Das literarische Feld in Zahlen

John B. Thompsons Buch „Merchants of Culture“ über den Buchmarkt im 21. Jahrhundert bietet viel Empirie, aber wenig Induktion

Von Malte Wehr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Leistung von John B. Thompsons über 400 Seiten starken Studie „Merchants of Culture: The Publishing Business in the Twenty-First Century” liegt in der Geschlossenheit ihrer empirischen Basis und einem gut strukturierten Konzept; der Mangel steckt in einer Induktion, die jene aus der Empirie ermittelten Daten nicht in eine existierende soziologische Terminologie zu abstrahieren vermag – Pierre Bourdieus Feld-Theorie wird von dem Soziologen aus Cambridge weitestgehend ignoriert. Dabei ist Thompson kein Neuling in der soziologischen Reflexion über das gedruckte Wort. In seiner 2005 veröffentlichten Analyse „Books in the Digital Age“ rückt er das wissenschaftliche Publizieren in den USA und Großbritannien in den Fokus, nun ist es das Trade Publishing in den beiden angelsächsischen Ländern. Die hier vorliegende zweite Edition lässt sich als eine Neujustierung der bis 2010 ermittelten Daten verstehen.

Ein großer Gewinn ist die klare Struktur und die präzise Sprache in Thompsons Arbeit. Bourdieus Begriffe des Feldes und der Kapital-Sorten (besonders des ökonomischen und symbolischen Kapitals) werden gleich zu Beginn, zum ersten und letzten Mal, für das eigene Vorhaben mobilisiert – auf die Art und Weise ihrer Verwendung werde ich später noch zu sprechen kommen. Auf wenigen Seiten gelingt es Thompson, den Leser auf den ökonomischen Aspekt seiner Untersuchung einzustimmen: Es geht um das Geschäft mit dem gedruckten Wort. Mit Publishing value chain und Book supply chain (key figures) sind die Parameter des Literaturbetriebs in ihrer groben Struktur abgesteckt. Anhand exakter Grafiken visualisiert Thompson dem Leser die komplexe Dimension einer Unternehmung, deren Betonung auf dem zweiten Teil der Wort-Komposition Literaturbetrieb liegt. Die Bestandsaufnahme älterer Studien, die Quellen der empirischen Daten und die Einführung einzelner ‚Spielfiguren‘ (zum Beispiel Literary Agent), schließen die Einleitung ab.

Das 21. Jahrhundert im Untertitel gewinnt schnell an Konturen. Im Kapitel „The Growth of the Retail Chains” nennt Thompson das neue Diktat im Literaturbetrieb beim Namen. Buchhandelsketten wie „Barnes & Noble“ stehen in der Book supply chain zwar am Ende, vermögen aber – und das lernt der Leser ausgeführt über die gesamte Länge der Studie – aufgrund ihrer ökonomischen Potenz massiv in die Buchproduktion einzugreifen. Entschärft wird dieser Umstand lediglich durch die noch immer eminent wichtige Funktion des Literary Agent. Als Gatekeeper bringt dieser die bis in die Verlage hineinreichenden Einflusssphäre der Buchhandelsketten in ihrer widernatürlichen Fließrichtung vor dem Autor zum Stehen. Trotz der writing-on-demand-Politik großer Verlags- und Buchhandelsketten scheint noch ein Glaube an die Qualitätssicherung durch einen Agenten zu existieren.

Besonders ertragreich ist Thompsons Kanalisation der empirischen Zahlenflut im Kapitel „The Polarization of the Field“. Über die schon für sich aufschlussreiche wie unerwartete Feststellung einer Zunahme der kleinen Verlagshäuser auf der einen, wie dem Machtzuwachs der großen Monopolisten auf der anderen Seite, zeichnet er eine besondere Tiefenschärfe in der Verzahnung kleiner Verlagshäuser untereinander und der Delegierung verlegerischer Prozesse wie Verkauf und Vertrieb. Dabei wird unmissverständlich klar, dass dies zwar das Überleben der kleineren Marktteilnehmer in einem sich mehr und mehr monopolisierenden Literaturbetrieb sichert, allerdings auch gefährliche Abhängigkeiten schafft – als Beispiel nennt der Soziologe die Folgen des Kollaps der „Publishers Group West” im Jahre 2007, welche viele kleine Verlage mit in den Bankrott zog. Diese prekäre Situation bezieht Thompson in seinem auswertenden Kapitel „The Wild West“ in die Struktur The logic of the field ein. Dabei relativiert er die vermeintliche Logik gleich zu Beginn – und hier mag er sich am ehesten in die Fußstapfen von Bourdieus Feld-Begriff begeben – mit den Worten: „to describe this dynamic as the ,logic of the field‘ is not to say the field is logic [… ] The logic of the field is an analytical and explanatory concept, not a normative one.” Überraschend ist dann die Feststellung, dass sich der Wilde Westen nicht auf die USA, sondern auf den deregulierten Büchermarkt Großbritanniens bezieht. So gibt es den, der Deutschen Buchpreisbindung ähnelnden amerikanischen Robinson-Patman Act, aber nichts Vergleichbares bei dem angelsächsischen Nachbarn. Das letzte Kapitel ist „The Digital Revolution“ gewidmet: Hier beschreibt Thompson das ökonomische Potential neuer Werbe- und Verkaufsstrukturen, hält sich mit Zukunftsprognosen aber zurück.

Ein nicht ausgeschöpftes Potential von „Merchants of Culture” stellt die Auseinandersetzung mit Bourdieus Grundlagenwerk „Die Regeln der Kunst“ dar. Schon auf den ersten Seiten der Einleitung meint man Thompsons Respekt vor Bourdieus Feld-Theorie in der deutlichen Distanzierung des Briten vom französischen Soziologen zu spüren, doch zu prompt folgt das Kredo der freien Adaption und es bleibt der Beigeschmack, dass es sich hier nicht um die Neujustierung einer mittlerweile klassischen Theorie handelt, sondern es Thompson offensichtlich um eine schnelle Umschiffung dieses Schwergewichts geht.

Trotz der Verwässerung von Bourdieus Kapital-Begriffen durch die neu eingeführten Parameter des human- und intellectual capital sowie der Unterschlagung des kulturellen Kapitals, scheint dies die wichtige und unmöglich in eine Faustformel zu verankernde Konstellation aus ökonomischen und symbolischem Kapital nicht zu tangieren. Beim Feldbegriff wird es dann allerdings problematisch. So verortet Thompson die Monopolisten in der Mitte des Feldes, wo sich laut Bourdieu die Kräfte vom ökonomischen und nichtökonomischen Pol relativieren. Dabei ist die ebenfalls im Vorwort bemerkte „plurality of fields“ ein spannender Gedanke, setzt man ihn in Kontext mit einer in den USA durchaus erstarkten Independent-Publishing-Szene. Doch auch hier versickert Thompsons Tinte zwischen den Zeilen einer zu sehr von der Bourdieu’schen Terminologie losgelösten Studie.

Erfolgsmodelle, die, wie im Fall von „McSweeney’s Books“, seit über einer Dekade mehr und mehr ein autarkes Subfeld im Sinne einer Personalunion aus Autoren, Agenten und Verlegern etablieren, werden am Rand eines nunmehr einzigen Feldes marginalisiert. Gerade bei so viel Akribie der empirischen Grundlage, hätte man sich den Rückschluss auf Bourdieus Theorem gewünscht. Dennoch füllt Thompsons Werk eine bis dato klaffende Lücke in der Literatursoziologie. Die umfangreiche Auswertung von empirischen Daten ist ein Novum und zeigt trotz des Mangels in der Auseinandersetzung mit Bourdieu das große Potential, welches im Unterbau aus Zahlen verborgen liegt.

Als ergänzende Literatur empfiehlt sich der im Oktober 2011 in Vanity Fair publizierte Essay „The Book on Publishing“ von n+1 Redakteur Keith Gessen. Sein Bericht über die Entstehung des Bestsellerromans „The Art of Fielding“ vom Freund und Redaktionskollegen Chad Harbach ist eine minuziöse Fallstudie zu den Mechanismen und Schlüsselfiguren des Literaturbetriebs und stellt eine Bereicherung insbesondere von Thompsons Ausführungen des Literary Agent dar.

Literaturhinweise

Thompson, John B. Books in the Digital Age: The Transformation of Academic and Higher Education Publishing in Britain and the United States. Cambridge: A Plume Book, 2005.

Bourdieu, Pierre. Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001.

Gessen, Keith. „The Book on Publishing“. In: Vanity Fair, Oktober 2009, S. 262-272.

Titelbild

John B. Thompson: Merchants of Culture.
Polity Press, Cambridge 2012.
464 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9780745661063

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