Den Willen stumm machen
Charlie Chaplins „City Lights“
Von Reiner Niehoff
„Der Film der Zukunft ist der musikalische
stumme Film, der Tonfilm im Sinne seines
Begriffes, der Film, bei dem die Musik
den Ton macht.“ (Charlie Chaplin)
Komik, wie sie den frühen Filmkulturen von Jahrmarkt, Rummel und Lunapark entspringt, lebt von der Passion für das Fallen, das Stürzen, das Gleiten ebenso wie von der Anstrengung, sich wieder aufzurichten, auf die Beine zu kommen und Haltung anzunehmen. In dieser doppelten Bewegung sind Lachen und Entsetzen, Mitleid und Ressentiment, Entmächtigung und Errichtung, Sturztiefe und Standhaftigkeit noch ungeschieden wirksam. Die Welt, die im Fall ist, zeigt sich lustvoll bedroht; sie ist ambivalent. Aus dieser Ambivalenz hat Chaplin seine besten Filme hervorgehen lassen; sie zu einer integralen Form des Kinos fort zu entwickeln, war sein zunächst artistisches, dann zusehends moralisch und sozialpolitisch gewendetes und nicht zum geringsten kleinbürgerlich verpupptes Programm.[1] Auch und besonders die von der Hochkultur gemiedenen Bezirke des Sentimentalen – jenen Geländen, in denen sich warme Werte mit erniedrigten Existenzen zu tränenreicher Gemütsbewässerung vermischen – scheute Chaplin keineswegs, im Gegenteil. Gerade hier vermutete er das Paradies des filmischen Vermögens. Die Surrealisten in Paris nahmen es mit Humor und Solidarität, Brecht in Berlin mit Abscheu, Fernand Lèger a là Bergson mechanisch, Siegfried Kracauer messianisch, Thomas Mann mit elegant geschneiderter Bewunderung, Heiner Müller mit postapokalyptischem Hautgout.
Am ausgefeiltesten gelingt Chaplin diese ihm so eigene sozial-sentimentalische Ästhetik in „City Lights“, „Lichter der Großstadt“ (1931), den Woody Allen als den Bedeutendsten jener 92 Filme gepriesen hat, die der große Komiker hinterließ. Nie zuvor und zu keinem späteren Zeitpunkt hat Chaplin noch einmal diese besondere Schwebe von Slapstick-Elementen, die als kalter Wasserguss zur Ausnüchterung moralischer Anwandlungen dienen, und tief betrübenden Augenblicken, die den Sturz seines niedrigen Heroen aus den Fängen des schadenfreudigen Verlachens befreien, so perfekt auszubalancieren erlaubt. „In „City Lights“ hat Chaplin das Gesetz der komischen Abfolge von Sturz und Stand dynamisiert; an seine Stelle tritt die Bewegung des permanenten Umschlagens von Oben und Unten, ein Art sentimentaler Dialektik, die Rührung mit Reinigung vermittelt; die Steigerung affektiver Energien korrespondiert einer Läuterung durch Mitleiden. Stufenweise destilliert Chaplin das schallende Gelächter über den armen Tropf, der das Klassenziel zivilisatorischer Grundkompetenzen verfehlt, zum traurigen Lächeln aus, das seine affektive Kraft gerade aus seiner sozialen Unsichtbarkeit bezieht – Grundfigur aller empfindsamen Ästhetik. Nicht zufällig betont der erfahrene Komiker einmal, dass gerade der Wechsel zwischen hohem Drama und niederer Posse einen unbegrenzten Spielraum für „gefühlsbetonte Elemente“ eröffne. So durchmischen sich bei Chaplin Komik und Tragik, aber nicht zur Groteske, wie im Drama seiner Zeit üblich, sondern im wörtlichsten Sinne zu einer éducation sentimentale.
I
Dass CITY LIGHTS Chaplins ausgefeiltester Film ist, wird ersichtlich schon daraus, dass der in London gebürtige, mit einer Vaudeville-Truppe in Amerika zum Ruhm und Ruf und zum Film gekommene, später in die Schweiz zwangsexilierte Chaplin volle drei Jahre für die Produktion benötigt. Allein ein Jahr verwendet er auf die Entwicklung der Geschichte, anderthalb Jahre wird geprobt und gedreht und ein weiteres halbes Jahr geht für den Schnitt drauf und für die endlosen Retakes, für die Chaplin inzwischen berühmt und berüchtigt geworden ist. Der Großmeister selbst hat nachträglich und mit einigem Bedauern für seine Schauspieler eingestanden, er sei zu Zeiten von CITY LIGHTS vom Virus der „absoluten Vollkommenheit“[2] befallen und zutiefst infiziert gewesen.
In der Sache schreibt dieser nun auf Perfektion geeichte neue Film zunächst seinen gerade fertiggestellten Vorgänger „The Circus“ (Uraufführung 6.1.1928) in Variation fort. Hier nämlich, in „The Circus“, steht ein unfreiwillg clownesker Zirkusbesucher im Mittelpunkt, der, wegen seiner Zufalls-Komik ernsthaft als Clown für den Zirkus engagiert, seine Kunst nicht zum Beruf zu machen vermag und zwischen Kunstreiterin und Seiltänzer, zwischen Arena und Publikum zum ebenso gefeierten wie gescheiterten Helden avanciert. In „City Lights“ nun – so besagt es ein erster Entwurf – soll es ebenfalls um einen Clown gehen samt Zirkus und Zirkusambiente und Zirkusleben, aber um einen gar noch traurigeren Clown als in „The Circus“: Um einen Clown nämlich, der das Augenlicht verliert, seiner kleinen Tochter aber seine Krankheit nicht eingestehen mag und kann. So tarnt er jeden Sturz als Akrobatik und jeden Unfall als Gag – eine weitere, melodramatisch kaum noch steigerbare Variante der komischen Ästhetik des Fallens also.
Aber selbst Chaplin ist diese Ausgangskonstellation eine Spur zu überreizt. Er setzt also nochmals an, sammelt Einfälle, Entwürfe und Szenarien – und überträgt die Blindheit des Zirkus-Clowns auf eine ebenso junge wie arme, attraktive, aber eben leider bereits erblindete Blumenverkäuferin. Dieser schönen Blinden – sie ist eine späte Schwester jener tugenhaften und schönen Waisen, die seit dem empfindsamen Aufklärungsroman um 1750 bis zu Griffith’ später Filmreplik „Orphans of the Storm“ (1921) grundlos gedemütigt und hilflos alleine durch die Niederträchtigkeiten des Realen getrieben werden – gesellt er dann noch seinen seit 1914 (seit „Mabel’s Strange Predicament“ und dem mythischen „Kid Auto Races“) bestens bewährten Tramp hinzu; ein Tramp, der seine Erfüllung, wie so oft bei Chaplin, in einer von Familie und Blutsbande befreiten, reinen Wahl-Verwandtschaft findet.
Damit ist die Ausgangskonstellation für „City Lights“ gefunden – und das Ende gleich mit. Denn schon in einer der ganz frühen Notizen heißt es: „Charlie begegnet blindem Mädchen, als es die Straße überqueren will. / Im Laufe der Geschichte immer wieder zeigen, wie er Blumen kauft. Schließlich wird sie geheilt, und Charlie findet sie in kleinem Laden. Als sie ihn anlacht, wagt Charlie nicht, seine Identität zu verraten. Mädchen erkennt ihn schließlich – nimmt ihn bei der Hand und führt ihn in Blumenladen.“[3]
Bei solcher thematischen Rahmenlage stellt sich natürlich ein innerlogisches Folgeproblem ein. Denn wie soll eigentlich der Tramp an das Geld kommen, das er für die Heilung seiner Angebeteten so dringend verdienen muss? Für geregelte Arbeit ist nämlich der Tramp im Laufe der Filme, die Chaplin mit ihm als zentraler Figur gedreht hat, nicht eben bekannt; Webers Arbeitsethik und methodische Lebensführung, die es sich selbst wert sind, kennt der Tramp nicht. Zudem stellt ihn Chaplin in „City Lights“ deutlich in die Tradition der Flaneure – also in die Reihe jener aristokratisch verarmten Boulevard-Souveräne, die nichts besitzen, außer großzügigst nichts zu besitzen; die dafür aber durch die Stadt-Landschaften promenieren, zufällige Begegnungen sich auswirken lassen und vor allem die bunte Welt der Waren in den Fensterauslagen ausführlich und intensiv und mit unverhohlenem erotischen Genuss begehren dürfen. Schon in der zweiten Szene von „City Lights“ beäugt denn auch der streunende Tramp vor einem Schaufenster eine nackte Aphroditen-Statue mit galeristischem Kennerblick und fraglos voyeuristisch – er verknüpft, wie nur je der klassische Flaneur des 19. Jahrunderts und wie seine surrealistischen Nachfahren im Paris der Zwanziger Jahre in einem Atemzug die Kunst, die Frau, die Ware und die Lust (am schönen Schein, am Körper, am Konsum). Nicht zufällig plante Chaplin anfänglich, den Film in Paris anzusiedeln, dem Mekka der unnützen Spaziergänger also.
Um den mittellosen Flaneur-Tramp nun aber dennoch zu Geld kommen zu lassen, ersinnt Chaplin eine clevere Nebenhandlung, die ihm zugleich jede Menge Möglichkeiten für reichlich komische Tableaus schenken wird. Er lässt nämlich seinen Ritter von der traurigen Gestalt auf der Suche nach einem nächtlichen Schlafplatz unter den Flussbrücken der großen Stadt auf einen trunkenen Millionär treffen, der unbedingt sein Leben im Wasser endigen möchte, vom Tramp aber zum weiteren Dasein bekehrt wird. Aus Dank erklärt ihn der trunkene Millionär umgehend zu seinem ewigen Freunde und stattet ihn anschließend mit reichlich Alkoholika, mit üppig Speis und endlich auch materiell prächtig aus. Damit wäre alles im Lot, wenn – ja wenn der Millionär diese seine brüderlichen Gefühle leider nur im Zustand der Volltrunkenheit hegte, bei nüchternem Verstande den armen Retter hingegen nicht wiedererkennen mag und überhaupt von Gutsein plötzlich nichts mehr wissen will – eine Vorlage, die Bert Brecht (Abscheu hin, Gebrauchswert her) in seinem „Puntila“ von 1940/41 auffällig beerben und fortentwickeln wird. Eine nicht unbeträchtliche homophile Panik, Chaplins surrealistischen und streng heterosexuellen Freunden in Paris ja auch nicht unbekannt, tut noch das ihre hinzu.
Deshalb sieht sich der Tramp genötigt, es tatsächlich mit richtiger und wirklicher Arbeit zu versuchen und als ein White Wing, ein stadtbeamtlicher Boulevard-Reiniger also, den Tierdung von der Straße zu kehren, als sei er ein moderner Herkules, der den Augias-Stall der Großstadt auszumisten habe. Als allerdings nicht nur eine einfache Pferdekutsche, sondern plötzlich und recht surreal eine vielzahlige Maultierherde und endlich gar ein ganz goliathischer Elefant auftauchen und den Schmutzberg überdimensional anwachsen lassen, als müsse der Tramp in einem Danteschen Contrappasso seine eigene soziale Abfälligkeit in maßloser Überobjektivierung abbüßen, erweist sich das Unternehmen als verlorene Liebesmüh. Auch ein zweiter Versuch, nun als Preis-Boxer im (natürlich allegorischen Lebens-) Ring das nötige Geld anzuschaffen, ist, wenngleich lange durch listige Solidarabsprachen und ungewöhnliche Schlagfertigkeit offengehalten, im letzten zum Scheitern verurteilt; zu schmächtig ist der schüchterne Arbeitnehmer Charlie im Kampf mit den konkurrierenden Muskelgiganten. Im dritten Anlauf sieht sich gar der Tramp, der eintausend Rettungs-Dollar vom leider wieder einmal betrunkenen Millionär als Geschenk erhalten und seiner Bella-Flora zwecks Augentherapie in Wien zugetragen hat, vom ernüchterten Reichen einer Diebstahlsanklage ausgesetzt und muss für neun Monate hinter Gitter. So, unter den Prankenschlägen des Geschicks, schrumpft das Lachen zum Lächeln.
II
In dieser Perspektive erweist sich, aller Komik zum Trotz, die Geschichte vom Tramp und dem blinden Blumenmädchen, das dank seines seltsamen Retters zum Glück gesundet, als eine wahre Leidensgeschichte; um sie zu heilen, geht er den Dornenpfad.
Um dieses paradoxe Miserere deutlich zu machen, hat Chaplin in seinen Film eingebaut, was die Kunstgeschichte seit Aby Warburg als „Pathosformeln“ bezeichnet: Bilder kulturell typisierter Leidens-Darstellungen der großgestischen Vorzeit werden durch niedere Medien in entfernte und unerwartete Zusammenhänge transponiert, etwa durch einen Kinofilm aus dem Verona des 16. Jahrhunderts nach Los Angeles in das Jahr 1931. So lässt Chaplin seinen Tramp, der für das Blumenmädchen gegen einen übermächtigen Gegner in den Boxring steigt, nach dem Niederschlag in die Umkleide des Boxstalls getragen werden, als handele es sich um die „Lamentazione su Christo morto“ von Paolo Veronese (1548); und gebettet wird er auf dem Boxertisch wie Mantegnas „Christo morto“ von 1475 auf seinem Totenbett. 1936 wird Jean Cocteau nach einem Treffen mit dem Komiker berichten, Chaplin plane, eine Kreuzigungsszene zu drehen, aber in einem Tanzlokal und gänzlich übersehen und unbemerkt.[4] Hätte Cocteau bei „City Lights“ genauer hingeschaut, wäre ihm Chaplins ästhetisches Verfahren der Transponierung pathetischer Gebärdensprachen keine Überraschung gewesen.
Und auch die berühmte Wiederbegegnung mit dem Blumenmädchen am Ende des Films gewinnt insofern tief-tragische Züge, als Chaplin sich eines Elementes aus dem Formen-Repertoire der antiken Tragödie bedient, das man als anagnorisis, also als Wiedererkennen bezeichnet. Der Begriff meint jenen höchste Augenblick, in dem der Held inne wird, dass die Person, die er da vor sich findet, eine Identität besitzt, die sie am allerwenigstens erwartet: Ödipus und der unhöfische Alte, der sich als Laios, Ödipus und die höfische Geliebte, die sich als Iokaste herausstellen wird. Strukturell nicht anders verhält es sich am Ende auch von „City Lights“. Das Blumenmädchen hält den Tramp bis zur letzten Sekunde für einen reichen und smarten Traummann, der ihr generös die Operation bezahlt hat, bis er sich beim Aug-in-Aug des Finales als mittellosester Nichts-, nein Allesnutz entpuppt, der für sie buchstäblich sein letztes Unterhemd geopfert hat. Diese berühmte Schlusseinstellung vom vis-à-vis zwischen Tramp und nun sehend gewordener Blumenladenbesitzerin ist ohne Zweifel der Höhepunkt des Films; ja, Chaplin selbst sollte noch Jahrzehnte später gleichermaßen seinen (eigenen) Einfall und seine (eigene) Ausführung außerordentlich bewundern. Und in der Uraufführung von 1931 durfte er feststellen, dass auch Albert Einstein, der Chaplin ins Lichtspieltheater begleitete, bei dieser Schlussszene die Tränen die Wangen hinunterflossen. So eröffnet sich hinter aller Sentimentalität ein Bild- und Szenentreiben aus dem Geiste des Pathos, das offenbar in den gefühlsseligen Traurigkeiten niederer Kunstkulturen besonders eindringlich fortzuleben und fortzuwirken vermag.
Heißt: Chaplins Film positioniert sich bei aller Heiterkeit tief im Herzen der abendländischen Leidensgeschichten, die er szenisch und bild-pathetisch beerbt. Begehren, Handeln und Heilen heißt Leiden, so ist es von dem unscheinbaren Tramp zu lernen; und dieses Leidens-Leben durch Sentimentalitäten-Humor zu mildern und ertragbar zu machen, ist offensichtlich das Anliegen seines Schöpfers. Oft hat man Chaplin wegen seiner sozialkritischen, technik-skeptischen und autoritätsunterminierenden Filmplots nachgesagt – und die amerikanische Regierung hat es zeitweise nachgefürchtet und nachgerufen –, dass er, Chaplin, es mit Marx halte und mit dem Kommunismus. Hätte man etwas genauer hingeschaut, hätte man feststellen können, wie viel trauriger Schopenhauer sich eigentlich in seinem fröhlichen Werk verbirgt.
III
Dreiunddreißig Szenen hat Chaplin aneinander gereiht, um diese Leidensgeschichte seines Tramps komisch darzustellen; dreiunddreißig Szenen zwischen sechs Sekunden und dreizehn Minuten, dreunddreißig Szenen, verteilt auf sieben Tage (zwischen denen am Ende allerdings bis zu 9 Monaten liegen), dreiunddreißig Szenen, die alles haben, was man sich nur wünschen kann, nur eines nicht: und das sind gesprochene Dialoge. Schon im Untertitel – es ist das zweite Bild, das überhaupt zu sehen ist – heißt es unmissverständlich: „A Comedy Romance in Pantomime“. Chaplin verteidigt den sprachlosen Film, der nur von Musik begleitet und maximal durch kleine, aber höchst wirksame Geräuscheffekte erweitert wird, gegen den Tonfilm, genauer gegen den Sprechfilm, den Talkie, der ja bereits seit 1927, seit „The Jazz Singer“ von Alan Crosland, seinen Siegeszug angetreten hat. Und Chaplin tut das nicht, weil er sich auf die neue Technik nicht hätte umstellen können, wie der verehrungswürdigste Buster Keaton, sondern aus einem Grund, den gleich die allererste, überaus brillante Szene von „City Lights“ klarstellt. Denn was ist zu sehen, wenn in „City Lights“ die Bilder zu laufen beginnen?
Zu sehen ist eine der von Chaplins geliebten, seit „Easy Street“ von 1917 immer wieder verbauten Studiostraßen in „T“-Form und mit Geschäften zu beiden Seiten, darin viele Menschen und im Scheitelpunkt des „T“s ein Denkmal, das noch zugedeckt ist wie ein Weihnachtsgeschenk und eingeweiht werden will. Dafür dürfen nun unterschiedliche politische und sozial gestimmte Wohlfahrts-Repräsentanten beiderlei Geschlechts die Bühne der Öffentlichkeit betreten. Szenen dieser Art ließen sich in den Kino-Wochenschauen der Zwanziger Jahre häufig bestaunen; auch in den Zeitungen waren sie als ein beliebter Foto-Gegenstand symbolisch-sozialer Fürsorge überaus präsent. Chaplin lässt nun diese wohlfährtigen Reden, statt sie als Text zu präsentieren, von seiner Begleitmusik zugleich vorführen und persiflieren; einfaches Backpapier, auf den Schallbecher eines Saxophons gespannt, ergibt solches Gequäke. Der Regisseur, indem er die Ansprachen durch die Begleitgeräusche zum Geplärr verzerrt, sagt musikalisch, was er davon hält: Viel Lärm um Nichts. In diesem Sinne ist die Musik in „Lichter der Großstadt“ zunächst gar keine Musik, sie ist vielmehr Kommentar, Analyse, Vendetta an der alles erlaubenden Mutter Sprache. Und besagt: Öffentliche Reden, die sich abstrakt um das Gute, um den Frieden, um den allgemeinen Wohlstand bekümmern, hält Chaplin – um mit Habermas zu reden – für buchstäblich verzerrte Kommunikation; eine Kommunikation der Macht und Machtrepräsentation, die umgehend in Aggression umschlägt, wo der Schein nicht aufgeht wie erwünscht, oder anders gesagt: Wo der Tramp als unlauteres Geschenk eines humorvollen Gottes in die Szene gerät.
Mit verzerrter Kommunikation allerdings wollen Chaplin und sein kleiner freundlicher Vagabund nun aber nichts und nichts zu tun haben. Womit denn, im Umkehrschluss, ein Hinweis gegeben ist, wonach dieser Film in aller Leidensgeschichte sucht: Er sucht nach unverzerrter Kommunikation.
Diese unverzerrte Kommunikation ist für Chaplin nun aber nicht mit der verbalen Sprache verknüpft, wie der Normalverstand zunächst mutmaßen mag, sondern mit den stummen Affekten und Gebärden. Echte Kommunikation, so Chaplin, ist eine Kommunikation, die überall verstanden wird, die keine Klassen kennt und keine Nationengrenzen; eine Kommunikation, die dem Spiel der Gliedmaßen gehorcht: der Rhetorik des Körpers, dem Zucken der Schultern, dem Kreiseln der Beine, dem pinguinischen Gang (allegorisch ergänzt: in der Eiswüste des Sozialen); eine Kommunikation, die dem Vermögen der Mimik gehorcht: dem unwillkürlichen Heben und Senken des Blickes und dem Aufschlag der Augen.
In der Bewegungs-Kunst hat diese Sprache, die sich allüberall verständlich machen kann, einen Namen; sie heißt Pantomime. Und schon wird verständlich, warum Chaplin beim Stummfilm verharrt. 1931, unmittelbar nach Erscheinen von „City Lights“ also, erklärt er unmissverständlich: „Auf jeden Fall ist die Pantomime zu allen Zeiten ein universelles Ausdrucksmittel gewesen. […] ‚Primitive Menschen’ gebrauchten die Zeichensprache, bevor sie richtige Wörter zu bilden in der Lage waren. […] Das Heben einer Augenbraue, wie dezent auch immer, sagt mehr als tausend Worte.“[5] Und gegen den aufkommenden Tonfilm gewand: „Die sogenannte Sprechfilmkunst will die unerhörte Schönheit des Schweigens zerstören. Und Schweigen ist das Wesen des Films.“[6]
Diese eigentümlich pantomimische, nonverbale Kraft des Films wird ersichtlich zuerst an seiner zentralen Figur, also an der Figur des Tramps. Adorno hat in Sachen Chaplin einmal überaus einleuchtend auf Kierkegaard verwiesen, der seinerseits ingeniös den dänischen Komiker Beckmann zu portraitieren gewusst hatte. Kierkegaard schreibt: „Er kann nicht bloß gehen, sondern er kann gehend kommen. Das ist etwas ganz anderes, gehend zu kommen, und durch diese Genialität improvisiert er zugleich die ganze szenische Umgebung und kann nicht bloß einen wandernden Handwerksburschen vorstellen, sondern er kann wie ein solcher gehend kommen, und zwar so, dass man alles erlebt, dass man vom Staub der Landstraße aus das freundliche Dorf erblickt und seinen stillen Lärm hört, den Fußweg selber, der dort unten am Dorfteich geht, wenn man beim Schmied abbiegt – wo man Beckmann kommen sieht mit seinem kleinen Bündel auf dem Rücken, seinen Stock in der Hand, sorglos und unverdrossen. Er kann gehend auf die Bühne kommen mit Straßenjungen hinter sich, die man nicht sieht.“[7] Besser lässt sich Chaplins Tramp kaum charakterisieren.
Nun belässt es Chaplin aber nicht bei dem schlichten Auftritt seines Helden auf den Dorfbühnen der Provinz, sondern er versetzt ihn mitten in die umtriebige Großstadt. Er stellt nicht nur einen Pantomimen vor, er bringt ihn auch in Bewegung, und das heißt: er baut ihn in eine Choreographie ein, in eine Choreographie der – sozialen, urbanen, geschäftigen – Körper. Chaplin ist, wie seine surrealistischen Bewunderer, an zufälligen Begegnungen interessiert, nicht an Herkünften. Nie erfahren wir, woher der Tramp kommt und wohin er anschließend entschwindet. Er tritt in eine Situation ein. Deshalb lässt der Chaplin bewusst die Kamera in den Hintergrund treten, die Kulisse und noch das ostentative Schauspiel seiner Darsteller. Chaplin: „Ich habe meine Kamera immer so aufstellen lassen, dass es möglich war, eine choreographischen Wirkung zu erzielen, das heißt, die Aufnahme muss die Bewegung des Schauspielers zeigen. Wenn man eine Kamera auf den Boden legt oder sie um die Nasenlöcher des Schauspielers kreisen lässt, dann ist die Kamera und nicht der Schauspieler der Darsteller. Die Kamera darf sich nicht in den Vordergrund drängen.“[8]
Diese Akribie in der Choreographie sozialer Bewegungen erklärt die Unaufgeregtheit, ja Simplizität von Chaplins Kamera-Einstellungen und Bühnen-Kulissen: Sie treten in den Hintergrund, um ausschließlich der intensiven Interaktion der Figuren Raum zu geben und sie zu unterstreichen; er bevorzugt die Totale, um den Magnetismus der stummen sozialen Kollisionen zu verfolgen. Gerade weil seine sprachlosen Figuren durch Situation und Bewegung, durch Hindernis und Umgehung, durch Geste und Mimik so parlant sind, hält er die Opulenz seiner Architekturen, seiner Räume, Orte und Plätze betont niedrig; nur die Requisiten, die kleinen unscheinbaren Dinge flüstern bisweilen bedeutsam am Bildrand. Die Menschen und noch die Objekte scheinen eingespannt in eine Pantomime, die alles umfasst, und in eine Choreographie, die alles in Bewegung versetzt.
IV
Wo aber von Pantomime die Rede ist (vom geschmeidigen Körper) und von der Choreographie (dem fließenden Zusammenspiel mehrerer Körper), da tritt notwendig ein dritter Begriff hinzu, und das ist der Begriff des Tanzes. Chaplin will die zwischenmenschlichen und sozialen Verhältnisse nicht nur verwirbeln, er will sie vor allem zum Tanzen bringen. Auch hier lässt der Regisseur keinen Zweifel aufkommen und zieht als bestes Beispiel „City Lights“ selbst Exempel heran: „Alles, was ich mache“, so Chaplin in einem Interview 1968, „ist Tanz. Ich denke in Begriffen des Tanzes. Ich glaube, in „City Lights“ besonders. Das blinde Mädchen – ein wunderschöner Tanz. Für mich ist das ein Tanz. Einfach reine Pantomime. Das Mädchen streckt die Hand aus, und der Tramp weiß nicht, dass sie blind ist. Und er sagt: „Ich nehme diese hier.“ „Welche?“ Er blickt ungläubig – was für ein dummes Mädchen… Dann fällt die Blume zu Boden und sie bückt sich und tastet nach ihr. Ich hebe sie auf und halte sie einen Augenblick in der Hand. Und dann sagt sie: „Haben Sie sie gefunden, mein Herr?“ Und dann sieht er hin und begreift. Er hält sie ihr vor Augen – nur eine Geste. Nicht viel. Das ist reiner Tanz… Es hat viel Zeit gekostet. Wir haben das Tag um Tag gedreht.“[9] Kein Geringerer als Vaslav Nijinsky hat das klar erkannt und Chaplin völlig rechtens attestiert: „Ihre Komödien sind balletique: Sie sind ein Tänzer.“[10] Und der große Komiker W.C. Fields merkte mit ebenso viel Respekt wie unverhohlenem Neid einmal an: „Dieser Scheißkerl kann tatsächlich tanzen. Er ist der beste Ballett-Tänzer aller Zeiten. Und bei der nächsten Gelegenheit werde ich ihn mit meinen bloßen Fäusten umbringen.“[11]
Nun, wo es einen Pantomimen gibt, wo es eine Choreographie gibt und wo es den Tanz gibt, da gibt und braucht es natürlich und endlich auch die Musik. Man vergisst ja leicht, dass Chaplin Geige, Cello und Klavier spielte und dass sein großes Haus in Hollywood mit einer mächtigen Orgel ausgestattet war (die allerdings später den Zimmern seiner vielen Kinder weichen musste); man vergisst leicht, dass der Komiker 1916 einen Musikverlag gründete, die Charles Chaplin Music Corporation; und dass Chaplin in sein Totalkonzept des pantomimischen Films zusehends auch die Musik als integrales Formelement einbezog. Da konnte es nur eine Frage der Zeit sein, wann er die Musik für seine Filme seines Konzeptes selbst zu komponieren sich entschließen würde; auch Chaplins großes Vorbild, D. W. Griffith, hatte ja als kundigster Opernkenner an den musikalischen Arrangements seiner Filme ab „Birth of a Nation“ (1915) entscheidenden Anteil gehabt. So beginnt Chaplin bereits an der Filmmusik von „A Woman of Paris“ (1923), von „The Gold Rush“ (1925) und von „The Circus“ (1927) mitzuarbeiten; für „City Lights“ komponiert er dann erstmals die komplette Musik selbst.
Das ist nur konsequent. Denn zum einen ist für Chaplin die Musik nichts anderes als die Fortsetzung der Pantomime mit klanglichen Mitteln – er „komponierte“, so hat Maurizio Kagel einmal betont, „nicht mit Klangfarben, sondern mit hörbar gewordenen pantomimischen Gesten“[12] –, zum anderen findet Chaplin in der Musik eben jene Universalsprache, die sich aus der Dynamik des Körpers herleitet, nonverbal und ubiquitär zugänglich ist und affektive Subkontinente anschwingen lässt; sie transponiert soziale Bewegungsfiguren in Subjekt-Energien. „Musik“, so betont Chaplin denn auch, „i s t die Weltsprache und für jeden verständlich. Und in Verbindung mit dem Filmbild schafft sie seelische Resonanzen.“ Auch darin ist er sich eben mit Schopenhauer einig – Schopenhauers Werke hatten ihren festen Platz in Chaplins nächtlichen Lektüren –, der in „Die Welt als Wille und Vorstellung“ die Gipfel-Kunst Musik „als eine ganz allgemeine Sprache“ bestimmt, „deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft“[13] – bis sie den leidenschaffenden Willen selbst um seinen ewig-gleichen, dummen Willen bringt. So wird die Bewegung im sozialen Raum, die Chaplins Ausgangspunkt bedeutet, zur Choreographie zum Tanz zur Pantomime zur Musik; und Chaplin ist Autor ist Regisseur ist Darsteller und endlich auch Komponist.
VI
Nun darf man sich den großen Komiker nicht als strengen Tonsetzer vorstellen, der daheim Noten zwischen, unter oder über fünf schmale Linien drängt. Chaplin hat vielmehr stets einen ausgebildeten Komponisten zur Seite, der seine musikalischen Einfälle mit den Gesetzen der Harmonielehre versöhnt, sie instrumentiert und mit ihm in einem gemeinschaftlichen Prozess weiterentwickelt. Wie das konkret vor sich ging, berichtet David Raksin, der mit Chaplin die Musik für „Modern Times“ erarbeitete: „Charlie und ich arbeiteten Hand in Hand. Manchmal bestand das Ausgangsmaterial aus mehreren Phrasen, manchmal nur aus ein paar Tönen, die Charlie pfiff, summte oder auf dem Klavier anschlug… Aber er hat mir auch nicht einfach eine kleine Melodie vorgesetzt und gesagt: „Machen Sie weiter.“ Im Gegenteil: Wir verbrachten Stunden, Tage, Monate in diesem Vorführraum und ließen immer aufs neue Szenen und Handlungsabschnitte durchlaufen, und es hat uns großen Spaß gemacht, die Musik zu formen, bis sie genau so war, wie wir sie haben wollten.“[14] Kein Zufall, dass der Komponist Maurizio Kagel sich von „der millimetergenauen Unauffälligkeit dieser Begleitmusik, dem pausenlosen Kommentar der Handlung“[15] außerordentlich entzückt zeigte.
„Genau so, wie wir sie haben wollten“, darum also geht es Chaplin. Was heißt das? Diese Musik ist nicht schlicht-schummernde Begleitung, die die Stille vertreibt; sie ist auch nicht schlichte Illustration, die musikalisch imitiert, was das Geschehen im Film gerade vorgibt. Chaplins Musik ist im Grunde etwas ganz anderes. Sie vollendet, was die Pantomime begonnen hat: Sie überführt die maßlosen Anstrengungen, Leiden und Qualen unseres Tramps in ein luftiges und leichtes Gewebe aus Klang, Rhythmus, Bewegung, das die bösen Gewalten plötzlich wie einen Tanz von Gespensterchen erscheinen lässt: Schlimm sind sie sicher, aber doch auch kinderleicht zu besiegen. Hier ist der große Boxkampf des Tramps gegen Ende des Films das beste Beispiel; der ungleiche Fight wird durch die Musik so leicht wie ein indonesisches Wayang, ein Schattenspiel.
Derart vermitteln sich in „City Lights“ Leidensmetaphysik und Pantomime: im Modus der musikalischen Derealisierung. Das Gesetz, das die Menschen wie Puppen tanzen lässt, ist nicht aufgehoben, aber wie betäubt. Sicher: Aus dem Begehren des Tramps entspringt das Mitleiden, aus dem Mitleiden entspringt der Wunsch zu helfen, und aus dem Helfen entspringt die bittere anagnorisis des Endes: der reiche Wohltäter entpuppt sich als mittelloser Subproletarier. Doch diesen Widerspruch löst Chaplin schließlich nicht durch die Erfüllung des Begehrens und Wollens (das glückliche Paar), noch durch das Scheitern (die getrennte Klasse), sondern durch die Aufgaube des Wollens selbst. Das lächelnde Gesicht des Tramps in der letzten Einstellung besagt, dass er entsagt; an die Stelle des Wollens ist eine lupenreine, meerestiefe und gänzlich zweckfreie, freudige Ruhe getreten, die den Schmerz abgefedert und das Gelächter sublimiert hat. Darf man Schopenhauer glauben, so ist eine solche Ruhe eben die Ruhe, die die Musik verspricht: ein lichterhaftes, nur auf Augenblicke erreichbares Quietiv vom regierenden Hinter-Willen, der leiden macht. Ihn für einen Moment lächelnd auszuhängen, ist das eigentliche Begehren von Chaplins „City Lights“; es ist die Musik, die im Film der Zukunft den Ton macht.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages in der Fruchthalle Kaiserslautern zur Vorführung von Charlie Chaplins Film „City Lights“ mit Orchester am 18. Februar 2011
[1] „… meine Filme sind alle um die Idee herumgebaut, daß ich in Schwierigkeiten gerate und damit die Chance bekomme, mich verzweifelt ernsthaft darum zu bemühen, als normaler kleiner Herr zu erscheinen. Deshalb ist es mir auch so wichtig, egal wie hoffnungslos meine Lage auch sein mag, meinen Stock festzuhalten, meine Melone geradezurücken und meine Krawatte zu richten, auch wenn ich gerade auf dem Kopf gelandet bin.“ zitiert nach: David Robinson, Chaplin. Sein Leben, seine Kunst. Zürich 1989, S. 247.
[2] „Ich hatte mich in einen neurotischen Zustand hineingesteigert, in dem ich absolute Vollkommenheit verlangte. So dauerte es mehr als ein Jahr, bis CITY LIGHTS fertig wurde.“ Charlie Chaplin, Die Geschichte meines Lebens. Frankfurt a.M. 1964, S. 333.
[3] Cit. nach: David Robinson, Chaplin. Sein Leben. Seine Kunst. Zürich 1989, S. 455.
[4] Jean Cocteau, Begegnung mit Charlie Chaplin. In: FAZ, 14.7.1967 / Nr. 160.
[5] Charlie Chaplin, A Rejection of the Talkies. In: Focus on Chaplin. Hrsg. von Donald W. McCaffrey. Englewood Cliffs, N.J. 1971, S. 63.
[6] Charlie Chaplin, Was ich zum Sprechfilm zu sagen habe. In: Mein Film, Nr. 175 (1929), S. 5.
[7] Theodor W. Adorno, Zweimal Chaplin. In: Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt a.M. 1967.
[8] Chaplin, Geschichte meines Lebens. S. 255.
[9] Interview mit Richard Meryman (1968). In: Robinson, Chaplin. S. 465.
[10] Chaplin, Geschichte meines Lebens. S. 195.
[11] Das waren noch moderne Zeiten. Eine kleine Anthologie von Huldigungen – Zum 85. Geburtstag von Charlie Chaplin. In: Die Welt, 16. April 1974.
[12] Hommage à Chaplin: Acht Künstler schreiben über ihre Erinnerungen, Lieblingsszenen, Ängste. Die Zeit, 5. Juni 1977.
[13] Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Zürich 1977, Band I, S. 322.
[14] David Arksin. In: The Life and Art of Charlie Chaplin. Dokumentarfilm und Drehbuch von Richard Schickel (2003).
[15] Hommage à Chaplin. A.a.O.