Krieg ist nie ganz vorbei

Ismet Prcic versucht in seinem Roman „Scherben“, die seines Lebens zu ordnen

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1977 in Tuzla, Bosnien-Herzegowina, geborene Ismet Prcic erlebte den Bosnienkrieg als Teenager und emigrierte 1996 in die USA, wo er heute, an einem College, Theater unterrichtet. Mit seinem autobiografischen Debütroman „Scherben“ schreibt Prcic sich seine posttraumatische Belastungsstörung von der Seele. Er beginnt ganz am Anfang seines Lebens, will sich ausschließlich an die Fakten halten und fügt doch immer häufiger auch erfundene Geschichten mit ein. Während er sich so von seinen Erinnerungen entfernt, wird die Geschichte immer ergreifender und wahrhaftiger.

Zunächst verlebt der Protagonist Ismet eine unbeschwerte Kindheit zwischen geköpft umherlaufenden Hühnern, Fernsehserien aus dem Westen, Markenkonsum und Ninja-Spielen. Als bei einem Streich der muslimischen Jungen im Wochenendhaus die Eltern der serbischen Vermieter mit rassistischen Schimpftiraden reagieren, ist zu erahnen, was niemand wahrhaben will: Es ist Krieg. Die Ereignisse überstürzen sich und Ismet erlebt seine Pubertät und die erste Liebe zwischen Luftschutzkeller, Schule und Granateneinschlägen. Nach der Musterung und vor dem bevorstehenden Einzug in die Armee flüchtet er auf einer Theaterreise nach Schottland, über Zagreb, in die Vereinigten Staaten.

Während Mustafa, das zweite Ich des Protagonisten, eine aus Fernseh- und Filmbildern oder Erzählungen vom Kriegsgeschehen geschaffene Figur, den Krieg in Bosnien an der Front erlebt, spricht Izzy „Bonglisch“ und führt ein zerrissenes, schlafloses Dasein. Auf seiner amerikanischen „A-Seite“ ist seine neue Freundin Melissa, sein Mitbewohner Eric und das Studium, auf der bosnischen „B-Seite“ die Berichterstattung aus der Heimat, die verzweifelte Mutter, die unvergessliche Angst – Ismet spürt ein „Werwolfsgefühl“. Ordnung hatte er nie kennen gelernt, deshalb waren Sinnlosigkeit und Chaos für ihn Normalität. Auch im fernen Amerika ist er dem Krieg nicht entkommen, er reagiert verschreckt auf jeden Knall und gerät, bei der Suche nach einem Telefon, zufällig auf eine Serbenparty, von der er aber unbehelligt wieder verschwinden kann. Seine Freunde können ebenso wenig verstehen, was in ihm vorgeht wie er selbst. Ismet will sein Gehirn nicht mehr haben. Schließlich beginnt er auf Anraten Dr. Cyrus’, seine Geschichte zu ordnen, sie Stück für Stück aufzuschreiben.

Ähnlich wie in Sasa Stanisics „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ schildert Prcic den Krieg und die Emigration, wenn auch manchmal mit naiven kindlichen Augen, aber stets als brutale, menschliche Katastrophe. Hatte er sich zuvor als säkularer Jugoslawe gefühlt, heilige Schriften als Literatur angesehen, Schwein gegessen, Sliwowitz getrunken und nur einmal im Jahr in der Moschee gebetet, so führte der Krieg zuerst aus Mangel, später aus Solidarität mit den Opfern, zum Verzicht auf Schweinefleisch, erklärte der Autor in einem Interview.

Das Werk ist durcheinander wie ein Scherbenhaufen. Tagebuchnotizen, die an die Mutter gerichtet sind und das neue amerikanische Leben erzählen, ohne die Heimat und das Geschehene vergessen zu können, sind der Rahmen, der dem Leser immer wieder schonungslos klar macht, dass es sich nicht um eine ausgedachte, spannungsgeladene Geschichte handelt, sondern ein persönliches Schicksal zu Papier gebracht wurde. Die einzelnen Text-Scherben verwirren manchmal, sind lebensgefährlich scharf oder erheiternd bunt glänzend. Wer die Angst den Verstand zu verlieren glaubhaft schildern will, muss den konventionellen Erzählrahmen sprengen und surrealistischere Wege gehen. Verschiedene Erzählstrategien, typografische Mittel, Fußnoten und Unterbrechungen schüren eine beunruhigende Leseatmosphäre. Der Leser ist mitgerissen, erlebt den Krieg mit Ismet, und später auch Mustafa, mit, der aus reiner Außenperspektive so viel erträglicher zu lesen wäre.

Prcic hat Abstand zur jugoslawisch-bosnisch-balkanischen Kultur gewonnen, schildert seine Heimat und ihre Bewohner authentisch und erklärt Unkundigen das Unbekannte. Einerseits bringt er den Leser mit seinem wunderbaren Humor zum Schmunzeln und lässt ihm andererseits mit Details des Kriegsgeschehens den Atem stocken. Die „balkan-typische sexistische Geschmacklosigkeit“, der ständige Gebrauch äußerst derber Schimpfwörter, das Rauchen und Trinken, all das gehört dazu. Lakonisch äußert er Kritik am kommunistischen Jugoslawien und der separierenden Sprachenpolitik der Nachfolgestaaten, wenn er beispielsweise als Bosnier mit einem kroatischen Grenzbeamten „in einer Sprache, die er verstand“ spricht. Einst hieß das Serbokroatisch und ist heute Bosnisch, Serbisch oder Kroatisch, ohne dass jemand eine neue Sprache gelernt hätte.

Im Roman „Scherben“ ist es Ismet Prcic gelungen, zu zeigen, was ein erlebter Krieg in einem Menschen anrichtet. Zwischen den Zeilen, kunstvoll unterstützt durch die unkonventionelle Form, erkennt der Leser die Nachwirkungen und den endlosen Kampf gegen die Erinnerung. Ein beunruhigend spannendes, literarisch experimentelles, gelungenes Debüt.

Titelbild

Ismet Prcic: Scherben. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Conny Lösch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
442 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423660

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