Es war einmal ein Mädchen am Fluss

Bonnie Jo Campbells „Stromschnellen“ spürt Amerikas Urinstinkt nach: dem unzähmbaren Drang nach Freiheit

Von Dorothea HansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Hans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihren Short Stories gewinnt die Amerikanerin Bonnie Jo Campbell einen Preis nach dem anderen. Bei den American Book Awards schaffte sie es bis ins Finale. Doch erst mit ihrem Roman „Stromschnellen“ erreicht sie nun auch ein internationales Publikum. Obwohl „Once upon a river“, so der Originaltitel, kein Debüt ist, sondern die Vorgeschichte zu Campbells Roman „Q Road“. Ein erster Blick auf ihre Website zeigt die Autorin im heimischen Kalamazoo, Michigan. Seite an Seite mit ihrem Esel posiert sie im Stall; sie ist als grimmiges Cowgirl mit Strohhut und grobem Karohemd zu sehen oder aber in lässiger Pose an den Pickup-Truck gelehnt. Die perfekte Einstimmung auf ihre Romanwelt. Der Mittlere Westen der USA. Immer noch die raue Männerwelt, in der sich die Frauen behaupten müssen? Nur gut, dass Campbells Heldin keine typische Sechzehnjährige ist.

Was für Bonnie Jo Campbell Heimat und Schauplatz ihres Romans „Stromschnellen“ ist, bedeutet für Amerikaner im Allgemeinen „Das Ende der Welt“: Kalamazoo, Michigan. Es sind die 1970er-Jahre im rauen, ländlichen Mittleren Westen Amerikas. Die Moderne findet hier nicht statt. Hier am Stark River in Murrayville bestimmt die Natur das Leben der Menschen und natürlich die Familie Murray. Margo Crane ist Teil dieses Murray-Clans, der sich einst am Fluss niederließ, um eine Metallfabrik zu errichten. Allerdings gehört sie nicht dem wohlhabenden Teil der Familie an, denn ihr Vater ist nur das uneheliche Kind ihres Großvaters. Und so werden Margo und ihre Eltern seit jeher von ihren Verwandten auf der anderen Seite des Flusses misstrauisch beäugt.

Die sechzehnjährige Margo wächst nicht nur am Fluss auf, nein, „Der Stark River floss durch die Flussschleife bei Murrayville wie das Blut durch Margo Cranes Herz.“ Jede freie Minute verbringt das Mädchen in der Wildnis. Ihr Großvater nennt sie „Flussnymphe“, ihre Tante sieht in ihr eine Art Wildkatze. Margo schwimmt wie ein Fisch, schießt riesige Hirsche, angelt und lässt ihr Boot lautlos wie ein Indiander durch das Wasser gleiten. Tatsächlich gleicht die verschlossene Margo einem Indianermädchen. Doch ihre außergewöhnliche Schönheit wird ihr zum Verhängnis. Sie weckt Begehrlichkeiten, denen sogar ihr eigener Onkel nicht widerstehen kann. So kommt es zu einer Reihe unglücklicher Ereignisse, die zum tragischen Unfalltod ihres Vaters führen. Margo bleibt allein zurück. Ihre Mutter war vor einigen Jahren durchgebrannt, weil sie das Leben am Fluss nicht länger ertragen konnte. Im Jahr darauf stirbt Margos geliebter Großvater und hinterlässt ihr sein Teakholzboot „The River Rose“. Aber anstatt nun alleine über den Tod ihres Vaters zu verzweifeln, fühlt sich die Sechzehnjährige dagegen „frei“ und „quicklebendig“, denn „ohne ihren Vater war sie an niemanden mehr gebunden“.

Margo beschließt Murrayville zu verlassen. Sie will ihre verschwundene Mutter auf eigene Faust suchen. Das Mädchen belädt ihr Boot mit Proviant, Munition, einem Gewehr und tritt ihre Reise auf dem Stark River an, die erst Jahre später enden soll. Ein Leichtes, im Roman die Nähe zu Huckleberry Finn zu finden. Doch ein solch hochgreifender Vergleich ist hier nicht angebracht. Das weiß wohl auch die Autorin selbst und gibt ihrer Heldin ein anderes Vorbild mit auf den Weg: Annie Oakley, schon zu Lebzeiten eine amerikanische Legende. Die Kunstschützin wurde zur nationalen Ikone und verkörpert den Prototypen des All American Girls. Und genau das stellt Margo dar: den Urtypen des All American Girls, wunderschön, wild und unabhängig und deshalb so begehrt. Freiheit und Unabhängigkeit sind Margos höchstes Ziel und so lebt sie den American Dream in seiner ursprünglichsten Form: The pursuit of happiness – Das Streben nach Glück lässt sie auf dem Stark River auf- und abtreiben. Margo verkörpert die natürliche Unschuld und die Freiheit in der Wildnis. Sie ist der wahre Native American mit seinen vorgeblich unzähmbaren Urinstinkten. Ein Indianermädchen, das sich seine Nische in der zivilisierten Welt sucht.

Einzig gefährlich werden ihr dabei die Männer, die ihren Weg kreuzen. Ihre Unschuld und Naivität treiben sie immer wieder in die Arme der Männer, die den Fluss besiedeln. Doch auch wenn sie sich dabei diesen vollkommen überlässt, so macht sie sich diese auch zu nutzen. Mal geht es ihr gut dabei, sie lernt die Liebe kennen. Mal geht es ihr schlecht, und sie muss Gewalt erfahren. Sie begegnet sogar dem Tod. Doch vor allem begegnet sie sich selbst. Sie findet ihren Weg und weiß, wer sie ist und was sie sein will. Das ist die eigentliche Reise, auf der sie der Leser begleitet.

Auch wenn man mit Margo nicht besonders schnell warm wird, ist sie doch eine außergewöhnlich lebendige und starke Heldin. Ihre Gefühlswelt eröffnet sich nicht über ihre Sprache, wortkarg und verschwiegen wie sie ist. Trotzdem ist der Leser nah an ihr dran. Wenn sie es Tag für Tag schafft, in der Natur zu überleben, sogar wenn sie sich völlig nackt den Männern hingibt, die ihr am Flussufer begegnen. Als Margo am Ende auf ihre Mutter trifft, hat der Leser seine anfängliche Distanziertheit längst überwunden. Diese Begegnung macht deutlich, dass es für Margo nur ein Leben geben kann: Allein und daher geschützt vor verletzenden Gefühlen.

Man muss dem Roman Zeit geben, damit er sich entwickeln kann, um richtig gut zu werden. Die Zeit, die auch Margo braucht, um sich zu finden. Lässt man sich auf diese Reise ein, so wird man mit einer ursprünglichen, unsentimentalen und gleichzeitig berührenden Charakterbeschreibung belohnt. Und mit einer Parabel, welche die Konsequenzen des Strebens nach Freiheit aufzeigt. Was den Roman aber zu Beginn schon stark macht, ist Bonnie Jo Campbells Talent, nicht nur ihre Charaktere authentisch zum Leben zu erwecken, sondern auch die Welt, die sie umgibt. Der Leser spürt das eiskalte Winterwasser des Flusses, er riecht die Tannennadeln, das Feuer und den Ruß. Er hört die Äste knarren, die Vögel rufen, das Laub rascheln und das Wasser im Stark River rauschen. Er ahnt, dass es sich lohnt, dranzubleiben.

Titelbild

Bonnie Jo Campbell: Stromschnellen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Carina von Enzberg.
Piper Verlag, München 2013.
400 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054928

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