Umweg über China

Xiaoqiao Wu unternimmt mit seiner Studie über Clemens Brentanos „Ponce de Leon“ einen Ortswechsel des Verstehens

Von Michael OstheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ostheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts einer Studie, die im Untertitel verspricht, „Clemens Brentanos Lustspiel ,Ponce de Leon’ im Lichte chinesischer Theatertraditionen“ zu untersuchen, dürfte sich manch einer die Augen reiben: Brentano und chinesisches Theater? Was mag den Pekinger Literaturwissenschaftler Wu Xiaoqiao bloß zu diesem Vergleich bewogen haben?

Folgen wir Wus Argumentation: Seine Ausgangshypothese lautet, dass eine deutsch-chinesische Perspektive auf die 1801 verfasste Komödie „Ponce de Leon“ einen interkulturell profilierten Einblick in Brentanos poetische Praxis zu eröffnen vermag. Einen Einblick, der gegenüber der monokulturellen Perspektive durch das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden einen Mehrwert verspreche. Hinsichtlich des Repertoires an pantomimischen Mitteln und der Sprach-, Charakter- und Situationskomik könne ein Vergleich mit der chinesischen Theatertradition wesentliche Einsichten befördern.

Mit umsichtiger Klugheit rekonstruiert Wu zunächst Brentanos Lustspielpraxis im Kontext der romantischen Lustspiel- und Komiktheorie. Dann entfaltet er auf der Basis der Situationskomik und des intertextuellen Spiels in „Ponce de Leon“ einen neuen Interpretationsansatz (mit der Liebeskonzeption als einem Verhältnis von Herr und Diener). Schließlich lässt er seine Ergebnisse in einen Vergleich mit der chinesischen Komiktheorie und insbesondere mit dem Lustspiel „Fengzheng wu“ („Der Irrtum durch die Papierdrachen“) des chinesischen Dramatikers Li Yu (1611-1680) münden.

Im konkreten Stückvergleich arbeitet Wu folgende Aspekte heraus: Wie Brentano setze auch Li Yu auf die Komik der Heraufsetzung, auf Grenzüberschreitungen seiner Figuren in einer normierten Gesellschaft, auf eine Mischung aus Sprechtext und Gesang beziehungsweise Tanz. Im Gegensatz zu den auf Satire und Verlachen gerichteten Komödien in der europäischen Theatertradition stehe Brentanos Lustspiel trotz der zeitlichen und geografischen Entfernung „merklich in der Nähe der von Li Yu vertretenen Lustspieltradition, die der Komik der Heraufsetzung eine besondere Rolle eingeräumt hat und durch die Mischung von Tragik und Komik, Weinen und Lachen geprägt ist“.

Die Brisanz dieser Ergebnisse erschließt sich freilich erst im Kontext der von Wu gleichsam beiläufig geäußerten Hintergrundfrage, „inwiefern China und Europa ‚differente Lachkulturen‘ ausgebildet haben beziehungsweise inwieweit man in Bezug auf Komik und Theater aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive Universalien bestimmen kann“. Dass eine Beantwortung dieser Frage allenfalls auf der Grundlage eines umfassender angelegten Vergleichsprojekts anzustreben ist, weiß der Autor selbstverständlich. Allein, indem Wu am Beispiel von Brentano und Li Yu die Frage nach unterschiedlichen Lachkulturen oder Komödientraditionen in Deutschland und China diskutiert, stellt er den Pluralismus kulturdifferenter Lektüren (vergleiche dazu exemplarisch die Dokumentation des weltweit angelegten Lektürevergleichs von Gottfried Kellers „Pankraz, der Schmoller“ im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 18 [1992]) auf eine neue Vergleichsbasis. Er beansprucht den Vergleich mit der chinesischen Theatertheorie und -praxis, um die Eigenart von Brentanos Text zu beleuchten.

Ohne dass der Name von François Jullien genannt würde, agiert Wu mit seiner Vorgehensweise auf einer Linie mit dem 1951 geborenen französischen Philosophen und Sinologen. Dessen Projekt eines europäisch-chinesischen Kulturdialogs auf Augenhöhe beinhaltet den Versuch, mittels eines Außenstandpunkts, eines „Umwegs über China“, die in der abendländischen Kultur anerkannten Denkkategorien und Handlungsstrategien zu hinterfragen beziehungsweise in ein neues Licht zu setzen. Dabei geht es um eine wechselseitige Erhellung und Durchdringung der kategorialen Ausprägungen zwischen Europa und China, wobei es grundsätzlich keine Rolle spielt, ob man den Ausgangspunkt in Europa setzt und die Perspektive auf China richtet oder eben umgekehrt verfährt. Verbindet man Wus komparatistisches Unterfangen mit Julliens Impuls eines „Ortswechsel des Denkens“, so wäre auch ein produktiver ‚Umweg über Europa‘ vorstellbar. Beispielsweise könnten komparatistisch geschulte Literaturwissenschaftler oder deutsch-chinesische Forschergruppen die Zusammenhänge und Differenzen der seit geraumer Zeit in beiden Ländern boomenden Erinnerungs- und Familienliteratur herausarbeiten oder auch im Rahmen einer kontrastiven Untersuchung der Stadtliteratur Gründe dafür namhaft machen, warum noch der überwiegende Großteil der chinesischen Gegenwartsromane (auch die des chinesischen Nobelpreisträgers Mo Yan) im dörflichen oder Kleinstadtmilieu angesiedelt sind.

So weit, so spekulativ. Wu Xiaoqiao dagegen, dem man gelegentlich weniger philologische Akribie und mehr Mut zur Thesenbildung gewünscht hätte, versagt sich diese Ausblicke. Stattdessen erklärt er abschließend mit bescheidener Nüchternheit, dass man der Frage nach einer typisch deutschen beziehungsweise typisch chinesischen Komödienpraxis zwar „einen Schritt näher gekommen“ sei, vor allem aber gezeigt habe, „wie aufwändig vergleichende Fallstudien zu diesem Problemkreis werden, wenn man sowohl der einen als auch der anderen Kultur annähernd gerecht werden will“. Dem ist voll und ganz zuzustimmen. Dennoch bietet Wus Studie nicht nur originelle Einsichten in Brentanos Komödienproduktion, sondern eben auch ein enormes Anregungspotential für die literarische Komparatistik.

Titelbild

Xiaoqiao Wu: Komik, Pantomime und Spiel im kulturellen Kontext. Clemens Brentanos Lustspiel "Ponce de Leon" im Lichte chinesischer Theatertraditionen.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2012.
280 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783503137367

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch