Poetologie muss nicht trocken sein

Alban Nikolai Herbsts frühe theoretischen Reflexionen über Kunst und Literatur sind nun erstmals in dem Band „Schöne Literatur muss grausam sein. Aufsätze und Reden I“ erschienen

Von Sarah PogodaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Pogoda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kybernetisch“ scheint eine zentrale Vokabel in Alban Nikolai Herbsts poetologischem Denken zu sein. Seine Heidelberger Poetikvorlesung 2007 betitelte er „Kybernetischer Realismus“, dem zweiten Roman seiner Anderswelt-Trilogie „Buenos Aires“ (2001) gab er die Genrebezeichnung „Kybernetischer Roman“. Und als sei das ein Omen gewesen, erfüllt sich seitdem für das Andersweltprojekt das kybernetische Prinzip. Denn weil kein Verlag das dritte Buch („Argo“) veröffentlichen wollte, bleibt die Trilogie bis heute im beständigen Umschreibungsprozess, zugänglich dem interessierten Leser einzig über die Webpräsenz des Autors Herbst. Dem Weblogprinzip folgend, kann man auf „Argo“ aber nicht als monolithische Bucheinheit, sondern nur in Fragmenten zugreifen. Diese sind zudem nicht einem autoritären narrativen Sinn gehorchend geordnet, sondern entsprechend einer Webchronologie: die Textteile, an denen Herbst (oder andere Mitschreibende) jüngst etwas veränderte, findet man zuerst.

Mit „Weblog“ ist zugleich ein zweiter zentraler Begriff von Herbst Poetologie benannt. Seine erste theoretische Annäherung an das Weblog wurde 2011 unter dem Titel „Kleine Theorie des Literarischen Bloggens“ bei der „edition taberna kritika“ veröffentlicht. Und wie im Vorgängerkonzept des Kybernetischen ist das Bloggen nicht nur ein Gegenstand theoretischer Überlegungen, sondern als konzeptionelles Fundament Ausgangspunkt und Modell von Herbsts literarischem Schreiben.

Herbst ist – so zeigen diese jüngsten Publikationen – ein Schriftsteller, der seine literarische Arbeit – die neben Romanen und dem Weblog, auch Hörstücke, Gedichte, Novellen und Erzählungen umfasst – stets reflektiert. Weniger stetig allerdings konnten diese Reflexionen auch publiziert werden, so dass vor allem seine frühe Phase literarischer Reflexion bislang kaum dokumentiert und in Buchform zugänglich war. Das hat der Berliner Verlag „Kulturmaschinen“ nun geändert. Unter dem charakteristischen Titel „Schöne Literatur muss grausam sein“ bündelt dieser erste Band Aufsätze und Reden Herbsts aus den Jahren 1995 bis 2006 und schließt damit die Lücke zu Herbsts erster großen Theoriepublikation im Rahmen der Heidelberger Poetikvorlesungen 2007: „Kybernetischer Realismus“.

Eine sinnvolle Verlagsinitiative, wie Lesern, die mit Herbsts literarischem Werk seit den 1980er-Jahren vertraut sind, schnell einleuchtet. Denn deutlich zeichnet sich mit dieser Kollektion eine poetologische Genealogie ab, aus der Herbsts Schreiben als eine Zusammenführung der literarischen Romantik mit dem digitalen Zeitalter jenseits postmoderner Beliebigkeit hervorgeht. Offensichtlich wird, mit welch großem Ernst und Glauben an die Kraft der Poesie und Literatur da ein Autor seine Arbeit versteht und praktiziert.

So auch in dem titelgebenden Text „Schöne Literatur muß grausam sein“. In dieser bislang unveröffentlichten Rede vor der Leipziger Literatur-Konferenz 2002 zeigt sich die Radikalität des Autors Herbst, der hier Literatur zum Erfahrungsort existentieller Intensität bestimmt. Das Intensive ist der originäre Ausnahmezustand, der alles Alltägliche negiert und im Krieg die wohl existentiellste Form findet. Dem Kriegszustand gleich muss Literatur als Ort des Intensiven auf grausamste Weise mit allen Konventionen brechen: „Eine Literatur, der es darauf ankommt, die momenthaften Singularitäten intensiven Lebens zu gestalten, kann deshalb […] nicht sozial sein, – sie muß ,schlecht‘ sein oder, wie man das zu Zeiten romantizistischer Expressionen nannte, ,dunkel‘. Sie muß, mit einem anderen Wort, grausam sein. Genau so grausam und unbedingt wie Liebe und wie der Verlust, wie Haß und Begehren.“

Liebe, Verlust, Schmerz, Hass, Begehren sind Formen intensiven Erlebens, nach denen sich – so Herbst – das Leben jenseits aller banalen Alltäglichkeit sehnt, die allerdings im Alltag verdrängt werden. Einzig die Kunst bietet Erlösung, indem „die verdrängten Süchte nach Intensität […] kathartisch befriedigt (also: ausgelebt)“ werden können. Doch erlösend ist nur eine solche Kunst, die die Entgrenzung sucht, also intensive Momente von Hass, Gewalt, Schmerz, Lust, Begehren konstituiert, sprich: „Schöne Literatur muss grausam sein“.

Es ist dieser Aufruf zur grausamen Literatur, in dem sich Herbst zu Pathos und ekstatischer Größe bekennt. Und es ist dieses Bekenntnis, dass ihm die Distanzierung von den Ironikern der Postmoderne erlaubt und tatsächlich ein Charakteristikum im Denken und Schreiben von Herbst bezeichnet. Denn obwohl die Aufhebung ästhetischer, narrativer und moralischer Konventionen auf beiden Seiten der Postmoderne zu finden sind, so ist Herbst das Anything goes einer spielerisch-ironischen Beliebigkeit souveränen Unernstes der popliterarischen Postmoderne völlig fremd, ja ist ihm, wie auch der Moralismus des Realismus deutscher Nachkriegsliteratur, sogar ein explizites Feindbild in der gegenwärtigen Literaturlandschaft.

So betont Herbst auch in einem weiteren Erstdruck mit dem Titel „Um das Es zum Sprechen zu bringen“ – einem Vortrag vor dem Niederösterreichischen Landesmuseum Linz anlässlich der einer Fantastik-Ausstellung – seine Abneigung gegenüber realistischer Literatur. Zum Realismus zählt Herbst alle künstlerischen Formen, die sich an Konventionen aller Art halten. Realistisch kann daher auch ein Science-Fiction Roman, ein Jerry-Cotton-Heft oder ein Dracula-Film sein, solange sie konventionelle Rezeptions-Regeln erfüllen. Wahrhaft fantastische Kunst aber bricht mit Genreregeln, entgrenzt die dargestellte Wirklichkeit in einem solchen Maße, dass die Sicherheit des Lesers irritiert wird: „Die Phantastik mißtraut dem Augenschein, den der sogenannte Realismus für Welt nimmt.“ Als Erkenntniskritik misstraut Fantastik Kausalitäten. „Das phantastische Element scheint im sinnlich Unzugänglichen […] durch […]. Phantastik arbeitet mit unbegriffenem oder gar nicht begreifbarem Inneren, sie schafft ihm Bilder und/oder setzt die stehenden archetypisch-kollektiven Bilder in Erzählprozesse um, wodurch sie sich verflüssigen“. Damit ist Fantastik die literarische Form des Unbewussten – Das literarisch gewordene Unbewusste des Autors und Lesers.

Fantastik zeigt das Unheimliche, das immer schon in uns ist. Dem, was unbewusst ist, also existiert, aber sich nicht zeigt, gibt die Fantastik einen literarischen Raum und macht es sichtbar als das immer schon Vorhandene und Dagewesene, aber im Innern Verborgene. Sie inszeniert es als solches und gibt es dem Leser zu erkennen, dem es als das Unheimliche Unbehagen bereitet und ihn von diesem Unbehagen nicht erlöst. Erlösung darf es nicht geben, denn hier wird das ewig Unheimliche – das Es – zum Sprechen gebracht.

Herbsts poetologische Überlegungen plädieren folglich für die Entgrenzung in der Kunst und für eine Kunst der Überschreitung, in der die latenten Intensitäten des alltäglichen Lebens in ästhetischen Formationen durchbrechen und sich dem Leser transzendieren. Dieses radikale Literatur- beziehungsweise Kunstverständnis hat für Herbst in allen Genres Gültigkeit. Dem Ernst seiner Ausführungen entsprechend, betreibt Herbst einen enormen theoretischen Aufwand, der sogar in anthropologische Grundlagen zurückführt. Herbst bedenkt also in seinen poetologischen Texten nicht nur sein literarisches Arbeiten und seine Rolle als Autor, sondern er bedenkt immer auch den Menschen selbst: „Anthropologie bedeutet Wissen(schaft) vom Menschen. Wenn sich das Wissen ändert, hat sich dann notwendigerweise auch der Mensch verändert oder nur die Hinsicht auf ihn?“. So lautet eine paradigmatische Überlegung Herbsts im 3. von 44 Partikeln in „Die anthropologische Kehre“ (2004), jenem Manifest, das Herbsts Übergang zum „Kybernetischen Realismus“ und zum „Literarischen Bloggen“ wohl besonders eindrucksvoll markiert. Die 44 Thesen zum Wandel des autonomen Menschensubjekts und seiner Beziehungen zu seinen Mitmenschen und zur Technik im Zeitalter des Internets sind auch ein weiterer Beleg dafür, dass Herbst in seinen hier gesammelten Texten immer auch klare politische und gesellschaftliche Position bezieht.

Doch gleich ob ästhetische, politische oder gesellschaftliche Themen – ihre Vielfalt zeigt, dass sich das Denken und Schreiben Herbsts nicht konsequent linear auf seinen heutigen Standort hin entwickelte. Vielmehr tanzte und tanzt Herbst auf vielen Umwegen und Abstechern auch heute noch in allen Gassen. Oft provozieren seine starken Thesen, die trotz zahlreicher Belege und solidem Anmerkungsapparat nicht immer nachvollziehbar belegt werden, den Widerspruch des Lesers. Dieses macht die Texte jedoch zugleich auch kommunikativ – und kybernetisch.

Titelbild

Alban Nikolai Herbst: Schöne Literatur muss grausam sein. Aufsätze und Reden I.
Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2012.
286 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783940274380

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