Ein Weihnachtsmärchen vom Friedhof der vergessenen Bücher

Carlos Ruiz Zafón fährt in seinem Roman „Der Gefangene des Himmels“ mit den gruseligen Abgründen des Barcelonas der 1940er- und 1950er-Jahre fort

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Verkaufszahlen sprechen für sich. Der 1964 in Barcelona geborene und seit 1994 in Los Angeles lebende Bestsellerautor Carlos Ruiz Zafón wird, seit er 2001 mit seiner Tetralogie zum Friedhof der vergessenen Bücher begann, nach seinen Jugendbüchern ein erwachsenes Lesepublikum anzusprechen, an Millionenauflagen gemessen. Nach „Der Schatten des Windes“ und „Das Spiel des Engels“ ist „Der Gefangene des Himmels“ sein dritter Roman, der im Barcelona der Franco’schen Diktatur spielt.

Im Weihnachtsgeschäft des Jahres 1957 betritt eine finstere Gestalt die Buchhandlung Sempere & Söhne und zeigt nur für das teuerste Werk in der Ebenholzvitrine Interesse: eine einzigartige, katalogisierte Ausgabe von Alexandre Dumas’ „Graf von Monte Christo“.

Er bezahlt den literarischen Schatz fürstlich und lässt ihn mit einer mysteriösen Widmung für den Buchverkäufer Fermín Romero de Torres hinterlegen. Daniel, Sohn des Geschäftsinhabers, geht der Sache im wahrsten Sinne des Wortes nach. Der Weg führt fast zwanzig Jahre zurück und zieht den Leser in die Katakomben des Kastells von Montjuïc hinunter, wo Regimegegner zu Beginn des Franco-Regimes willkürlich und auf brutalste Weise gepeinigt dahinvegetierten, wie einst der junge Seemann Edmond Dantès im Château d’If. Und einer der damals Gefangenen erzählt Daniel, was dort mit ihm und anderen geschah. Neben den aus den Vorgängerromanen bekannten Protagonisten nimmt Mauricio Valls, der literaturbegeisterte, aber unbegabte, skrupellose Gefängnisdirektor, eine Hauptrolle bis in die Gegenwart ein.

Beeinflusst durch die Aussage „Dass das Schicksal keine Hausbesuche macht, sondern dass man zu ihm gehen muss“, ein Zitat aus „Der Schatten des Windes“, dem Buch, das er sich beim ersten Besuch im Friedhof der vergessenen Bücher ausgeliehen hatte, geht Daniel den neuen Geheimnissen nach, die ihm keine Ruhe lassen und deren Aufdeckung ihm Gewissheiten wie auch neue Rätsel bescheren.

Zafón ist abermals gelungen, die Erwartung seines Publikums nicht zu enttäuschen. Auch der dritte Teil seiner Tetralogie lässt sich unabhängig der ersten beiden Romane genießen und verschlingen. Andererseits machen all die kleinen Geschichten und unheimlichen Protagonisten Appetit auf mehr. Beim Lesen aus der dunklen Welt Barcelonas während des Bürgerkriegs gibt es immer wieder überraschende Wendungen und Details, man ist am viel zu schnell erlesenen Ende des Romans zwar wesentlich klüger, aber dennoch im Unwissen und voller brennender Neugier auf frühere und künftige Werke.

Dabei kommen nicht nur Barcelona-Fans und Liebhaber historischer Romane auf ihre Kosten, sondern auch Thriller- und Unterhaltungsliteraturfreunde. Das fesselnde Geflecht aus Handlungssträngen, die wenigen Protagonisten, deren Schicksale über Jahrzehnte sowie Generationen ineinander verwoben sind, die Mischung aus Liebe und Leidenschaft, Habgier und Hass kann man nicht unterhaltsamer in Worte fassen, als es dem Autor gelungen ist. Die Dosierung, die Sprache, der Wortwitz und die undurchschaubaren Machenschaften, die sich Kapitel um Kapitel auflösen und gleichzeitig neu auftun, all dies hat Zafón zu einer Symphonie des Grauens und der Liebe komponiert. Dass den Kapiteln eine zeitliche Zuordnung vorausgeht, macht die Struktur der Handlung etwas übersichtlicher, aber ein guter Erzähler, der der Autor zweifellos ist, baut zusätzlich unendlich viele Verweise zurück, vor und über die Grenzen des Romans hinaus ein.

Die Erfolge eines Carlos Ruiz Zafón sind, wie auch die eines Ken Follett, Seite für Seite nachvollziehbar, schreiben sie doch, ohne sich damit für Literaturpreise einer Hochkultur zu empfehlen, das, was Menschen lesen wollen. Daniel Sempere, die Hauptfigur der Tetralogie bringt das auf den Punkt, was Millionen Leser sehnsüchtig auf den vierten Roman warten lässt: „Ich werde Ihnen eines Tages Dinge erzählen, die Barcelona lieber vergäße.“ Und spannend-schaurige Abgründe, Schicksale und Heldentaten, ebenso undurchschaubar wie anziehend, damit kann ein Autor, vorausgesetzt er ist ein großer Erzähler, Millionen begeistern.

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Titelbild

Carlos Ruiz Zafón: Der Gefangene des Himmels. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Schwaar.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
403 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783100954022

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