Melusines Verwandlungen

Ein Sammelband rekonstruiert die Transformationen der „Melusine“ in Werk, Text und Bild

Von Lukas WernerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Werner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Johann Wolfgang von Goethe von den Leseerlebnissen seiner Kindheit. Da waren Ovids „Metamorphosen“, François Fénelons „Télémaque“ und Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, aber auch Bücher, „welche in der folgenden Zeit unter dem Titel ‚Volksschriften‘, ‚Volksbücher‘ bekannt und sogar berühmt geworden“ sind. Sie waren „mit stehenden Lettern auf das schrecklichste Löschpapier fast unleserlich gedruckt“; die „Kinder hatten also das Glück, diese schätzbaren Überreste der Mittelzeit auf einem Tischchen vor der Haustüre eines Büchertrödlers täglich zu finden“ und sie sich „für ein paar Kreuzer zuzueignen“. Zu diesen Büchern zählte auch die „Melusine“ – jene Geschichte von der sich jeden Samstag nabelabwärts zum Wurm verwandelnden Königstochter.

Im Laufe der mehrere Jahrhunderte währenden Rezeption der „Melusine“ – angefangen bei Thürings von Ringoltingen Übersetzung bis hin zu den Volksbuch-Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts – hat der Roman sprachliche, mediale und materielle Transformationen durchlaufen: aus dem Französischen ins Deutsche und von der Handschrift zum gedruckten Buch. Begleitet wurde der Text dabei von wechselnden Illustrationen, die eine „zweite visuelle Ebene der Erzählhandlung“ bildeten und zusätzliche „Interpretationsangebote“ lieferten (Ursula Rautenberg). Die „Melusine“ steht damit am Schnittpunkt verschiedener bedeutungsgenerierender und -beeinflussender Faktoren, die ihrerseits dem geschichtlichen Wandel unterliegen.

Diesen komplexen relationalen Konstellationen und historischen Transformationen – sowie der daraus hervorgehenden Spannung zwischen Kontinuität und Varianz – widmet sich der von Ursula Rautenberg, Hans-Jörg Künast, Mechthild Habermann und Heidrun Stein-Kecks herausgegebene Sammelband „Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen“. Der Band ist im Rahmen eines DFG-Projekts entstanden, das sich der „Melusine“ in der deutschen Drucküberlieferung vom ausgehenden 15. bis ins 19. Jahrhundert annimmt. Er dokumentiert in den drei thematischen Sektionen ‚Buch und Werk‘, ‚Buch und Text‘ sowie ‚Buch und Bild‘ eine Tagung von 2010.

Wie die Herausgeber in der „Vorbemerkung“ beteuern, präsentiert der Sammelband nicht die Projektergebnisse. Diese sollen in einem gesonderten Band, der „buchwissenschaftliche, sprachwissenschaftliche und kunsthistorische Aufsätze“ enthält, publiziert werden. Beide Bände beziehen sich jedoch auf eine umfassende bibliografische Erfassung der gedruckten „Melusine“-Ausgaben, die in ihrer Zusammenstellung und der Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse den idealen Ausgangspunkt für interdisziplinäre Untersuchungen bildet – darin liegt das große Verdienst des Projekts. Der vorliegende Sammelband bietet allerdings nur – in teils visualisierter Form – die Kurzfassung der bibliografischen Beschreibung; die „kommentierte Quellenbibliographie“ bleibt der eigentlichen Projektpublikation vorbehalten, die vom Verlag für Oktober 2014 angekündigt ist.

Insgesamt vereint der Band sechzehn lesenswerte Beiträge von ausgewiesenen Literatur- und Buchwissenschaftlern, Linguisten sowie Kunsthistorikern. Konzeptuell trägt er also der Schnittpunktstellung der „Melusine“ Rechnung; ihm fehlt aber eine Einleitung, die die Idee des Bandes systematisch entwickeln und einen Zusammenhang zwischen den teils recht disparaten Beiträgen herstellen würde. Unkonturiert bleibt ebenso der Anspruch, der sich hinter dem Titel verbirgt. Geht es um „Zeichensprachen des literarischen Buchs in der Frühen Neuzeit“ im Allgemeinen? Oder handelt der Band vom besonderen Fall der „Melusine“?

Die Sektion zu ‚Buch und Werk‘ gilt gleichermaßen der deutschen wie der französischen „Melusine“-Tradition. Jan-Dirk Müller und Frédéric Barbier skizzieren für beide kulturellen Kontexte einen größeren historischen Bogen. Müller beschreibt drei Wandlungen von der spätmittelalterlichen „Melusine“ zur Volksbuch-Bearbeitung: Erstens kommt es zu einer „Verschiebung des literarischen Status von res facta auf res ficta“; zweitens geht der „personal geprägte[] Verständnisrahmen[] und Kommunikationszusammenhang[] durch Veränderung und Tilgung der Paratexte“ verloren; drittens wird der Text anonymisiert. Die von Müller anschaulich herausgearbeiteten Veränderungen setzen bereits im 16. Jahrhundert ein, aber der „Prozess verläuft dabei keineswegs konsequent und geradlinig“.

Barbier wählt einen anderen Zugang, indem er unter den Begriff der ‚Vektorialität‘ die „notwendige historische Kontextualisierung des schriftlichen bzw. des gedruckten Textes“ fasst, durch die sein „Strukturwandel“ sichtbar werden soll. War die gedruckte „Mélusine“ Adam Steinschabers von 1478 eine „Prachtausgabe“ (mit einem entsprechend limitierten Rezipientenkreis), so richten sich die Ausgaben der Bibliothèque bleue als Unterhaltungsliteratur im 17. Jahrhundert an ein breites Publikum; später wird sie zum Objekt bibliophiler Interessen und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Wie Barbier in einem Systematisierungsvorschlag formuliert, sind in der historischen Langperspektive vier Bewegungen des Textes zu berücksichtigen: Zunächst „bewegt sich der Text als Text“, denn auftretende „Textvarianten“ können die Bedeutung des Textes variieren; dann „ändert sich der Text im Sinne eines ‚zu lesenden Textes‘ jeweils nach den verschiedenen materiellen Formen des Buchs bzw. des Mediums“; drittens geht der „Text durch die Zeit“ und viertens „bewegt sich der Text durch den Raum“. Zwischen Müllers und Barbiers historischen Langperspektiven stehen Aufsätze zu Detailfragen der Überlieferung und Auswertung (John L. Flood und Hans-Jörg Künast) sowie André Schnyders Plädoyer für die Neuausgabe der „Historischen Wunderbeschreibung von der sogenannten Schönen Melusina“, die im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts entsteht und bis ins 19. Jahrhundert hinein die Rezeption der „Melusine“ bestimmt.

Die sprachgeschichtlichen Aufsätze widmen sich den „transsyntaktisch kohäsionsstiftende[n] Verknüpfungsmittel[n]“ (Martin Behr), dem Wechselverhältnis zwischen der „Professionalisierung des Setzerhandwerks“ und der Orthografie (Anja Voeste), den Druckersprachen (Arend Mihm), dem ‚Frühneuhochdeutschen Prosaroman‘ aus textlinguistischer Perspektive (Franz Simmler) und der Syntax von Titelblättern (Ursula Götz). Besonders die Ergebnisse von Franz Simmler und Ursula Götz weisen über ihren disziplinären Zusammenhang hinaus. Letztere zeigt zunächst, dass es bei der syntaktischen Struktur der Titelblätter nicht eindeutig bestimmbar ist, „ob eine syntaktische Einheit, also etwa eine Nominal- oder Präpositionalphrase, als eigenständiger Ganzsatz oder als Attribut aufzufassen ist“. Die „relativ offenen syntaktischen Bezüge“, so ihre Folgerung, eröffnen „gewissermaßen mehrere Rezeptionsmöglichkeiten“ – damit enthalten sie in nuce das weite Bedeutungsspektrum der „Melusine“.

Die Sektion zu ‚Buch und Bild‘ bietet Einblicke in diachrone Bildentwicklungen, synchrone Zusammenhänge (Nicolas Bock über die französische Erstausgabe der „Melusine“), motivische Ausgestaltungen (Françoise Clier-Colombani über die „Darstellung des Wunderbaren“) und Einzelfälle (Bodo Gotzkowsky). Benedicta Feraudi-Denier arbeitet vornehmlich die Wandlungen der Illustrationen in den gedruckten „Melusine“-Ausgaben vom 15. bis ins 17. Jahrhundert heraus. Während Richels Druck von 1473/1474 den Illustrationen – die sich in ihrer Bildsprache an oberrheinischen Wandteppichen wie Einblattdrucken anlehnen – einen besonderen Stellenwert zuspricht, nimmt ihre Eigenständigkeit und Qualität in der Folgezeit – so Feraudi-Deniers These – ab, denn „mit den veränderten Nachschnitten nach Richel relativiert sich […] die herausragende Stellung der Illustrationen“. Im 16. Jahrhundert werden die Holzschnitte schließlich „Teil eines größeren Bildkonzepts“, so dass die „eigenständige Wirkung der Bildsprache“ verkleinert wird. Ungeachtet der „stilistischen“ Anpassungen bleiben vereinzelte Bildkonzepte lange wirksam.

Im Gegensatz zu diesem vornehmlich synchronen Blick verortet Kristina Domanski die „Melusine“ im Feld der illustrierten Bücher des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die eine „Präferenz für den Themenkomplex Liebe und Ehe“ haben und bis ins 16. Jahrhundert einen gewissen buchhändlerischen Erfolg verbuchen. In der bildnerischen Ausgestaltung des „Ehe- und Liebesleids“ bedient man sich innerhalb des Feldes der „zeitgenössischen Passionsikonographie“, in der Mariens „Compassio“ eine Vorbildfunktion inne hat. Indem diese Form auf die weiblichen Heldinnen übertragen wird, wird sie säkularisiert. Dies hebe – so das Fazit – den „Stellenwert von individueller Empfindung und Emotion“ und erlaube den „Einblick in einen Prozess der Individualisierung des Gefühls“, der im Beitrag jedoch nur angedeutet bleibt.

Der Beitrag von Helmuth Steininger – der die Sektion abschließt – geht der Frage nach, „wie durch die Beobachtung von Missbildung und Krankheit die menschliche Fantasie so angeregt werden kann, dass sie einer Sagengestalt die äußere Form verleiht“. Mit seiner Diagnose, „Sirenomelie (Symmelie) in Kombination mit einer Ichthyosis vulgaris“ sei die Bildquelle für die Figur Melusine, fügt sich der Beitrag jedoch nur bedingt in den Band und den thematischen Fokus der Sektion.

Die dem Band beigegebenen Personen-, Handschriften- und Titelregister erlauben es, ihn interessenfokussiert zu nutzen; hilfreich für eine erste Sichtung sind auch die Abstracts, die den Aufsätzen vorangestellt sind. Der Gesamteindruck bleibt jedoch ambivalent: Angesichts der unklaren Relation zur Publikation der Projektergebnisse und mit Blick auf die Breite der verhandelten Gegenstände vermisst man eine Einleitung der Herausgeber, die die Fragestellung und das damit verbundene Erkenntnisinteresse explizieren und so den Bogen zwischen den Einzelbeiträgen spannen würde. Dies mindert jedoch nicht den Erkenntniswert der einzelnen Beiträge; ungenutzt bleibt allerdings so die Möglichkeit, die komplexen relationalen Formen der Bedeutungsgenerierung sowie ihren historischen Wandel auf theoretischer Ebene zu reflektieren und mit dem reichhaltigen Material, das dank des DFG-Projekts nun bereitsteht, zu begründen.

Titelbild

Ursula Rautenberg / Hans-Jörg Künast / Heidrun Stein-Kecks / Mechthild Habermann (Hg.): Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit. Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltingen.
De Gruyter, Berlin 2013.
422 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110260496

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