Wie in Bernstein eingeschlossen

J. Courtney Sullivan erzählt von einem „Sommer in Maine“

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was unterscheidet Cape Neddick etwa von Cape Cod? Auf dem berühmten Cape Cod findet man „deprimierende“ Ferienwohnungen, in die man alles – „von Ketchup und Senf bis zu den Servietten“ – selbst mitbringen und „die Teebeutel und Knabbereien“ anderer Menschen zuerst entsorgen muss, will man dort Urlaub machen. Auf Cape Cod muss man den „muffigen“ Geruch dieser Häuser und die Geräusche der Fremden ertragen. Ganz anders auf Cape Neddick in Maine. Hier ist man daheim. Hier hat man den Strand vor der eigenen Haustür. Hier sind noch keine Fremden gewesen: „Im Sommerhaus an der Briarwood Road hatte nie jemand übernachtet oder auch nur geduscht, der nicht zur Familie und zum engen Freundeskreis“ der Kellehers gehörte. Und wann geht man nach Maine? Am liebsten, wenn man wie die angehende Schriftstellerin Maggie schwanger ist, von dem charmanten, doch windigen Gabe, dem Liebling ihrer Großmutter Alice Kelleher, verlassen und von widersprüchlichen Gefühlen und Ängsten übermannt wurde, denn „Maine […] blieb immer gleich: Dieselben Gesichter, dieselben Häuser und der weite, blaue Ozean. Hier schwebte sie wie in Bernstein eingeschlossen, als könnte sie das Leben anhalten.“

„Sommer in Maine“ (im amerikanischen Original einfach „Maine“, Alfred A. Knopf Verlag New York 2011) der jungen New Yorker Autorin Julie Courtney Sullivan ist eine Familiensaga – die Geschichte von drei Generationen US-amerikanischer Frauen irischen Ursprungs. Über dem Buch hängt bedrohlich als Motto eine Mahnung von F. Scott Fitzgerald an seine Tochter Frances: „Mach einfach alles, was wir nicht gemacht haben, dann kann gar nichts schiefgehen.“ Als sich Alice, die älteste lebende Kelleher, im Mai wieder einmal mit einem Glas Wein auf die Veranda hinaussetzt, hängen „dicke Wolken“ am Himmel. Alice ist eine beeindruckende und ihre Mitmenschen erdrückende alte Dame – immer noch blendend aussehend, scharfzüngig-brillant, aber auch eitel, selbstsüchtig und attraktiven jungen Männern gegenüber, darunter auch Priestern, häufig auffallend zuvorkommend. Sie versteht es, sich in Szene zu setzen und hat schon als junge Frau – obwohl oder gerade weil sie „ein ganz normales Bostoner Vorstadtmädchen aus einer irischen Arbeiterfamilie“ war – davon geträumt, „eine Art Veronika Lake zu sein, die man für ihre Schönheit, Kunst und Lebenslust bewunderte“.

Der Dominanz und überwältigenden Präsenz dieser Matriarchin wirkt aber die Erzählstruktur des Romans entgegen, denn die Peripetien, aus denen sich die Handlung zusammensetzt, werden aus mehreren Perspektiven erzählt, sind doch mehrere Einzelkapitel nicht nur Alice, sondern jeweils auch ihrer Tochter Kathleen, ihrer Schwiegertochter Ann Marie und der oben erwähnten Enkelin Maggie gewidmet. Die geschiedene und mit ihrem neuen Lebenspartner Arlo auf einer skurrilen kalifornischen Wurmfarm lebende Kathleen ist zuweilen eine Furie, deren sehnlichster Wunsch es ist, dem Verführer ihrer Tochter Maggie die Augen auszukratzen. Viel blasser dagegen neben der allzu devoten Schwiegertochter Ann Marie die nette, brave Maggie, die sich die Erzählung ihrer mega-attraktiven Freundin Rhiannon darüber, dass sich Gabe an ihr vergriffen habe, gefallen lassen muss. Am Schluss kommen aber auch diese Figuren in Fahrt – so Ann Marie, die in einem verzweifelten Versuch, sich den Kellehers zu entziehen, den Familienfreund Steve auf der Toilette mit einem heftigen (und unerwiderten) Kuss regelrecht überfällt und dabei von Kathleen überrascht wird.

Brennpunkt der Spannungsdramaturgie in diesem Buch jedoch ist eine alte, mit dem historischen Brand des berühmten Bostoner Nachtclubs „Cocoanut Grove“ im Jahre 1942 zusammenhängende Schuld von Alice. Die ‚Sühne‘ dafür – der Entschluss von Alice, das Sommerhaus in Maine nicht ihren Kindern, sondern der katholischen Kirche zu vererben – ist der Auslöser für den Zwist dieser ohnehin zerrütteten Familie am Ende des Buches. Erwartungsgemäß erfolgt dieser Zwist auf dem Höhepunkt eines Familienfestes. Was folgt ist allerdings keine Katastrophe und keineswegs der „Verfall einer Familie“, sondern die zuversichtliche Heimkehr aller Familienmitglieder in ihre Existenz fern von den Familienbanden und dem Familienzusammenhalt. Vorbei ist es mit „Maine“, und der Roman lässt seine etwas verschrobenen Figuren sich mit dieser Situation leicht aussöhnen und ihren Weg mit sichtlicher Erleichterung in eine Welt ohne Alice und ohne Kellehers weiterziehen, wofür das dekorative Tableau bei Kathleens Rückkehr auf die kalifornische Wurmfarm steht: „Neben einem Strauß Tulpen stand ein Kürbiskuchen auf dem Küchentisch, auf dem sie die unförmigen, mit Zuckerguss geschriebenen Worte WILLKOMMEN ZUHAUSE entzifferte. Kathleen war mit sich und der Welt zufrieden. Die Hunde hatten sich rechts und links von ihrem Stuhl positioniert, als wollten sie sagen: Hier gehörst du her.“

Ein stellenweise charmant geschriebenes und amüsantes, mit manch einem gelungenen Charakterstrich und lebendigen Dialog bestechendes, vor allem aber von viel Galle und Häme überquellendes, doch kaum provozierendes Familiendrama, welches auf über fünfhundert Seiten unruhig und oft ungeschickt einige fundamentale Konflikte unserer „vaterlosen Gesellschaft“ ausbreitet, die Probleme aber lediglich anknabbert und beinahe lüstern an der oberflächlichen Symptomatik (Schuld, Depression, Alkoholmissbrauch, Eifersucht, Aggression, Geschwisterrivalität und so weiter) haften bleibt.

„Maine“ – ein potentiell kräftiges Doppelsymbol sowohl familiärer Geborgenheit als auch des Zusammenbruchs dieser Geborgenheit – wird von der Autorin letztendlich völlig unspektakulär und undramatisch in den Sand gesetzt. Weiter verstärkt wird diese Profanierung des Symbols in der deutschen Übersetzung von Henriette Heise durch den gewöhnlichen Titel „Ein Sommer in Maine“. Ein ins Alltäglich-Unverbindliche und ins Profane gewendeter Roman über Schuld und Sühne, über Familienverfall und über das Leben, das sich nicht anhalten und in Bernstein nicht einfangen lässt. So gut wie alles geht bei den Kellehers schief, weil die Figuren alles genauso falsch wie ihre Mütter machen, doch die dunklen Wolken über Maine verziehen sich, ohne nennenswerten Schmerz hervorzurufen und veranlassen Kathleen zu einem unmotivierten, mit „Zuckerguss“ überzogenen Zukunftsoptimismus: „Die Welt, die Kathleen ihrer Enkelin hinterlassen würde, würde so viel besser sein. Plötzlich empfand sie eine Freude, die sie selbst überraschte.“

Titelbild

J. Courtney Sullivan: Sommer in Maine. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Henriette Heise.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
512 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062122

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