Politik und Pubertät

Jelle Behnert erzählt in „Liebe Steine Scherben“ eine Dreiecksgeschichte vor historischem Hintergrund

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sommer 1977 ist eine politisch bewegte Zeit, es ist die Hochzeit des linksextremistischen Terrors der sogenannten Roten Armee Fraktion, der RAF; es ist die Zeit, in der die Baader-Meinhof-Bande/Gruppe oft die Schlagzeilen beherrschte; und es ist auch die Zeit, in der der Roman von Jelle Behnert spielt. Er handelt von einer Liebesgeschichte in der Pubertät: Der dreizehnjährige Johann ist, so recht weiß er das nicht, vielleicht verliebt in die fünfzehnjährige rothaarige Matilda, die er Tilda nennt. Auf jeden Fall ist sie eine Spielkameradin aus der Nachbarschaft. Tilda ist größer als Johann und bestimmt letztlich, was sie zusammen spielen. Doch in diesem Sommer taucht ein Junge namens Sebastian an Tildas Seite auf, der Johann zu verdrängen scheint. Im Herbst ist Sebastian aber schon nicht mehr Tildas Freund. Johann sucht ihn, weil Tilda behauptet hat, er habe in der Art eines Voodoo-Zaubers den bösen Blick und ihr Verhältnis vergiftet. Er findet ihn darauf auch und hat mit ihm ein erotisches Erlebnis in einem ehemaligen Bunker. Ob das aber tatsächlich ein schwules Liebeserwachen ist, bleibt im Vagen.

Es ist erkennbar, dass es der Autorin um eine pubertäre Liebesgeschichte geht, die angefüttert wird durch die politischen Ereignisse, vor allem die Entführung von Hanns-Martin Schleyer und schließlich die Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“ von Mallorca nach Mogadischu, um damit Andreas Baader und seine Freundinnen und Freunde aus dem Gefängnis freizupressen. Das Seltsame ist jedoch, dass diese politisch durchaus aufgeladene Zeit im Roman nicht lebendig wird. Er kommt quasi ohne Zeitbezug daher, auch wenn in ihm Buchstaben und Wörter, die den Bezug zu der bleiern genannten Zeit herstellen sollen, diesen Mangel zu verdecken suchen. Möglicherweise liegt das an der Perspektive, die Jelle Behnert wählt: es ist die Perspektive des dreizehnjährigen Jungen Johann, der als Icherzähler fungiert. Das ist in mehrfacher Hinsicht ein heikles Unterfangen, denn einerseits entsteht tatsächlich der Eindruck, dass hier einer mit kindlichem Wissenstand seine Geschichte erzählt, andererseits gibt es jedoch in hohem Maß reflektierte Passagen, denen man diese Kinderperspektive nicht abnimmt. Weiterhin heikel ist der Geschlechtswechsel, den die Autorin vornimmt. Jelle Behnert schlüpft in die Figur des dreizehnjährigen Jungen Johann. Bei allem Respekt, aber das kann eigentlich nur schiefgehen. Wer als Mann diesen von einer Frau geschriebenen Roman aus der Perspektive eines Jungen in der Pubertät liest, stößt immer wieder auf Ungereimtheiten oder Unwahrscheinlichkeiten, die einer Leserin kaum auffallen dürften, wie zum Beispiel die folgende unglückliche Metapher, die einen Zustand, hervorgerufen durch eine Phimose, beschreiben soll, den ich mir als Mann nicht vorstellen kann: „Meine Vorhaut nimmt meine Eichel dauernd in den Schwitzkasten.“ Mit Verlaub: Bei einer Phimose ist die Eichel immer von der Vorhaut umschlossen, der Junge kann es gar nicht anders kennen. Etwas abgedreht ist die Fantasie, dass der Junge seine Vorhaut nach der von der Mutter veranlassten Beschneidung mit nach Hause bekommen habe, die er dann seiner Freundin Tilda überlassen habe, die damit nichts anderes zu tun gehabt hätte, als auf ihr herumzutrampeln…

Es geht in dem Roman auch um „schwarze Magie“, die eine schaurige Atmosphäre schaffen soll. Tilda erklärt es nach dem Ende der Beziehung mit Sebastian dem kleinen Johann: „Wir haben schwarze Magie gespielt…. Aber das ist kein Spiel. Das ist etwas wirklich Böses. Du merkst nicht, wie es kommt und dich holt. Das Böse. Wir spielen was. Wir tun was. Es tut was mit uns. Nicht wir spielen das Spiel. Das Spiel spielt mit uns.“ So das fünfzehnjährige Mädchen.

Schaurige Szenen gibt es allerdings in der Tat in diesem Buch, etwa dann, wenn Johann eine Nacktschnecke in den Mund nimmt und zerbeißt. Oder die durchaus starke Szene, in der Tilda ihren Hamster Johann gibt und ihn auffordert, das von ihr geliebte Tier zu töten, um einen (angeblichen) Fluch Sebastians abzuwehren. Ob es glaubwürdig ist, dass hier zwei Pubertierende auf einem erstaunlich hohen, reflektierten und sprachlich avancierten Niveau sprechen, ist eine andere Frage. Ein Beispiel aus dem Dialog: „Es gibt ein Wurmloch zwischen unseren Gehirnen. Von seinem Kopf in meinen und von meinem Kopf in seinen. Wir verstanden uns, als hätten wir beide ein Gehirn. Wenn es für einen Menschen nur einen Menschen gibt, der ihn vollkommen versteht, dann war ich dieser Mensch für ihn, und er war dieser Mensch für mich. Wir gehörten zusammen, einfach und notwendig. Wir waren ein Ganzes. Und dann sind wir entzweigebrochen. Deinetwegen.“

Jelle Behnert wählt eine poetisch aufgeladene Sprache, die aber bisweilen eher komisch wirkt, wie in folgendem Beispiel, bei dem auch die Grammatik etwas knirscht: „Mein Herz klopft, als wenn ich zusehe, wie ein Komet brennend die Atmosphäre durchbricht und auf der Erde einschlägt!“ – oder in diesem: „Tilda sammelt Eispapierschirmchen und Schmetterlingsspangen. Ich sammle ihre Grausamkeiten. Ich habe die immer in einem Lappen. Dieser Lappen ist meine Seele. Man spürt die Seele erst, wenn sie verletzt wird. Erst dann weiß man, dass man eine hat und aus welchem Stoff sie besteht. Meine Seele ist ein Lappen, wo sie Iiiih! und Bäh! eingestickt hat.“

Trotz einzelner eindringlicher, mitunter auch poetischer Passagen halte ich den Roman als Ganzes für nicht geglückt: Er hat eine Künstlichkeit, die womöglich sogar bewusst intendiert ist. Insbesondere dann, wenn den Jugendlichen eine Sprache und ein Denken anverwandelt wird, die ich nicht für glaubwürdig halte. Dazu gehört auch eine Art Geraune mit Anspielungen und Vorausdeutungen, die jedoch fast untergehen, weil sie nur beiläufig erwähnt werden, wie zum Beispiel die Warnung vor einem Bunker, der gegen Schluss eine wichtige Rolle spielt, die hier nicht verraten werden soll. Im Widerspruch zur Künstlichkeit, die ja nur dann sinnvoll ist, wenn sie im Kontrast zur banalen Wirklichkeit steht, gibt der Roman vor, einen Ausschnitt der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit im Jahr 1977 abzubilden. Abgesehen davon, dass just das nicht gelingt, vielleicht auch nicht gelingen kann, weil die Pubertierenden von den politischen Entwicklungen gar nicht berührt werden, da aus deren Perspektive erzählt wird, scheitert „Liebe Steine Scherben“ von Jelle Behnert aus der Sicht des älteren geschulten Lesers an diesem Widerspruch. Möglicherweise ist jugendlichen Leserinnen und Lesern, die erklärte Zielgruppe des Aufbau-Verlag-Imprints „Blumenbar“, das völlig egal, weil sie auf die starken Szenen des Romans wert legt und in dieser Erwartung bedient wird.

Titelbild

Jelle Behnert: Liebe Steine Scherben. Roman.
Blumenbar Verlag, Berlin 2013.
251 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783351050061

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