Mondfisch und Mönch

„Diderots Enzyklopädie“ in der Anderen Bibliothek

Von Peter-Henning HaischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter-Henning Haischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stuhlrahmen, Hermaphrodit, Giraffe, Tannengrün auf Grau, so präsentiert sich auf den Büchertischen „Diderots Enzyklopädie“. Die Umschlaggestaltung des Folianten kündigt einen iconic turn an und beschwört doch die ordnende Kraft des Alphabets: Die drei Motive aus den Kupferstichbänden der originalen „Encyclopédie“ bannt der Buchgestalter in ein Raster aus weißen Linien (es ist das Schema eines Setzkastens) und setzt Leitmedien und Oberflächenstruktur der originalen „Encyclopédie“ sinnfällig ins Bild.

„Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des metiers, par une societé de gens de lettres“ lautete der Titel der ersten Ausgabe, die zwischen 1751 und 1772 erschien; insgesamt waren es siebzehn Textbände im Folioformat mit 71818 Artikeln, die später noch fünf Supplemente und zwei Registerbände ergänzten, dazu kamen elf Bände mit 2885 Illustrationen in Kupferstich. Die ersten Vorarbeiten hatten in Form der französischen Bearbeitung einer zweibändigen englischen Enzyklopädie bereits 1745 begonnen, ab 1747 veränderten die neuen Herausgeber, Denis Diderot und Jean Le Rond d‘Alembert, die Konzeption des Werks grundlegend. Ihre Enzyklopädie sollte den Wissensstand der Zeit umfassend abbilden. Sie gewannen bald die bedeutendsten Schriftsteller Frankreichs für das Unternehmen: Neben den engagierten Herausgebern verfassten Voltaire, Rousseau, Montesquieu, Marmontel, Condillac, Helvetius, Buffon und viele andere Größen ihres Fachs Beiträge für die „Encyclopédie“. Um die wissenschaftliche, technische, handwerkliche und künstlerische Themenvielfalt überzeugend abzudecken, waren neben Fachgelehrten sogar Handwerker miteinbezogen worden: „Wir wandten uns an die tüchtigsten Handwerker in Paris und unserem Königreich. Wir machten uns die Mühe, sie in ihren Werkstätten aufzusuchen, sie auszuforschen, nach ihrem Diktat Aufzeichnungen zu machen, ihre Gedanken zu entwickeln […]“, schreibt Diderot im „Prospekt“ der Enzyklopädie. All diese Artikel veranschaulichte das großzügig beigegebene und in der Herstellung immens kostspielige Abbildungsmaterial, das allein ein echtes Verständnis der beschriebenen Methoden gewährleisten konnte: damit „die Wissenschaften und Künste auf eine Weise behandelt werden, die keinerlei Vorkenntnisse verlangt“, wie Diderot im Prospekt versprach. Bis heute erlaubt die enge Verzahnung von Abbildungsteil und Fachartikel jedem Interessierten einen detaillierten Einblick in die Fertigungsmethoden der Manufakturproduktion des 18. Jahrhunderts. Insgesamt arbeiteten zweihundert Wissenschaftler und mehr als tausend Arbeiter für das Projekt, das damit zu einer der kostspieligsten Privatinvestitionen des 18. Jahrhunderts und trotzdem ein so großer Erfolg wurde, dass es seine Verleger – nur nicht den Herausgeber und seine Mitarbeiter – reich machte. Das vollständige Erscheinen der Ausgabe, die Regierung und Kirche mit den Waffen der Zensur und anderen Schikanen bekämpft hatten, war damit mehr als nur ein bedeutendes Ereignis der Lexikographie, es war ein Triumph der europäischen Aufklärung. Über Nachdruckausgaben wurde die „Enyclopédie“ bald stark verbilligt und über ganz Europa verbreitet; mit ihr verbreitete sich auch das Gedankengut der Aufklärung.

Um die Masse des in der Enzyklopädie verstreuten Wissens nicht ganz dem Zufallsgenerator des Alphabets preiszugeben, hatten die Herausgeber übrigens ein Verweissystem und ein Schema des menschlichen Wissens erarbeitet, die das in den Artikeln vereinzelte Wissen wieder zu größeren Komplexen zusammensetzte. Dieses Verweissystem entwickelte sich auch zu einer raffinierten Methode, die Zensur irrezuführen, wenn etwa der Artikel „Franziskaner“ („Cordelier“) die positiven Aspekte des Ordens herausstellte, über den Verweis auf den harmlos erscheinenden Artikel „Kapuze“ („Capuche“) dann aber massive Kirchenkritik bot.

Nachdem d’Alembert wegen der fortwährenden Zensurquerelen 1757 ausgeschieden war, brachte Diderot das gewaltige Unternehmen mithilfe Louis de Jaucourts, der allein 17000 Artikel verfasste, 1772 zum Abschluss; von ihm selbst stammen um die 7000 Artikel. Obwohl er nur ein Zehntel des Werks verfasst hat, war er doch die eigentliche Seele des Unternehmens, das ihn viele Lebensjahre gekostet hat.

Insofern scheint es gerechtfertigt, wenn die Andere Bibliothek nun den 300. Geburtstag Diderots mit der Neuausgabe ihres Sonderbandes „Die Welt der Encyclopédie“ feiert, den Anette Selg und Rainer Wieland bereits 2001 publiziert hatten. Damals bejubelte man übrigens den 250. Geburtstag der „Encyclopédie“. Nun wird der Torso umgewidmet. Der Artikelbestand ist nicht neu, dafür das Papier besser und statt etwa 500 Seiten reiner Buchstabenmasse bereichern den Textblock nun Abbildungen aus den elf Tafelbänden des Originals auf 200 bräunlich getönten Seiten. Nur: Offensichtlich fehlt Text. So sehr die Berücksichtigung der im Original so wichtigen Illustrationen auch einleuchtet, sie geschieht auf Kosten des Wortbestands. Und das ist bei einem Buch bedenklich.

Die Frage lautet also: Wo wurde gekürzt? – und hier beunruhigt zunächst die Tatsache, dass die im Verhältnis zum Original mit seinen fast 72000 Schlagworten ohnehin schon gering ausfallende Artikelzahl noch weiter reduziert worden ist. Nun könnte man einwenden, dass sich das Großprojekt der „Encyclopédie“ auch in drei solcher Folianten nicht wirklich hätte abbilden lassen. Warum also über das Fehlen von Artikeln wie Denkfreiheit, Experimentell oder Ideenassoziation noch mehr Worte verlieren? Doch hier machen die geistigen Etatkürzungen nicht Halt.

Was in der Neuausgabe fehlt, sind auch die Artikel zeitgenössischer Autoren, die 2001 das Projekt Aufklärung ins neue Jahrtausend fortsetzen sollten. Lars Gustafsson, Alexander Kluge, Javier Marías und Tzvetan Todorov dürfen 2013 in ihrer Rolle als moderne Enzyklopädisten nicht mehr glänzen. An ihre Stelle treten die mehr oder weniger illustren Bilder von Mondfisch und Mönch, Methoden der Fischerei oder Kunstfiguren der Pferdedressur. Staunen löst Wissen ab. Der Glaube an die Zukunftsfähigkeit der Enzyklopädie hat sich verloren und wird ersetzt durch das Konzept einer bedingungslosen Historisierung – so scheint es. Denn alles der originalen „Encyclopédie“ Fremde wurde zugunsten des historischen Abbildungsimplantats herausoperiert.

Die vielen Abbildungen, die allerdings ohne ihren Erklärungsteil beigegeben werden, verzerren das historische Profil der „Encyclopédie“, obwohl die Herausgeber in ihrem Vorwort auf Seite 33 selbst schreiben: „Es wäre ein großes Missverständnis, die über 3000 Seiten mit Bildtafeln als bloßes illustratives Beiwerk anzusehen – sie sind ein integraler Bestandteil des Unternehmens.“ Leider blättern wir zuweilen ahnungslos durch den aufgeblähten Bildteil und betrachten 23 verschiedene Hufeisen oder mehrere Seiten (113–122) mit Tafeltiteln wie „Jugend & Alter“, „Augen & Nase“, „Mund & Ohren“, „Verschiedene Gemütsbewegungen“, ohne dass die fürs Verstehen wichtige Bildunterschrift „Dessein“ mitübersetzt wäre, die verrät, dass die Abbildungen hier nicht zur Anatomie, sondern zur bildenden Kunst gehören. Manchmal fühlt man sich beim Betrachten an den Codex Seraphinianus, eine nonsensikalische Schöpfung Luigi Serafinis von 1981 erinnert, der eine surreale Enzyklopädie in einer für uns unverständlichen Sprache geschrieben und gezeichnet hat. Das hat durchaus seinen Reiz, entfernt sich aber weit vom Anliegen der „Encyclopédie“.

D’Alembert und Diderot waren laut d‘Alemberts „Avertissement“ mit zwei Zielen für ihr Werk angetreten: „als Enzyklopädie soll es, soweit dies möglich ist, Aufbau und Zusammenhang der menschlichen Kenntnisse aufzeigen; als Methodisches Sachwörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe soll es von Wissenschaft und Künsten […] die allgemeinen Prinzipien enthalten, auf denen sie beruhen, und darüber hinaus über die wichtigsten Einzelheiten berichten, die ihre Zusammensetzung und ihren Gehalt bestimmen.“ Doch von Aufbau und Methode des Originals verrät das aktuelle Sammelsurium nichts. Stattdessen findet der Leser stillschweigend gekürzte Artikel, ins Leere laufende Verweise und Abbildungen ohne die zum Verständnis nötigen Erläuterungen. Das Fragment verwandelt sich so ins Gegenteil dessen, was seine Verfasser angestrebt hatten: in ein lexikalisches Kuriositätenkabinett. Gewiss konnte sich ein Restbestand alter Wissensordnungen auch in das vergleichsweise junge Projekt der „Encyclopédie“ retten, auch ließ es sich aufgrund der langen und schwierigen Entstehungszeit und der vielen Mitarbeiter keineswegs einheitlich durchplanen. Vielleicht lässt sich ja durch ein kurioses Fragment tatsächlich die Vergeblichkeit dieser Großprojekte unterstreichen, die überkommene Denkmuster und schnell erodierende Wissensstände vor, während und nach der Publikation gefährden – weswegen das Buch als Medium enzyklopädischen Wissens längst ausgespielt hat. Schon die Macher des aufklärerischen Projekts dürften angesichts des explosionsartig expandierenden Wissens im 18. Jahrhundert von vornherein ihr Scheitern mitbedacht haben. Nur sollte Kuriosität nicht der einzige Grund für eine Aktualisierung sein. Wäre es – und das gilt für 2001 ebenso wie für 2013 – also nicht sinnvoller gewesen, ein Projekt wie die „Encyclopédie“ in der Würde ihres Anspruchs vorzustellen? Indem man vorführt, wie das Wissen hier organisiert ist, wie das Verweissystem aus Artikeln und Abbildungen funktioniert? Hätten die Herausgeber sich exemplarisch auf ein kleines Themensegment konzentriert und dieses möglichst vollständig abgebildet, hätte sich das Ganze vielleicht maßstabsgerecht verkleinern lassen. Angereichert mit Artikeln aus der Feder Diderots, d’Alemberts oder Voltaires hätten die Herausgeber ihren Lesern so vielleicht einen repräsentativen Ausschnitt des Originals bieten können.

Übrigens ist der Vergleich mit dem Kuriositätenkabinett unfair, weil selbst die Wunderkammern einer Ordnung folgten. Bei Selg und Wieland gleicht die „Encyclopédie“ aber Unternehmen wie dem „Himmlischen Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse“ oder der Universaleinteilung des bibliographischen Instituts in Brüssel, aberwitzigen Un-Ordnungssystemen, wie sie Borges in seinen Essays ersann. So verkehrt sich historischer Purismus in Ahistorizität. Aber wahrscheinlich lag der Beschränkung auf den originalen Text-und Bildbestand der „Encyclopédie“ ohnehin kein durchdachtes Konzept zugrunde.

Denn wenn Geschichtstreue unerklärte Absicht gewesen wäre, warum wurde dann auch die 2001 noch berücksichtigte Programmatik der Enzyklopädisten vollständig eliminiert? Damals schrieb der wohl renommierteste Kenner der „Encyclopédie“ und ihrer aufregenden Publikationsgeschichte, Robert Darnton, einen fundierten Essay zum Thema, den mehrere Ankündigungen, Vorreden und Nachworte ihrer Herausgeber Diderot und d’Alembert abrundeten. Hier erfuhr der Leser mehr über die Absichten des legendären Unternehmens. Nun sieht er sich auf das neue Vorwort der Herausgeber zurückgeworfen, in dem die Enzyklopädie als „Maschinengewehr“ fungiert, „mit dem eine Gruppe von freidenkenden Geistern den Generalangriff auf die Grundfesten der absolutistischen Gesellschaft führte.“ Beim Einreißen von Grundfesten bewähren sich Sprengsätze allerdings besser. Abgesehen vom Bild des Denkens als offensichtlich untauglicher Waffe – worin sich vielleicht eine tiefere Wahrheit ausspricht als beabsichtigt – kann die neue Einleitung trotz ihres journalistischen Schwungs weder Darntons Überblick von 2001 noch die Selbstaussagen Diderots und d‘Alemberts ersetzen. Im knappen Vorwort für 2001 hatte es in weiser Selbstbescheidung noch geheissen: „Nackt sieht die Encyclopédie anders aus, menschlicher, weniger angsteinflößend, bezaubernder, fehlerhafter“. 2013 wird Nacktheit zum Gerippe, und da Struktur fehlt, zu ein paar Knochen, immerhin nett geformter Knochen, durchaus ansprechend verpackt. 

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Denis Diderot: Diderots Enzyklopädie. Mit Kupferstichen aus den Tafelbänden.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock, Theodor Lücke, Eva Moldenhauer und Sabine Müller.
Eichborn Verlag, Berlin 2013.
500 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783847700135

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