Mahler hören und lesen

Über Carl Niekerks kulturhistorisches Komponistenporträt „Reading Mahler: German Culture and Jewish Identity in Fin-de-Siècle Vienna“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Yale und Mary in Woody Allens „Manhattan“ über ihre „Akademie der Überschätzten“ witzeln, fällt als erstes der Name Gustav Mahler. Ob dies tatsächlich der antisemitischen Prämisse geschuldet ist, dass jüdische Künstler nichts Neues erschaffen können, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass die Rezeption von Mahlers Musik bis heute sehr von Ambivalenzen geprägt ist.

Carl Niekerk versucht in „Reading Mahler“ den Blick auf dessen Musik zu schärfen und gibt gleich zu Beginn zu bedenken, „that our perception of Mahler’s music is at least in part the product of historically and culturally specific expectations that we associate with his work“ – in Anspielung auf die glattgebügelten und politisch instrumentalisierten Interpretationen von Bruno Walter zur Zeit des austrofaschistischen katholischen Regimes unter Kurt Schuschnigg und den die kritischen Untertöne und Heterophonien beachtenden Interpretationen Leonard Bernsteins.

Der Literaturwissenschaftler Niekerk nutzt in Abgrenzung zu den üblichen Studien über Mahler bewusst nur die Texte als Zugang in die Gedankenwelt des Komponisten, die Mahler für seine Kompositionen wählte oder schrieb, und versucht, daraus eine programmatische Essenz zu extrahieren: „not only to answer the question of how Mahler’s Jewishness influenced his music, but also to determine what the consequences of this insight are for us and for our attitudes toward cultural history, no matter what traditions we may belong to ourselves.“

Die Gedanken des Autors sind durchaus nachvollziehbar, aber leider bisweilen sehr spekulativ, denn Mahler selbst hat nur wenige handfeste Aussagen über eine zugrundeliegende Programmatik hinterlassen, ja, seine Aussagen bisweilen sogar mehrfach revidiert. Als Leser kann man sich somit selten sicher sein, ob die Erläuterungen auch Mahlers Intention entsprechen. Und wenn Niekerk dann auch noch anmerkt, „[that] we have to face the fact that Mahler’s music tells a different story to each listener“, gerät der Leser schon etwas ins Grübeln, ob dem Autor bewusst ist, dass abseits der Opern- und Theatermusik lineare Tonbilder statistisch doch eher die Ausnahme bilden.

Dennoch: Niekerk interpretiert etwa Mahlers „Titan“ als eine Art Anti-Bildungsroman und die folgenden drei Symphonien als musikalisches Triptychon über Religion, Natur und Humor (im Sinne Friedrich Nietzsches), was ein durchaus schöner Gedanke ist und auch gut ausgearbeitet wird. Wieso jedoch spricht er den Symphonien 5 und 6 in einem kurzen Nebensatz jegliche Programmatik ab? Eine kurze Erläuterung hätte der Sache hier gutgetan, denn allein am fehlenden Text kann es schließlich nicht liegen.

Spannend ist die Gegenüberstellung mit der Person Richard Wagners, insbesondere, da Mahler von 1877 bis 1879 Mitglied des Wiener Akademischer Wagner Vereins war. Natürlich mag der Austritt mit Wagners politischer Gesinnung zu tun gehabt haben, dennoch schätzte Mahler zumindest den jungen Künstler Wagner durchaus. Niekerk gibt zu, dass allein die Aussage Wagners, die „choral symphonies“ hätten nach Beethovens Neunter keine Zukunft, nicht der Grund sein kann, dass Mahler sich dieser Gattung verschrieb. Dennoch strebt der Literaturwissenschaftler regelmäßig den Vergleich zwischen Mahlers Symphonien und Wagners ‚Agenda‘ an. Hierbei fällt jedoch völlig unter den Tisch, dass auch Wagner zwei Symphonien – allerdings mit recht geringem künstlerischem Wert – und Skizzen zu weiteren hinterließ, weshalb auch hier einige Fragen offen bleiben. Erwähnt wird bei den Studien zu Mahlers achter Symphonie lediglich Wagners Arbeit an einer Faust-Symphonie, die letztlich verworfen wurde – worauf die Verwendung der Textfragmente aus Goethes modernem und kosmopolitischem Drama „Faust II“ als bewusst anti-wagnerianisch proklamiert wird. Ästhetische Präferenzen werden hingegen kaum in Betracht gezogen.

Ganz nebenbei bemerkt verwendet Niekerk den Begriff „choral symphonies“, obwohl die Aussage Wagners wohl eher die Symphonie im Allgemeinen meinte, da selbst Beethoven scheinbar die Grenzen des symphonischen Ausdrucks erreichte – dafür spricht auch Wagners Fokussierung auf das „Gesamtkunstwerk“. Und auch Johannes Brahms soll einst angemerkt haben, dass das Schreiben von Symphonien bereits nach Haydn keinen Spaß mehr machen würde, weshalb solche Aussagen ohnehin nicht auf die Goldwaage zu legen sind.

Falsch ist auf jeden Fall Niekerks Behauptung, dass Mahler nach Beethoven die einzige prominente Erscheinung im Genre der Choralen Symphonie wäre – man denke etwa an die „Faust-Symphonie“ von Franz Liszt, die in den Studien zu Mahlers achter Symphonie dann sogar erwähnt werden –, Felix Mendelssohn-Bartholdys „Lobgesang“ oder die zeitnahe „Kullervo-Symphonie“ von Jean Sibelius.

Trotzdem liefert Niekerks Studie im Ganzen betrachtet doch einige interessante Ansätze – oder Fragmente, um der Formulierung des Autors zu folgen –, die dabei helfen können, den Blick auf den Menschen Gustav Mahler zu erweitern und das Bild des Komponisten zu vervollständigen. Etwas unbefriedigend bleibt jedoch die Antwort auf die anfängliche und gewichtige Frage des Autors, inwieweit Mahlers jüdische Herkunft seine Musik beeinflusste. Niekerk stellt zwar durchaus den kritischen Unterton bei der Verwendung christlicher Symbolik dar, der aufgrund Mahlers Konvertierung zum Katholizismus leicht zu übersehen ist, und interpretiert die Heterogenität von Mahlers Werken auch als Ausdruck einer ,stillen‘ Rebellion gegen das Bild des assimilierten und vorgeblich ,unkreativen‘ Juden; letztlich bleibt aber auch hier viel Interpretationsraum.

Doch ein Hauch von Mysterium scheint ohnehin wünschenswert, denn wie Robert Schumann einst so schön bemerkte: „Es besitzt der Mensch eine eigene Scheu vor der Arbeitsstätte des Genius; […] wir würden schreckliche Dinge erfahren, wenn wir bei allen Werken bis auf den Grund ihrer Entstehung sehen könnten.“

Titelbild

Carl Niekerk: Reading Mahler. German Culture and Jewish Identity in Fin-de-Siècle Vienna.
Camden House, Rochester 2010.
312 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9781571134677

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