Zettel-Träume und das ungeschriebene Werk

Walter Erharts Studie über Wolfgang Koeppens Scheitern und das Ende modernistischen Schreibens

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende gab selbst Erika nichts mehr preis. Die Schreibmaschine – denn um eine solche handelt es sich – „hat noch das stabile Gestell ernster Geschäftsprovenienz, in ihrem dicken, grauen Leib aus Gusseisen steckt das Wort, das ich suche, schlafen die Sätze, die ich nicht finde, drängt sich der ungehörige Text“. Wovon der Autor so beredt Auskunft erteilt, ist das Eingeständnis, nicht mehr schreiben zu können. Das Bild ästhetischer Zeugung, der alte Mythos der „weiblichen“ Schreibmaschine, die den Text des „männlichen“ Schriftstellers zur Reife und dann zur Geburt bringt, trägt für Wolfgang Koeppen nicht mehr.

Seit Jahrzehnten gilt er als verstummt, publiziert allenfalls Beiläufiges, Vorläufiges, Nebenläufiges. Den nächsten Roman, der an den Erfolg seiner Nachkriegs-Trilogie anknüpfen sollte, hat er nicht publiziert. Koeppens Werk verlagerte sich stattdessen auf ein anderes, nicht weniger fiktive Genres: den literarischen Reisebericht. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre bereiste er mit seinen Lesern Frankreich, nahm sie auf eine „Amerikafahrt“ mit und entführte sie nach „Russland und anderswohin“. Mit Erscheinen von „Jugend“ Mitte der siebziger Jahre vollzog Koeppen erneut eine Kehre, da er sich anscheinend nun in einer Autobiografie versuchte.

Eine Geschichte vom Scheitern

Wenn nun ein renommierter Germanist wie Walter Erhart ein 400 Seiten starkes Buch einfach „Wolfgang Koeppen“ betitelt, erwartet man wahrscheinlich eine Biografie. Doch diese Studie ist keine Beschreibung von Koeppens Leben: seine Kindheit in Greifswald und Masuren, die ersten Schreibaufträge als Journalist für den Berliner Börsen-Courier, das Exil in Holland und das Unterkommen beim Film während des Weltkrieges, schließlich das Leben und Arbeiten in München bis zu Koeppens Tod im Jahr 1996 kommen nur am Rande vor. Erhart thematisiert sie nur, wenn diese Stationen der Biografie in den Texten selbst auftauchen.

Vielmehr schreibt Erhart eine Geschichte der Entstehung Koeppen’scher Prosa. Oder anders gesagt, eine Geschichte der Verhinderung Koeppen’scher Prosa. Denn eines der Attribute, die mit dem Namen des Autors seit mehreren Jahrzehnten untrennbar verbunden scheint, ist, dass er ein „gescheiterter Autor“ sei. Je nach Perspektive mal positiv als Signatur modernistischen Schreibens gedeutet, für das Koeppen mit seinen Romanen „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“ und „Tod in Rom“ viel Lob erfuhr, mal negativ als persönliches Handicap des Schriftstellers ausgelegt, der Romane zwar ankündigt, sie aber nie vollendet.

Der Vorzug an Erharts Studie, die bezeichnenderweise den Untertitel „Das Scheitern moderner Literatur“ trägt, ist die Konzentration auf Koeppens literarisches Schaffen. Persönliche Defizite des Autors spielen keine Rolle, sie wären auch kaum mehr psychologisch angehauchte Spekulation. Dafür ist der Befund, den Erhart in diesem Buch präsentiert, auch zu bedeutend, da er den „Fall Koeppen“ in bestimmten Teilen nämlich überschreitet. Denn Koeppen ist – als verstummter beispielsweise gescheiterter Autor gebrandmarkt – nicht allein, eine ganze Galerie von Kollegen und Leidensgenossen kann Erhart dem Schriftsteller an die Seite stellen.

Und so wird deutlich, dass Koeppens Schreiben nicht individuelles Versagen vor dem nächsten Buch ist, sondern ein Problem enthält, das in der DNA moderner Prosa schon enthalten ist. Erhart identifiziert dies als zwei unterschiedliche Zugänge zum Schreiben, die sich widersprechen und deren Spannung Koeppen geradezu schmerzhaft bewusst war. Das Ringen des Autors mit seinen Texten, das Neuansetzen, das Umformulieren und das Überschreiben bereits publizierter Passagen werden so als das erkennbar, was sie waren: der Versuch, das Paradoxon modernen Schreibens – ein Schreiben über das Unschreibbare – aufzulösen.

Die Verflüssigung des festen Textes

Deshalb bedient sich Erhart auch bewusst keiner biografischen Methode, sondern wählt einen anderen Zugang. Sein Ansatz führt ihn nämlich in das Archiv, genauer gesagt, in das Riesenkonvolut aus Manuskripten, Notizzetteln und Druckfahnen, das im Wolfgang-Koeppen-Archiv bewahrt wird und durch Erhart und seine Mitarbeiter nach und nach zugänglich gemacht wurde. Dafür dreht der Germanist auch – nun seinerseits mit Erfolg – den Blick um. Statt den publizierten Text im Rückblick als festes und fixiertes Teilstück des Gesamtwerks zu sehen, „verflüssigt“ Erhart ihn in seinen Analysen.

Denn was den Germanisten interessiert, ist die Offenheit und Vorläufigkeit, mit der Koeppen jedes seiner publizierten Bücher und jeden der in Zeitschriften und Magazinen abgedruckten kürzeren Texte betrachtete. Von den ersten literarischen Texten, den beiden Romanen aus der Weimarer Republik, über die vielfältigen Reisetexte und das Jugend-Fragment bis schließlich zu den Filmbüchern, die Anfang der neunziger Jahre erschienen, wird ein rote Linie im Schaffen Koeppens deutlich. Diese ist, das kann Erhart in sehr genauen Detailuntersuchungen nachweisen, nur sehr schwer aus den Texten selbst zu rekonstruieren.

Erst der Gang ins Archiv, die Konfrontation der publizierten Texte mit Vor-, Um- und Überarbeitungen sowie die Einbettung in Koeppens Projekt, einen „großen“ Roman zu schreiben, zeigen die schriftstellerischen Versuche des Autors (die ihn und seine Verleger Goverts und Unseld bis in die Verzweiflung treiben), moderne Literatur jenseits der gängigen Konventionen zu schreiben. Denn das er den modernistischen Sound routiniert beherrscht, hatte Koeppen mit seinen Nachkriegsromanen eindrucksvoll bewiesen.

Doch das ihm das nicht reichte, wird erst in Erharts wundervoller Studie klar. Koeppens Reiseliteratur, seine Aufzeichnungen zum „großen Roman“ zeigen, dass Koeppen nicht einfach unterschiedliche Themen nacheinander mehr oder weniger erfolgreich abarbeitete, sondern dass er ein Leben lang ein bestimmtes Problemfeld umkreiste. Narrativ wie poetologisch versuchte Koeppen es zu bezwingen, doch jeder Versuch erwies sich nur als vorläufig. Der Schriftsteller verlagerte die Arbeit daran sogar in andere Medien wie den Film, weil er dachte, dass die Schwierigkeiten hier nicht präsent wäre.

Der Versuch, nach und mit der Moderne zu schreiben

Statt dem Konflikt zu entgehen, sieht Koeppen sich immer wieder auf dieselben Widersprüche zurückgeworfen. Mit viel Akribie und Detailkenntnis rekonstruiert Erhart die Werkentstehung und zeichnet die inneren Widersprüche nach, die Koeppens Texte aushalten müssen. Die Versuche des Autors, moderne Prosa zu verfassen, die sich frischer und nicht routinierter Elemente bedient, werden nachvollziehbar vor dem Leser ausgebreitet. Auch wird deutlich, dass Koeppen zeit seines Lebens nicht viele unterschiedliche Romanprojekte vorantrieb, sondern den einen „großen“ Roman schreiben wollte, der zwar je nach Entwurf eine andere Gestalt annehmen konnte, aber doch immer eine innere Einheit, ein inhärentes Wesen besaß.

Was Erhart mit seinem Gang ins Archiv zu zeigen vermag, ist das permanente Aufschieben, Verzögern und Verhindern von Literatur, die modern sein will, aber die Grenze der Konventionen, was als modern gilt, auch überschreiten will. Koeppen war nie verstummt, ganz im Gegenteil konnte das Erzählen an den unterschiedlichsten Situation wieder rasant in Fahrt kommen. Doch Koeppen fand keinen Halt im Erzählen, das war das Dilemma seines Lebens und seines Schreibens: Weder kann er der autobiografischen Erfahrung ein stabiles narratives Gerüst geben noch war er in der Lage, die Freiheit modernen Erzählens für seine Zwecke zu begrenzen.

Demzufolge ist das Scheitern schon ein von Anfang an konstitutives Element im Schaffen von Wolfgang Koeppen, mit dem er mal mehr, mal weniger erfolgreich zu ringen versteht. Das Potenzial für den großen Wurf hat bestanden, allerdings wusste der Autor nicht, die auseinanderstrebenden Facetten unter einen Hut zu bringen. Am Ende seines Lebens gesteht Koeppen, dass er seine Erika nicht mehr dazu zwingen kann, Worte für ihn hervorzubringen. „Ich schreibe gern auf diesem alten Gerät. Das ist gelogen. Ich schreibe nicht gern. Bald werde ich die schwere Schreibmaschine, in der alles ruht, was ich noch bin und sein könnte, nicht mehr zu heben vermögen.“

Hin und her geworfen zwischen Anfangen und Aufhören, zwischen moderner und konventioneller Literatur zeigen im Fall Koeppen sich exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens im 20. Jahrhunderts. Aber auch als Einzelfall lässt sich Koeppens „Scheitern“, sein beredtes Schweigen, dank des vorliegenden Buchs besser verstehen. Literatur wird begreifbar in ihrem Entstehungsprozess, sozusagen in the making. Dies umso besser, indem Erhart erstmals den Spuren nachgeht, die sich im Blick auf Koeppens archivierte Entwürfe, Sequenzen, Notizen und Skizzen ergeben. Dass Erhart dabei mit Verve und Witz schreibt – und an vielen Stellen das Koeppen-Bild gerade rücken kann – ist nur eine der vielen Stärken dieser überaus erhellenden Studie.

Kein Bild

Walter Erhart: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur.
Konstanz University Press, Konstanz 2012.
463 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530274

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