Heilige Texte für Ungläubige

Monika Schmitz-Emans gelingt eine fundierte Einführung in Kafkas Werk, für das ihr kein Superlativ zu klein ist. Schrieb Kafka etwa die Bibel der Moderne?

Von Jörg PottbeckersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Pottbeckers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne ein entschuldigendes Bedauern darüber, dass nun schon wieder ein Buch über Kafkas Werk geschrieben wurde, kommt ja mittlerweile kein neues Buch über Kafkas Werk mehr aus – und selbst der Hinweis darauf ist inzwischen auch schon eine Konvention. Warum aber will der Strom immer weiterer (aber nicht unbedingt neuer) Kafka-Exegesen einfach nicht abebben?

Reiner Stach konnte kürzlich in seiner fulminanten Kafka-Biografie zumindest noch den Joker ziehen, er habe (unglaublich, aber wahr!) das erste Buch über Kafkas Leben aus deutschen Landen verfasst. Werkanalysen gibt es aber so reichlich, dass Stach ebenso nachvollziehbar wie sympathisch über die selbst unsinnigsten Thesen schimpft, die irgendwo von irgendwem vertreten worden sind, gar manche akademische Spezialuntersuchungen mit autistischen Spielereien gleichsetzt. Monika Schmitz-Emans weiß das alles natürlich, thematisiert es einführend auch, dreht den Spieß aber um: eine Entschuldigung für noch ein Buch über Kafka sei gar nicht nötig, sondern lediglich der Beweis für die Strahlkraft und Signifikanz seiner Texte. Recht hat sie! Stach aber auch.

Die Reihe „Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte“ (vielleicht besser bekannt unter „Epoche – Werk – Wirkung“) aus dem Verlag C. H. Beck bringt regelmäßig angenehm unaufgeregte Bücher heraus, die sich als akademische Standardwerke geradezu anbieten und oft auch als solche etablieren – Hermann Kurzkes Thomas-Mann-Buch beispielsweise. Die Reihentitel folgen einem analogen Aufbau, auch Schmitz-Emans’ Kafka-Darstellung. Zunächst wird der Dichter in seiner Zeit porträtiert, um anschließend das Werk unterteilt in Gattungsblöcken vorzustellen. Erst die drei Romanfragmente, dann die Erzählungen, Lyrik findet sich bei Kafka ja kaum, Dramatik (abgesehenen vom „Gruftwächter“) gar nicht. In ihrem dritten großen Abschnitt schließlich präsentiert Schmitz-Emans (unter dem Titel der „Kafka-Rezeption“) die gängigsten Deutungsansätze (religiös, philosophisch, psychoanalytisch, sozialkritisch etc.) im literaturhistorischen Schnelldurchlauf und skizziert die literarische Rezeption bis hin zur rezeptionsästhetischen „Sorge des Lesers“ – womit die anstrengende Zumutung der permanenten Widersprüche, der ständigen Sowohl-als-auch-Aussagen in Kafkas Texten gemeint ist. Jede Einzelanalyse wird mit knappen Hinweisen zur Forschungsliteratur abgeschlossen, über deren Auswahl der Spezialist streiten könnte, auf deren Relevanz der Laie aber vertrauen darf. Doch lesen Laien solche Bücher überhaupt?

Wohl eher nicht. Das Buch ist offenbar für eine studentische Zielgruppe und deren Bedürfnisse konzipiert. Soll heißen – auf knappen Raum das Wichtigste, übersichtlich und griffig, in gut lesbarer, unprätentiöser Sprache. Dabei muss zwangsläufig das weniger Relevante (gibt es sowas bei Kafka überhaupt?) auf der Strecke bleiben – die „Landarzt“-Erzählungen beispielsweise, auch „In der Strafkolonie“ wird nicht vorgestellt, dafür aber das eher unbekannte „Schweigen der Sirenen“. Eine diskutable Auswahl, überhaupt kommen die Erzählungen Kafkas ein wenig zu kurz. „Die Verwandlung“ und „Das Urteil“ sind selbstverständliches Pflichtprogramm, neben den „Sirenen“ wird lediglich noch „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ als exemplarische Künstlergeschichte vorgestellt – auch der „Hungerkünstler“ hat es also nicht geschafft. Warum aber nur vier Erzählungen?

Bei den Romanen stellen sich solche Fragen naturgemäß nicht, alle drei Fragmente werden ausgehend von ihrer Editions-, Entstehungs- und Forschungsgeschichte polyperspektivisch avisiert – und zwar mit kenntnisreichem Mut zur kritischen Kommentierung. Überhaupt die Stärke des Bandes: das Zusammentragen der wichtigsten Forschungsmeinungen (bei Kafka wahrlich kein leichtes Unterfangen), deren latente Widersprüchlichkeit nicht aufgelöst, sondern als spezifische Auszeichnung der Texte verstanden wird. Ohne eine dezidiert eigene Interpretation vorzulegen, ist allein schon der Prozess der Selektion von Forschungsansichten eine interpretatorische Leistung der Autorin, die mit subtilen Kommentaren und resümierenden Ergänzungen fast schon eine eigenständige Kafka-Exegese vornimmt. Auch bei den Erzählungen: Dogmatisch psychoanalytische Interpretationsansätze etwa, die die „Verwandlung“ zwischen Ödipuskomplex und Kastrationsangst verorten wollen, werden von Schmitz-Emans als simple schematische Allegoresen entlarvt. Gibt es also, um mit Umberto Eco zu sprechen, doch so etwas wie die Grenzen der Interpretation – gerade bei Kafka?

An die Tradition heiliger Texte der jüdischen und christlichen Welt könnte man sich erinnert fühlen, wenn man die Geschichte der Kafka-Auslegungen betrachtet – so Schmitz-Emans zu Beginn ihrer klugen, die Erwartung an Buchreihe und Autorin fast schon übertreffenden Einführung. Hier wie dort werden die Texte immer neuen Lektüren, Kommentaren und Exegesen unterzogen, auch der gleichnishafte Charakter eigentlich aller Texte Kafkas unterstützt die quasi-religiösen Interpretationsprozesse. In diesem Sinne kann Kafkas Werk also durchaus als eine Bibel der Moderne gelesen werden. Und göttlich ist Kafka ja sowieso.

Titelbild

Monika Schmitz-Emans: Franz Kafka. Epoche - Werk - Wirkung.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
249 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406622298

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