Im Weltenraum der Schreib- und Lesekultur

Rainer Wieczorek gibt in „Freie Hand“ Einblick in die Irrungen und Wirrungen des Literaturbetriebs

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch über den Aufstieg und Fall eines Literatur- und Jazzclubs verspricht eine spannende Reise hinter die Kulissen eines ganz eigenen und immer seltener werdenden Universums zu werden. Und wer könnte als Reiseführer besser dienen als Rainer Wieczorek, der sich lange Zeit in diesem Milieu bewegt hat und gemeinsam mit Andreas Müller von 1995 bis 2009 dem Darmstädter Literaturhaus vorstand?

Charmant geht die Reise dann auch los: Auf einer Pénichette im Canal du Midi spielen der Ich-Erzähler und sein Freund Wazwab, wie Walter Wabra kurz genannt wird, mit den Gedanken zur Finanzierung eines Literaturhauses. Das Organisieren des Grundkapitals scheint kein Problem, denn der Zahnarzt Calais ist nur zu gerne bereit, seinen Namen durch niveauvolles Sponsorentum ins Gespräch zu bringen – von den damit verbundenen Steuererleichterungen ganz zu schweigen. Amüsant gestaltet sich das erste Treffen der beiden mit Calais, das mit dem spitzen Kommentar „Vor der Baracke in der Wilhelmstraße 13 standen ein Citroën, ein Mercedes der S-Klasse, ein grauer Maserati und mein Fahrrad.“ eingeleitet wird und das letztlich dazu führt, dass das fiktive Literatur- und Jazzhaus „ZwölfElf“ seine Tore öffnen darf – ein Schelm, wer dabei an das reale Wilhelm13 in Oldenburg denken muss.

Leider hat man in der Folge nicht den Eindruck, in Welten vorzudringen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, denn ganz so scharfsinnig, wie der Klappentext verspricht, kommt Wieczoreks Roman dann doch nicht daher. Dazu bleibt der Autor zu oberflächlich und das Buch lässt den rechten Biss für eine Satire größtenteils fehlen. Was umso erstaunlicher ist, da eine der Kernaussagen als mutige, wenn auch indirekte Konfrontation mit dem Publikum dafür eigentlich alle Türen öffnet, denn es mangele ja laut dem Protagonisten „weniger an guter Literatur, sondern vor allem an geeigneten Lesern, denn das Lesen erfordert Übung.“

Aber: Darf man die mangelnde Lesekompetenz und fehlende Aufmerksamkeit der Leser und das Schreiben vieler zeitgenössischer Autoren hinterfragen und gleichzeitig das Schachspiel fehlerhaft als Überleitung zur „Niederländischen Eröffnung“ des ZwölfElf mit Cees Nooteboom missbrauchen? – Natürlich sind Fehler der Protagonisten nicht automatisch auch Fehler des Autors; dennoch ist die dargestellte Eröffnung 1.e2-e4 e7-e5 beispielsweise noch lange keine „Spanische Eröffnung“, wie in diesem Zusammenhang behauptet wird.

Darf man den literarischen Geschmack des Massenpublikums, der sich in den Bestsellerlisten ausdrückt, kritisieren und gleichzeitig astrophysikalische Essays als wiederkehrende Spiegelungen des Literaturbetriebs nutzen, der Mathematik aber jede Heiterkeit absprechen? – Bei allem Respekt vor den Dirk Lorenzen zugesprochenen Essays und den durchaus reizvollen Parallelen ist auch die Astronomie ein Forschungszweig, der gerne massenkompatibel missbraucht wird, denn wen interessiert schon die darin verborgene Physik und Mathematik?

Darf man die Herausbildung eines Kanons kritisieren und gleichzeitig durch den Protagonisten selbst eine Liste offenbar lesenswerter Autoren aufstellen lassen? – Damit soll den genannten Autoren, die der Ich-Erzähler selbstverständlich schon toll fand, bevor sie bekannt waren, dieses Attribut natürlich nicht abgesprochen werden, doch wo bleiben dabei die ungenannten lesens- oder hörenswerten Künstler?

Die Antwort lautet dreimal: Ja. Allerdings erfordert dies Mut zur Distanz und zur Selbstironie, denn ein gewisses Maß an satirischer Überzeichnung wäre dann durchaus angebracht.

Und es gibt sie, diese Momente der Selbstreflexion. Beispielsweise wenn der Erzähler einem Gast des ZwölfElf die einmalige Fähigkeit zuspricht, „die Punkte ausfindig zu machen […], an denen sich äußerster Ernst und schrankenlose Komik berühren“, und dies mit dem Gegenkommentar „Ja, wenn das so ist.“ abgetan wird. Doch sie sind selten.

Zu sehr gefällt sich der Autor im Schildern von selbstverständlich gelungenen Abenden voll kultureller Magie, die im Lichte fehlender Misserfolge wie eine Parade zeitgenössischer Künstler erscheinen, die eher dem Ego des Protagonisten als der Kunst selbst zu dienen drohen.

Wie soll man aber auch Künstlerinnen und Künstler ehrlich kritisieren, wenn sie namentlich benannt werden? Schlimmer noch: die Leserinnen und Leser können diese Passagen somit nicht einmal als satirische Darstellung elitärer Selbstbeweihräucherung interpretieren, ohne den genannten Künstlern unrecht zu tun. Einfacher gelingt dies bei den ,namenlosen‘ Sponsoren, die – wie mehrfach betont wird – in hundert Jahren ohnehin niemand mehr kennt.

So verwässert die gute Intention des Romans zusehends und es bleibt am Ende leider nur eine halbgare Kritik, die die Probleme der Literatur größtenteils auf deren Rezeption abwälzt, während die interne Problematik oft nur angedeutet wird, statt die notwendige Diskussion mutig voranzutreiben. Im Nachhinein stellt sich die Frage, ob der Autor dem Geschehen (noch) zu nahe steht und ein völlig fiktiver Zugang zum Thema nicht doch die bessere Lösung gewesen wäre.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Freie Hand. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2012.
158 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717838

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