Leben mit dem Peter-Pan-Syndrom

Peters Truschners Roman „Das fünfunddreißigste Jahr“ bearbeitet die Daueradoleszenzkrise einer Generation

Von Christiane BarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Barz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste Szene dieses Romans ist buchstäblich ein Sprung ins kalte Wasser: Während der Protagonist mit später Morgentoilette beschäftigt ist, verfolgt er nebenbei im Fernsehen die spektakuläre Nordpoldurchschwimmung eines Extremsportlers. Er bewundert den Selbstüberwinder im Polarmeer, der mit seiner sportlichen Höchstleistung auch noch globalisierungskritisches Engagement beweist, indem er mit seiner Aktion auf den Rückgang des Polareises aufmerksam macht. Größer könnte der Kontrast nicht sein, mit dem Peter Truschner seinen Mittdreißiger-Roman eröffnet, denn sein Held ist bereits vom Wechselduschen überfordert. Miesepetrig registriert er im Spiegel mit narzisstischer Schonungslosigkeit die Symptome körperlichen Alterns, dem keine persönliche Reifung entspricht, und kommt zu der sentenzhaften Erkenntnis: „Ich sehne mich nach Veränderung, scheue jedoch die Unannehmlichkeiten, die sie mit sich bringt, wie die Pest“. Damit ist die Problemlage umrissen, mit der Truschners namenloser Held so einsichtsvoll wie konsequenzlos hadert. Dieser studierte klassischerweise „Geisteswissenschaften“ und war bislang erfolgreich vor dem „Ernst des Lebens“, sprich Beruf und Familie, auf der Flucht. Der Reiz des Noch-nicht-Festgelegten, des Schwelgens in der Potentialität der Lebensentwürfe auf der einen und der Drang nach einem erwachsenen Wirklichkeitsbezug und verlässlichen Bindungen auf der anderen Seite ist ein Motiv mit langer Tradition nicht zuletzt in der österreichischen Literatur.

Schon bevor man den neuen Roman von Peter Truschner überhaupt aufschlägt, ist mit dem Titel ein wichtiges Signal für die Lektüre bereits gesetzt: „Das dreißigste Jahr“ von Ingeborg Bachmann (wie Truschner in Klagenfurt geboren) wirft seinen Schatten voraus. In Bachmanns eher reflektierendem als erzählendem Text von 1961 räsonierte ein Dreißigjähriger über seine provisorische Existenz zwischen der Fülle imaginierter Lebensmöglichkeiten und dem Anwachsen des bereits Versäumten. Die Erzählung kondensiert das ambivalente Lebensgefühl einer Generation zwischen Haltlosigkeit und Stagnation, Übererwartung und Erlebnisleere. Diesem Psychogramm einer das Erwachsenwerden verschleppenden Spätjugend spürt Truschner in seinem dritten Roman nach und verteilt dabei Bachmanns Generationen-Anamnese auf sein gesamtes Figurenensemble.

Die Gegenwart, aus der heraus der Erzähler sein Lebensgefühl und das seiner Altersgenossen erforscht und kommentiert, besteht in einem langweiligen Bürojob, den er ohne Interesse und deutlich überqualifiziert erledigt, und in einer gerade beendeten Beziehung, aus der ihn der Kinderwunsch seiner Freundin – erlebt als Drohung mit „Zeugung und Aufzucht“ – vertrieben hat. Überhaupt sind die Frauen bei Truschner lebenspraktisch überlegen. Neben ihnen nehmen sich sämtliche Männerfiguren erst recht als profilneurotische, infantile Weichlinge aus, wie ja das klinische „Peter-Pan-Syndrom“ schlechthin als Männerphänomen definiert ist. Zurück bleibt ein Unbehagen an der eigenen Ziellosigkeit, für die der Erzähler sich eigentlich zu alt findet: „Nun bin ich Mitte dreißig, und mir scheint, dass ich in gewisser Hinsicht offener bin, als ich es jemals war, dafür jedoch auch orientierungsloser“.

Die Duschprozedur vom Anfang hatte er sich zu dem Zweck verordnet, seine chronische Müdigkeit und Antriebsarmut zu vertreiben, über deren Ursache er sich im Folgenden Klarheit verschaffen möchte. Diesen Rückblick auf das eigene Geworden-Sein erzählt der Roman zunächst anhand von Begegnungen mit der abgelebten WG-Spaßgemeinschaft. Da ist Tony, ein arbeits- wie bindungsloser Dauerpubertist, der die alkoholbenebelte Planlosigkeit seiner Existenz zur aktiven Protestattitüde stilisiert; Sabine, eine Juristin mit Dornröschen-Syndrom; Steffen ein ehrgeizfrei seinem Indienerlebnis hinterherkiffender WG-Nostalgiker; Axel, ein Studienabbrecher, der seiner ramponierten Jugendlichkeit beim Verwelken zusieht.

Sie alle sind sich in ihrer dysfunktionalen Individuationsblockade durchaus bewusst, dass ihre „persönliche Scheiße“ nichts weiter ist als „die runtergekommene Variante eines Privilegs“, eine letztlich risikolose Verweigerungsattitüde des abgesicherten Mittelstandes. Damit sind sie Wiedergänger der Generation der 100 Jahre früher geborenen „Jung Wiener“ um Hugo von Hofmannsthal. Dieser Kreis von Söhnen des gehobenen Bürgertums konnte ohne berufliche Verpflichtungen ihr Schwelgen und Leiden am illusorischen Allmachtszustand einer ausgedehnten Jugend literarisch produktiv machen. Für dieses nicht altersgemäße Verharren in einer Möglichkeitssphäre ohne die mit dem Erwachsenwerden verbundene Einschränkung des Potentiellen prägte Hofmannsthal den Begriff der „Präexistenz“. In eben dieser biografischen Blase jenseits von Selbstbehauptung und Weltbewährung schweben auch Truschners Figuren.

Mit seinem Roman geht er glücklicherweise über den Horizont einer Jugendlichkeitszelebrierung nach Art der Popliteratur und auch über das im Klappentext verheißene Panoptikum lebensuntüchtiger Mittdreißiger hinaus. Es geht um die Ratlosigkeit der Generation „Ihr-sollt-es-einmal-besser-haben“, die aller Postkonventionalität zum Trotz nach wie vor an den Lebensentwürfen der Eltern ausgerichtet bleibt. Zwar haben sich familiäre Herkunftstraditionen, was Berufswahl und Lebensstile angeht, weitgehend aufgelöst, doch Truschner zeigt, wie der Übergang von den konventionellen Üblichkeiten zur Wahlfreiheit schnell zum überfordernden Wahlzwang werden kann: „Kinder sollen immer jenes Leben leben, das bereits ihre Eltern gelebt haben – oder aber jenes, das ihren Eltern vorenthalten wurde, aus welchen Gründen auch immer. Verweigern sich die Kinder oder scheitern daran, leiden die Eltern nicht nur wegen ihrer Kinder, sondern auch ihrer selbst wegen.“

Die Mutter des Protagonisten, eine Bauerstochter, konnte die Lebensvorteile des Ausbruchs aus der Tradition noch nicht für sich nutzen. Sie floh vor katholisch-roher Provinz und prügelndem Vater in die Ehe mit einem ebenso gewalttätigen Hallodri von Mann, der sie bald mit dem Kind sitzenlässt und sich aus dem Staub macht. Seither ignoriert der Erzähler seinen Vater als „Untoten“, wohl wissend, dass er sich mit dieser bockigen Verweigerung einer wesentlichen Reifungsmöglichkeit begibt. Das Bewusstsein, andere Lebenschancen zu haben als die Eltern, bringt die Last mit sich, diese nun auch optimal zu nutzen. Der Determinationsdruck durch die Eltern wird lediglich von deren Erwartungsdruck abgelöst. Sinn und Orientierung sollen heute, wo doch der Jugend scheinbar „die Welt offen steht“ ex nihilo aus dem Boden gestampft werden, und das führt zu einem steigenden Rechtfertigungsdruck auf das individuelle Leben. Ein Symptom dafür ist neben den zahlreichen Literarisierungen des Reifungsmoratoriums einer Peter-Pan-Generation die boomende Branche der Glücksratgeber und Leitfäden zur Selbstoptimierung. Truschner führt mit einem Personenensemble eine Generation vor, die bei allem, was sie tut, damit beschäftigt ist, die vermeintlichen Erwartungen der Eltern zu erfüllen oder sich gegen sie zu wehren. In beiden Fällen – in der Affirmation wie in der Abwehr – bleibt die selbstgewählte Fremdbestimmung in der Fixierung auf die Eltern die gleiche. Am Schluss des Romans, nachdem der Held einen ersten Kontakt zu seiner Halbschwester hergestellt hat und sich damit die Leerstelle des Vaters zu füllen beginnt, gewinnt der Ich-Erzähler einen Anflug von Autonomie. Die Szenerie dafür ist eine symbolträchtige Bergtour mit der Mutter, auf der das eingeübte Rederitual zwischen Versagersohn und enttäuscht fordernder Mutter aufgebrochen wird, indem die Mutter auf den Inszenierungscharakter dieser Scharmützel hinweist: „Hör mal: Du wirst dir das, was ich dir vorhalte, doch nicht plötzlich zu Herzen nehmen. Da wäre ich ja schön enttäuscht von Dir.“ Der lähmende Erwartungsdruck wird hier plötzlich als Zuschreibung an die Eltern greifbar. Erst damit kann sich der Weg in die Selbstverantwortung öffnen. Auf diese Weise endet der Roman versöhnlich, ohne der Problematik ihre Brisanz zu nehmen.

Das thematische Inventar von Truschners Roman ist nicht neu, aber er ist intelligent komponiert und kommt erfreulicherweise ohne anbiedernde Aktualitätshuberei aus („neue Medien“ oder Virtualisierung des Lebensvollzugs et cetera). Im erbarmungslos genauen Blick auf seinen Helden mischen sich Melancholie und Komik so scharfsichtig wie unterhaltsam, so dass man diese Truschner’sche Version eines strapazierten Genres gerne liest, zumal in die Lektüre so schöne Apercus eingestreut sind wie dieses: „Der Wille zum Unglück verleiht selbst den Antriebslosen noch die Verve einer Richtung.“

Titelbild

Peter Truschner: Das fünfunddreißigste Jahr. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
238 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054813

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