rückschritt Fortschritt, ein Besinnen auf die wahren Werte, die Vanderbeke in ihrem Roman dem einen oder anderen Leser etwas zu esoterisch und intensiv proklamiert.

Titelbild

Birgit Vanderbeke: Die Frau mit dem Hund.
Piper Verlag, München 2012.
149 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055116

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