Utopische Objektfantasien

Zwei Bände widmen sich der Architektur vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion

Von Thomas BeutelschmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Beutelschmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch nach über 20 Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion sind die Nachrichten aus Russland und seinen außereuropäischen Anrainern nach wie vor von meist negativen Schlagzeilen über Demokratiedefizite, fehlende Meinungsfreiheit und über einen von Segregation begleiteten Turbokapitalismus geprägt – wenn man einmal von Erfolgsmeldungen über Öl- und Gasvorkommen absieht. Vor allem die mittelasiatischen Transformationsgesellschaften rücken in der Regel darüber hinaus nur dann ins Blickfeld der westlichen Öffentlichkeit, wenn sie beispielweise wie Aserbaidschan mit dem „Eurovision Song Contest“ populäre Events veranstalten oder wie Kasachstan mit seinem „Astana-Pro-Team“ erfolgreiche Radfahrer auf die Tour de France schicken.

Der 1979 in Leipzig geborene Frank Herfort hat nun mit einem langjährigen Fotoprojekt gezeigt, dass diese Länder auch auf anderen Wegen versuchen, sich nach außen wie nach innen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er bereiste einige der ehemaligen Sowjetrepubliken und dokumentierte deren aktuelle Repräsentationsarchitektur der letzten Dekade. Schon der passende Titel seines grafisch aufwendig gestalteten Bildbandes „Imperial Pomp“ verrät, welche Sprache hier gesprochen wird. Zu sehen sind diverse Variationen von oft maßstabslosen Hochhäusern mit beliebigen Versatzstücken aus dem schematischen Formenkasten pompöser Turmbauten, anonymer Bürogebäude oder seelenloser Apartmentblocks, die vor allem einem Ziel dienen: einer verordneten oder gewünschten und recht schamlos offenbarten Demonstration gewonnener Macht und autokratischer Zentralgewalt.

Die selbstherrliche Geste mit neureicher Attitüde wird wohl am deutlichsten in der kasachischen Hauptstadt sichtbar. Hier erhebt sich mit dem „Bayterek Tower“ ein bizarrer Wolkenkratzer neben einem abweisenden Ministeriumskomplex – eine sterile Stadtlandschaft, in der öffentliches Leben unerwünscht scheint. Und die „Pyramid of Peace and Freedom“ des britischen Stararchitekten Norman Foster soll der Retortenhauptstadt des autokratischen Staatspräsidenten Nasarbajew die nötigen Weihen verleihen. Darüber hinaus bemüht sich aber auch die Moskauer City um Manifestationen vermeintlicher Stärke und Zukunftsgläubigkeit, wie sie mit dem gestuften „Mercury Tower“ und seinen 340m als höchstes Bauwerk in Europa zum Ausdruck kommen sollen.

Unübersehbar manifestiert sich in Stein – oder besser: in Beton, Stahl und Glas – die Sehnsucht nach eigener Identität auf Basis ökonomischer Potenz, die zum einen auf die frühere Größe und Symbole des Sowjetreiches oder der nationalen Tradition rekuriert und zum anderen um Anschluß an die internationale Moderne bemüht ist. Dementsprechend orientieren sich die Bauten äußerlich gerne am Kanon des Neoklassizismus, aber vereinzelt auch an westlichen Ikonen und sogar an avantgardistischen Ansätzen.

So scheut sich der involvierte Baumeister Michael Below keineswegs, mit seinem „Imperial Building“ in Moskau an stalinistische Vorbilder anzuknüpfen und seine Nachbildungen fragwürdig zu legitimieren: „Mussolini, Stalin und Hitlers Architekt Albert Speer hatten einfach einen guten Geschmack.“ In dieser Reihe stehen auch der bekannte Vorläufer „Triumph Palace“ und die „Paveletskaya Plaza“ oder die kasachischen Varianten „Presidental Palace“ in Almaty  und das „Kazmunaigaz Building“ in Astana. „Von Moskau lernen“ – wie es der Denkmaldialog über Architektur und Städtebau des Sozialistischen Realismus 2011 angeregt hatte – wird hier also nicht im Sinne der Erhaltung eines kulturellen Erbes verstanden, sondern einzig als bedenkenloser Rückgriff auf eine angeblich glorreiche Geschichte und damit als passendes Verkaufsargument für eine konservativ gesinnte Klientel.

Dem stehen mit Adaptionen des New Yorker „Flatiron Building“ (Fuller 1902) in Moskau, Sotchi  und Samara  beziehungsweise des Londoner „Big Ben“ im sibirischen Surgut aber auch anders konnotierte Inszenierungsmodelle gegenüber, selbst wenn die eklektizistischen Kopien in ihrer banalen Ausführung nicht an die Originale heranreichen können: „Wir öffnen nicht nur die Türen des neuen Bauwerks, sondern vor allem unsere Herzen. Nur so können wir unsere Kinder lehren, sich in der zivilisierten Welt frei zu verständigen.“ Und die „Skolkovo Moscow School of Management “ und bedingt auch das „Parus Building“ (32), der „Mosfilm Tower“ oder die gläsernen Demonstration „Port Baku“ können dann sogar vereinzelt dem Anspruch auf extravagante Lösungen und buchstäblich herausragende Skulpturen gerecht werden.

In seiner Darstellung wählte Herfort zwei Formen. Seine durchweg in Farbe und Glanz hyperrealistischen Bilder präsentieren sowohl einsame Solitäre ohne Bezugsgrößen oder das urbane Umfeld als auch im Kontext zur alten Umgebung mit sozialistischen Relikten und Menschen, die mit Sicherheit nicht zur Zielgruppe der Investoren oder zu den Nutzern gehören dürften. Insbesondere die monolithischen und ohne städtebauliche Einbettung im Bild freigestellten Figurationen offenbaren ein befremdliches Stilempfinden und das Selbstverständnis einer herrschenden – und auf diese Weise sich selbst isolierenden – Schicht der Nachwendeprofiteure.

Viele der schablonenhaften und voluminösen Gebäudekomplexe sind wie beispielweise der „Residential Complex“ in Nischni Nowgorod rücksichtslos in bestehende Viertel implantiert und wirken auf surreale Art ohne Halt und Anbindung. Die kontrastierenden Aufnahmen vermitteln tief gespaltene Parallelwelten, die sozialen Sprengstoff in sich tragen. Besonders anschaulich wird diese Methode in einem Bild des neoklassischen „Triumpf Astana“, der sich drohend hinter wenig idyllischem Brachland und einem heruntergekommenen Abrisshaus erhebt. Signifikant auch die klinisch kalte „Chrystal Plaza“ in Samara hinter den Resten zaristischer Holzbauten und einer verdreckten Winterkulisse als unüberbrückbarer Gegensatz. Und aus der Zeit gefallen scheinen eine einsame Passantin und ein alter Lada-PKW, hinter denen sich das verspielte „Traffic Police Headquarter“ in Kazan erhebt.

Durch seine fünfjährige Spurensuche hat Herfort das Verständnis für einen geopolitischen Raum im Umbruch erleichtert, der von harten Widersprüchen geprägt ist: Auf der einen Seite die ehrgeizige Hinwendung zur Moderne und globalisierten Welt, auf der anderen Seite das Verhaftetsein in einer postsozialistischen Realität, die von sowjetischer Vergangenheit und belastender Rückständigkeit bestimmt wird.

Der Architekt und Verleger Philipp Meuser geht mit seiner Arbeit ein wenig weiter zurück und stellt in seiner jüngsten Publikation die „Architektur für die russische Raumfahrt“ vor. Mit der Erkundung und Beherrschung des Weltalls wollte die damalige Sowjetunion in der Systemauseinandersetzung des Kalten Kriegs ein sichtbares Zeichen setzen und gegenüber dem Westen die Überlegenheit des Sozialismus als fortschrittliches Gesellschaftsmodell beweisen.

Immense Mittel und Anstrengungen flossen seit Ende der 1950er-Jahre in die diversen Kosmos-Programme vom erfolgreichen Flug des ersten Satelliten Sputnik über den ersten bemannten Raumflug und die erste Astronautin bis zu den Planetenerkundungen und langfristig installierten Weltraumstationen. Alle diese Projekte dienten nicht nur einem immensen industriellen Komplex und militärischen Aufgaben, sondern waren auch mit intensiver Propaganda verbunden, die bis in den Alltag ihre Spuren hinterließ. Sie fungierten mit ihrer Technikgläubigkeit, ihren Zukunftsvisionen und ihrem Pathos gewissermaßen als eine kulturelle Leitidee und Narration, denen sich Architektur und Design ebenso wenig entziehen konnten und wollten wie die Kunst und die Medien.

Diesen Einflüssen und den großen Gesten sowjetischer „Kosmonautik“ forschen die in dem opulenten Werk vereinten deutschen und russischen Autoren nach und präsentieren vielfach bislang unveröffentlichte Projekte, Pläne und Modelle. Sie rekonstruieren zum einen die lange Geschichte der Raketentechnik und der Orbitalstationen, erinnern an die beteiligten Akteure im All beziehungsweise in den Konstruktionsbüros und führen uns an Orte, die bis zum Zerfall der Sowjetunion nicht zugänglich waren: das Start- und Montagegelände des Kosmodroms in der kasachischen Steppe, die Produktionsstätten und das Kontrollzentrum in Koroljow oder die geheimnisumwitterte „Stadt der Sterne“ Sowjosdny Gorodok als Wohnort und Ausbildungszentrum der Kosmonauten.

Zum anderen werden parallel die Einflüsse und Auswirkungen der Kosmoseuphorie auf architektonische Konzepte im Weltraum, aber auch auf konkrete Bauten und die Kunst beleuchtet – vom Wandbild und Skulpturen im öffentlichen Raum bis zu Plakatentwürfen und die Philatelie. In seiner Einführung weist Herausgeber Meuser schlüssig nach, dass die Vision von der Überwindung der Schwerkraft und der Raumgrenzen bereits die konstruktivistischen Künstler und Architekten der russischen Avantgarde in den 1920er-Jahren nachhaltig prägte und dann in späteren Entwürfen eines W. Loktew, W. Kolejtschuk oder I. Leonidow mit ihren utopischen Stadt- und Objektfantasien weiterlebte.

Besonders ausdrucksstark erscheint die Bildsprache der zahlreichen Monumentalkunst am Bau wie etwa das vorgestellte Fassadenrelief in Arman oder der bisweilen gigantischen Denkmäler wie das „für die Bezwinger des Weltraums“ in Moskau, die mit Mitteln des bunten Glasmosaiks oder auf Basis von modelliertem Stein und getriebenem Metall als überdimensionale Zeichen „das kosmische Zeitalter als eine höhere Daseinsstufe des Sozialismus“ verkünden. Viele von ihnen lassen nicht nur Bezüge zu religiösen Motiven erkennen wie die Anspielung auf die Dreifaltigkeit im Kontrollzentrum Koroljow, sondern auch zu Vorbildern wie F. Legers und D. Riveras Arbeitswelten oder Leonardo da Vincis und Le Corbusiers Modellen des Menschen. Wenn sich einige dieser Werke dabei in programmatischer Heldenverehrung, agitatorischem Fortschrittsgestus oder banalem Realismus erschöpfen, so können andere durchaus mit ihrem Formenvokabular, ihrer Farbkomposition bzw. in ihrer Abstraktion oder Kombination figürlicher Darstellung und Schrift überzeugen wie etwa das Wandbild im Taschkenter Fernsehturm.

Die emotional stark aufgeladene Idee der „Kosmonautik“ manifestiert sich darüber hinaus aber nicht nur auf dem Weltraumbahnhof Baikonur oder in der weniger futuristisch als vielmehr pragmatisch anmutenden Inneneinrichtung der Raumkapseln, sondern auch in Gestalt technischer Gebäude wie der erste Radioturm von 1922 oder dem Fernsehturm von 1967 in Moskau. Und sie wird spürbar in prunkvollen Metrostationen, populären Planetarien, Zirkusrundlingen im Science Fiction-Look oder modernistischen Ferienzentren wie auf der Krim.

Die Fülle von anschaulichen Beispielen hinterlässt den Eindruck, dass die fantasierte Eroberung des Weltraums gewissermaßen als kommunistisches Heilsversprechen eine zukünftige Erlösung vom irdischen Mangel verhieß und der Wunderglaube an ein friedliches Leben in unendlichen Weiten dazu beitragen sollte, die Entbehrungen im sozialistischen Alltag zu kompensieren. Zu spüren ist eine tiefe Sehnsucht nach einer besseren Welt, die hier so kontinuierlich, so intensiv formuliert wird und die das sowjetische System nachweislich nicht erfüllen konnte. Dank der überraschenden Entdeckungen und erstmaligen Veröffentlichungen bekommt vor allem der westliche Leser eine Vorstellung von einem nahen und doch fremden Kulturraum, mit dem es sich weiter auseinanderzusetzen lohnt.

Titelbild

Philipp Meuser (Hg.): Architektur für die russische Raumfahrt. Vom Konstruktivismus zur Kosmonautik: Pläne, Projekte und Bauten.
DOM publishers, Berlin 2013.
412 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783869222196

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Frank Herfort: Imperial pomp. Post Soviet Highrise.
Kerber Verlag, Bielefeld 2013.
176 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783866787988

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