Ein Ghetto gebaut aus Worten

Der Kampf gegen den Vorwurf der Kollaboration bestimmte das Leben der Sängerin Wiera Gran – Agata Tuszynska hat es dokumentiert

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Du musst den Feind ,loslassen‘. Nimm eine Haltung an, die Dich in jeder Lage des Verfahrens sachlich reagieren lässt. Gib brav schriftlich Auskunft, verschieße dein Pulver nicht zu schnell und halte Dich bedeckt. Das Interesse der Leute wird rasch erlahmen, und sie werden sich das Maul über jemand anderen zerreißen.“

Der lebenskluge Rat eines liebenden Menschen. Wiera Gran handelte ihm ein Leben lang zuwider. Eineinhalb Jahre lebte die jüdische Chanson-Sängerin im Warschauer Ghetto; im August 1942 kam sie auf die sogenannte arische Seite, wo sie mit Glück und Hilfe bis zum Kriegsende überlebte. 2010 brachte in Polen die Biografie Agata Tuszyńskas die vergessene und einst so verrufene Gran der Öffentlichkeit in Erinnerung. Die deutsche Übersetzung erschien in diesem Frühjahr, pünktlich zum 70. Jahrestag von Ghetto-Aufstand und anschließender Liquidierung.

„Du lebst also?“ Lakonisch begrüßte Władysław Szpilman, jener weltberühmte Überlebende, zu Beginn 1945 seine ehemalige Kollegin aus dem Ghetto, als diese ihn um Unterstützung für ein Engagement beim polnischen Rundfunk bat. Der Warschauer Aufstand war zu Ende gegangen, die deutsche Wehrmacht war abgezogen. Und: „Ich habe gehört, du hast für die Gestapo gearbeitet.“ Ausgesprochen war der Vorwurf, der Gran ein Leben lang begleiten sollte, auch weil sie ihn selbst – entgegen dem Rat ihres ehemaligen Lebensgefährten Kazimierz Jezierski – nie loslassen konnte.

Szpilman weigerte sich, Grans Ansinnen zu unterstützen, seinem Rat folgend meldete sie sich selbst beim polnischen Ministerium für Staatssicherheit und bat um Aufklärung. Es folgten eine zweiwöchige Haft mit demütigenden Verhören im Mai 1945 und der Prozess vor dem Bürgertribunal des Zentralrats der Juden in Polen von Ende 1946 bis Januar 1949. Freispruch aus Mangel an Beweisen, doch die Verleumdung lag weiterhin in der Luft, nicht greifbar und zugleich machtvoll, wie es nur Worte sein können. Zahllose Zeitzeugen und Gefährten Wiera Grans waren vernommen worden, manche hatten sie belastet, manche entlastet, keine Aussage war stichhaltig. 1950 verlies Gran Mann und Land und reiste nach Israel aus, wo sie von denselben Vorwürfen empfangen wurde, die sie meinte, hinter sich zu lassen. 1952 dann die Übersiedlung nach Paris, Gran nimmt Platten auf, hat Engagements, tourt durch die Welt. Wo sie auch hingeht, die Vorwürfe sind oft schon da, jüdische Verbände protestieren an vielen Orten gegen ihre Auftritte. Einen zweiten Höhepunkt erreicht die Affäre, als Gran 1971 in Israel Konzerte geben möchte. Die Veranstalter erhalten Ermahnungen, Gran nicht auftreten zu lassen. Neue, Gran belastende Artikel erscheinen in Israel und Polen. Der zweite Prozess wegen vermeintlicher Kollaboration Grans mit den Nationalsozialisten dauert von 1975 bis 1982 in Tel Aviv, er endet ohne Urteilsspruch. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist Wiera Gran ein gebrochener Mensch. Fortan lebt sie in ihrem eigenen Ghetto, gebaut aus Beschuldigungen, wahren und unwahren Erinnerungen.

Von 2003 bis zu Grans Tod 2007 suchte die polnische Publizistin und Biografin Agata Tuszyńska Wiera Gran regelmäßig in Frankreich auf, trotzte Grans Hass, Verfolgungswahn und Vulgarismen, recherchierte in Polen, Israel, Deutschland und überall dort, wohin die Anschuldigungen vorgedrungen waren. Endgültige Antworten – schuldig oder nicht – kann auch Tuszyńska nicht geben: Das Knäuel aus bewussten und unbewussten Lügen und trügerischen Erinnerungen war schon kurz nach Ende der deutschen Besatzung unentwirrbar geworden. Tuszyńska formuliert für sich, zwischen der Wiedergabe von Gesprächen mit Zeitzeugen und der Schilderung von Grans konsequentem Weg in die Verbitterung, einen anderen Zweck: „Weil das Ghetto für mich eine Messlatte ist. Ich will überleben und wissen, welchen Preis man dafür bezahlen muss. Habe ich vielleicht deswegen Wiera Gran aufgestöbert?“

Das mag die Motivation der Autorin gewesen sein, die beharrlich und besonnen ein wenig Licht in einen düsteren Lebenslauf bringt. Tuszyńska bewahrt ihre neutrale Position zwischen widersprüchlichen Dokumenten und gegnerischen Akteuren, sie meistert den schweren Gang an der Grenze zwischen Empathie und kritischer Distanz. Wiera Gran ist eine ambivalente Figur, der zu jeder Zeit vor allem Liebe und Nachsicht zu fehlen scheinten. Tuszyńska beschönigt nichts.

Ergreifend ist ihre Biografie aber nicht, weil sie tatsächlich und unmittelbar den Preis des Überlebens in unmenschlichen Zeiten anschaulich macht. Die Gräuel des Krieges spart der Text weitgehend aus. Was täglich ertragen musste, wer im Ghetto und unter deutscher Okkupation lebte, stellen andere Dokumente präziser und ausführlicher dar. Tuszyńskas Buch zeigt vielmehr ein tragisches Schicksal im klassischen Sinne, vom Anfang bis zum Ende: Wiera Gran, die eitle Sängerin, möchte eine Wahrheit über sich herstellen, Wort mit Wort bekämpfen und eine anonyme Masse an Menschen zu einem Urteil zwingen, das ihr richtig erscheint. Sie möchte beherrschen, was unzähmbar ist: das Gerücht. Akribisch und wahnhaft dokumentiert sie die Anschuldigungen, die immateriellen und materiellen Verluste, die ihr der Krieg zugefügt hat. Blind und taub ist sie für die Erkenntnis, die Jezierski ihr in seinem eingangs zitierten Brief aus den 1970er-Jahren vermitteln möchte: Glaube ist auch und unter manchen besonderen Umständen ausschließlich ein Geschenk – und ein Geschenk kann niemand einfordern.

Am Beispiel dieses tragischen Fehlers einer Einzelnen gelingt es der Autorin, zwei weitere Phänomene fassbar zu machen. Erschreckt und deprimiert über die Unsolidarität und die die Zeit überdauernde gegenseitige Verachtung unter den Überlebenden des Holocaust zeigt sich Tuszyńska selbst an einer Stelle. Leichtfertig äußern die Überlebenden schwere moralische Vorwürfe. Das Übel, das die Nationalsozialisten zur Tugend umgewertet hatten, die Denunziation, lebt in den Opfern fort. Überdies macht uns Grans Beispiel den Trug bewusst, den wir immer wieder suchen: Unsere Welt liebt einseitige Wahrheiten und Heldengeschichten. Entschieden bezieht Tuszyńska zur Wirkung medialer Mythisierung Stellung. Władysław Szpilmans Autobiografie wurde dank Roman Polańskis Oscar-geadeltem Film der Welt bekannt: „Szpilmans Darstellung der Ereignisse hat die Welt erorbert. Ich kann nicht bestätigen, dass sie wahr ist. Es war seine eigene Version. Wiera wurde aus dem Bild entfernt, aus dem Rahmen genommen wie ein Volksfeind auf sowjetischen Fotografien. Ausgeschlossen aus einer Realität, von der sie ein Teil war.“ Bis zu seinem Lebensende hielt Szpilman auf Nachfrage an den Vorwürfen Gran gegenüber fest, die er jedoch während des ersten Prozesses nicht bekräftigen wollte. In seiner Lebensgeschichte erwähnt er sie nicht.

Ein begleitender Pianist hatte den Weg ins Scheinwerferlicht gefunden, die glamouröse Sängerin verschwand im Schatten. Es klingt wie eine späte Zurechtrückung der Wirklichkeit. Doch alle Erkenntnis ist eine Frage der Perspektive und vor allem des Weges, den man zu gehen bereit ist. Agata Tuszyńska hat sich in den Schatten gewagt.

Titelbild

Agata Tuszynska: Die Sängerin aus dem Ghetto. Das Leben der Wiera Gran.
Übersetzt aus dem Französischen von Xenia Osthelder.
Insel Verlag, Berlin 2013.
373 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175742

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