Alltagsabgründe in der Langfeldsiedlung

Christoph Dolgan liefert mit seinem Roman „Ballastexistenz“ ein starkes Debüt

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jeder Mensch ist nach unten hin offen, jeder Mensch ist ein Abgrund in sich“, heißt es in Christoph Dolgans gelungenem Erstling „Ballastexistenz“ – und genau von solchen Menschen handelt der Roman: Von Menschen, die am Tiefpunkt angelangt sind oder sich auf dem besten Weg befinden, auf dem harten Boden aufzuprallen. Eine zentrale Frage des Textes lautet also: „Wie schmeckt ,ohne Aussicht’?“

Ein namenloser Ich-Erzähler berichtet vom Leben in der Langfeldsiedlung und dem grauen Häuserblock, in dem er gemeinsam mit seiner Mutter wohnt. Sie arbeitet zunächst bei einem Discounter, den Feierabend vertrinkt sie anschließend an der Tankstelle – erst mit ihren Kolleginnen, dann auch alleine –, bis sie in der Arbeitslosigkeit die Zeit dazu hat, den ganzen Tag im Suff zu verbringen und den Abend mit dem Kopf auf dem Esszimmertisch im eigenen Erbrochenen schlafend abzuschließen. Ja, es „geht immer noch tiefer.“

Der noch minderjährige Erzähler bekommt regelmäßig eine SMS und erfährt darin den Ort, an dem er seine betrunkene Mutter auflesen kann. Selbst als sie an einer Lungenentzündung erkrankt ist, muss er ihr Alkohol besorgen – und schließlich trinkt er selbst mit: „Zur selben Zeit beginnt auch die Sache mit meinem Wahnsinn“, merkt er an. Es ist die Zeit, in der seine Selbstverletzung fortschreitet und sein eigener Untergang längst begonnen hat.

Der Mann vom Fürsorgeamt ist zudem regelmäßiger Gast im Heim der beiden und der Weg des Erzählers in die Anstalt scheint unaufhaltsam. Die Frage nach dem Ich und dessen Ängsten schwingt immerzu mit. Mit wenig ist man in dieser Siedlung zufrieden: „Ich bin nicht glücklich, ich bin aber auch nicht unglücklich, und das ist schon viel. Mehr als man erwarten kann.“ Nun, wenn von Glück schon gar nicht zu sprechen ist, scheint es „überhaupt besser wütend zu werden, als traurig zu sein“, wie es bereits das vorangestellte Zitat Ulrike Meinhofs programmatisch einläutet.

Aber der Erzähler liefert nicht nur eine Bestands- beziehungsweise Verfallsaufnahme über seine Mutter und sein eigenes Leben. Er ist zudem Beobachter und Chronist der Langfeldsiedlung und der namenlosen Bewohner, die ebenfalls am Rande des sozialen Abgrunds stehen. Es sind Arbeitslose, Trinker und Streuner, „die in den Mistkübeln nach den Resten ihrer verlorenen Zukunft“ suchen, denen es egal ist, „ob ein Glas halb voll oder halb leer ist: Wichtig allein ist, dass es jemanden gibt, der nachschenkt.“ Die Protagonisten sind allesamt gescheiterte Existenzen.

Dolgan präsentiert diese Randgestalten und das Milieu in einer unaufgeregten Sprache. Konzise und sehr poetisch zeugen diese scharfen Beschreibungen über das soziale Elend der Aussortierten von einer ausgezeichneten Beobachtungsabgabe mit dem Blick für Details. Die mitunter nüchterne Erzählweise erzielt ihre Wirkung, indem sie sich eben nicht ins Sentimentale verirrt, sondern es treffend auf den Punkt bringt. In starken Bildern wird die Tristesse der alltäglichen Abgründe beschrieben, in denen beispielsweise ein Demenzkranker sagt: „Nur weil ich die Welt vergesse, hat die Welt kein Recht, auf [sic!] mich zu vergessen.“

Der Roman zeigt dabei ein Panorama von Ballastexistenzen und nicht bloß ein Einzelschicksal. Gerade dadurch, dass unterschiedliche an den Rand gedrängte Menschen für wenige Seiten in das Blickfeld des Erzählers rücken sowie deren Alltagssituationen und Hoffnungslosigkeit beschrieben werden, entfaltet das Buch seine Wirkungskraft. Das Dilemma der am Boden der Gesellschaft Steckengebliebenen wird thematisiert und die alkoholabhängige Mutter äußert sich lakonisch über ihren Eindruck von Demokratie: „Du gibst deine Stimme ab. Und dann? Wie lässt sich widersprechen ohne Stimme?“ Der Widerstand gegen das System scheint zwecklos und die Chance auf einen Ausweg verbaut oder führt lediglich in eine Sackgasse.

Aber gibt es denn keinen Weg aus der Abseitsstellung? Ist alles ebenso festgeschrieben, wie es beeindruckend zu Beginn des Romans beschrieben wird? Man malt ein japanisches Schriftzeichen auf ein Blatt Papier und behauptet, es bedeutet Mensch. Schreibt man das Zeichen erneut auf ein zweites Blatt Papier und malt ein Quadrat um es herum, „es stünde für Gefangener. Erst der Rahmen, sagst du, mache aus dem Menschen einen Gefangenen.“ Der Mensch also als starres Zeichen einer festgelegten Ordnung, der nicht die Chance hat, Schriftführer seiner eigenen Existenz zu werden? Nicht bloß in der Langfeldsiedlung und allzu oft, leider ja. Dem Autor gelingt es in „Ballastexistenz“, das Leben ohne Perspektive klar nachzuzeichnen und trifft dabei jeden Ton. Nach diesem Debüt darf man auf weitere Bücher aus Dolgans Feder gespannt sein.

Titelbild

Christoph Dolgan: Ballastexistenz.
Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
150 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208426

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