Gegenwart mit kurzer Zukunft

Assaf Gavron setzt sich in seinem Roman „Auf fremdem Land“ mit Israels heikler Siedlungspolitik auseinander

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Triumph am Ende von "Auf fremdem Land" ist vorläufig und trägt so für alle Beteiligten die Züge des Vertrauten. David Grossman behauptet in seinem Essay "Reflexionen über einen entgleitenden Frieden" von der israelischen Gesellschaft, "dass es kein zweites Volk gibt, das solch ein misstrauisches, skeptisches Verhältnis hat zur Perspektive von Zukunft, Beständigkeit und Existenzkontinuität in dem Land, in dem es lebt." Kern des jüdischen Selbstverständnisses scheine "das Gefühl nahender Vernichtung zu sein".

„Auf fremdem Land“ beginnt mit einem Aufbau. Der Buchhalter Otniel Asis plant einen Berufswechsel: Gemüsebauer möchte er werden und sucht Land für seine Kirschtomaten und die Ziege. Erst auf einem entlegenen Gelände, halb zu Israel gehörig und als Naturschutzgebiet ausgewiesen, halb Palästinenserterrain, kommt Otniel niemandem in die Quere. Ohne Zustimmung der politisch Verantwortlichen entsteht die Siedlung Ma’aleh Chermesch 3, deren Bewohner sich Jahre später gegen Räumungspläne wehren. Sie hadern mit Politikern, Armeekommandeuren, Demonstranten und mit dem nahen Palästinenser-Dorf, aus dem hin und wieder Steine fliegen.

Die Bewohner von Ma’aleh Chermesch 3 richten sich ein in engen Wohncontainern und mit Strom aus Generatoren, die gelegentlich ausfallen. Zu niedrigen Mieten blicken sie in die wüst-schöne Weite des gelobten Landes. Sie kämpfen im wörtlichen Sinne für ihr Dasein, viele von ihnen überzeugt vom rechten Weg dieses Kampfes. Otniel Asis wird zum Herrscher über das Provisorium. Beißt sein Hund ein Kind der Siedlung, scheuen sich die Eltern, den Übergriff anzusprechen. Otniel teilt mit seinem Siedlungsrat neuen Wohnraum zu und fällt das Urteil über eine aufgeflogene Informantin. Unverzichtbares Arbeitsmittel des Gemüsebauers Otniel ist sein Mobiltelefon: Laufend kontaktiert er Gemeindeverwalter und Politiker und intrigiert, um das Siedlungsleben zu sichern.

Der israelische Autor Assaf Gavron zeigt in „Auf fremdem Land“ das Leben von Menschen, die dort eine Zukunft suchen, wo diese Zukunft fast jeden Tag zur Disposition steht. Die umstrittene Siedlungspolitik seines Landes ist Dauergast in Nachrichtensendungen – so präsent, dass man ihr kaum mehr Aufmerksamkeit schenkt. Gavron möchte ein differenziertes, vielschichtiges Bild dieses Kapitels des jüdischen Staates zeichnen, von innen heraus, indem er die Menschen zeigt, die den Streit wach halten. Dem strenggläubigen Otniel sind junge Familien und Einzelgänger gefolgt. Nir und Scha’ulit Rivlin holen ihren Reifeprozess nach einer vorschnellen Heirat und der Geburt dreier Kinder nach. Ihre Ehe scheitert in einem unbequemen Alltag, den man nur in Übereinstimmung meistern kann. Die fundamental-religiöse Neta Hirschson zürnt linken Demonstranten, den arabischen Nachbarn und versucht zum Leid ihres Mannes mit demselben Starrsinn, ein Kind zu zeugen. Der Eigenbrötler Gavriel Nechuschtan sucht im jüdischen Glauben Halt, nachdem er unter seinem ursprünglichen Namen Gabi Kupfer als Familienvater versagt hat. Desaströs gescheitert ist auch Gabis Bruder Roni. In der Finanzkrise der 2000er-Jahre verliert Roni sein Vermögen und das seiner amerikanischen Kunden. Durch Missbrauch von Insider-Informationen und gefälschte Unterschriften hat Roni die Pleite mitverursacht. Er flieht vor seiner Verantwortung aus den USA und richtet sich auf der Couch in Gabis Wohnwagen ein. Während Gabi das Stabile im Labilen anstrebt und an seinem „Zimmer“ baut, einem Häuschen aus Stein, verliert Roni keine Zeit mit Reue und sinnt nach der nächsten Geschäftsidee.

Die Brüder Kupfer ragen mit ihrer ausführlich dargestellten Vorgeschichte aus der Siedlergemeinschaft heraus. Aufgewachsen sind die beiden bei Pflegeeltern in einem Kibbuz. Der ältere Roni wird zum Draufgänger, nachdem ihn seine erste Liebe nach dreimaligem Beischlaf abserviert hat. Der jüngere Gabi meidet die Mädchen und pflegt im Rückzug Aggressionen, die in plötzlicher Gewalt Gestalt annehmen. Brutaler Zorn übermannt Gabi, wenn er sich – berechtigt oder nicht – gedemütigt fühlt: Im Kibbuz fügt Gabi einem ihn hänselnden Mitschüler ein lebenslang entstelltes Gesicht bei. Als Soldat zündet er eine Schockgranate im Schlafraum der Köche, die eines Abends nicht für die Truppe kochen wollen. Und sein Misstrauen seiner Ehefrau Anna gegenüber spricht Gabi nicht an, sondern brütet schweigend darüber, bis es in Schläge gegen seinen Sohn Miki mündet.

Mit dem Beispiel zweier verantwortungsloser Brüder stellt Gavron der Siedlungs-Gegenwart ein anderes weitgehend gescheitertes Sozialprojekt Israels gegenüber: Roni und Gabi finden weder im Kibbuz mit seiner sozialistischen Vision eine Heimat, noch beschert ihnen das patriarchalische Pionierstreben, für das Otniel einsteht, das verheißene Glück. Die Siedlung ändert keinen von ihnen. Roni nimmt das Provisorische ohnehin als Zuflucht. Doch auch Gabis religiöse Wende ist Selbstbetrug: Seine Gewaltbereitschaft bleibt. Die Siedlerfamilie Gottlieb erkennt früh die nur scheinbare Ordnung. Nicht ein Hundebiss treibt sie letztlich zurück ins frühere Leben, vielmehr die Einsicht, dass geteiltes Leid allenfalls eine Solidarität vorgauckelt.

All diese Ereignisse verortet Assaf Gavron global. Israelische Ministerien, Verwaltungsorgane, die Armee sowie jüdische Geschäftsleute aus den USA beeinflussen das Geschehen in und zwischen den Wohncontainern von Ma’aleh Chermesch 3. Der Amerikaner Sheldon Mamelstein erliegt dem Eigennutz der Großzügigkeit. Dass er seine Spende für einen Spielplatz in der Siedlung zu Hause von der Steuer absetzen kann, deckt ein Korrespondent der Washington Post auf: Der offiziellen Israel-Politik der USA laufen solche Wohltaten zuwider. Der Artikel ruft den amerikanischen Botschafter in Jerusalem auf den Plan, ein weiterer Störenfried in Otniels Reich. Schließflich fahren auch die Japaner in einem Jeep vor, mit einem überraschenden Interesse: Sie lockt dasselbe palästinensische Olivenöl, in dem auch Roni Kupfer das Ende seiner Couchexistenz wittert.

Vieles geschieht in und um die Siedlung herum – leider nicht literarisch. Die politischen und zeitkritischen Elemente kehren die zentrale Frage lustlos vor sich her: Wird Ma’aleh Chermesch 3 bestehen oder untergehen? Gavron zählt die Akteure der Macht auf: Politik, Wirtschaft, Medien, Stiftungen, systemkritische Aktivisten. Pflichtschuldig wirkt diese Vollständigkeit, denn: Er entschlüsselt ihre Mechanismen nicht in der konkreten Situation. Die Dialoge verlaufen langwierig, etwa wenn der Sicherheitsminister in einer Sitzung eine Entscheidung über den Fortbestand der Siedlung trifft. Der Darstellung anderer handlungsbestimmender Ereignisse weicht Gavron hingegen oft aus: Im Nachhinein erwähnt er kurz den diplomatischen Druck, den Japan des Olivenöls wegen ausübt, oder die internationale Krise, die der Artikel in der Washington Post hervorruft. Lose legt Gavron die Fäden einer politisch brisanten Handlung, ohne die Schrauben, um die diese Fäden gelegt sind, zu drehen. Dass das Geschehen oben die Ereignisse unten beeinflusst, erklärt Gavron oft allzu ausführlich, doch veranschaulicht er es nicht überzeugend im Detail.

Auch Gavrons Sozialstudie fehlt die Präzision: Wieso etwa agiert Otniels Teenager-Sohn Jakir über Wochen zunächst als Fundamentalist in Second Life, sprengt mit seiner Clique eine Moschee und übergibt sich schließlich vor Gewissensbissen? Seinen inneren Wandel zeichnet Gavron wie so vieles nicht nach. Psychologische Glaubwürdigkeit entsteht nicht, indem Figuren ihre Motive und Reaktionen präsentieren wie Litfasssäulen Plakate.

Der Schlüssel zu so viel Unschlüssigem und Unschärfe liegt in einem sprachlichen Unvermögen, das keine Tiefe möglich macht. Gavron scheitert sprachlich am wortlosen Streit zweier Brüder, am Sich-Verlieben und Sich-Verlieren junger Menschen, an beinah jeder klassischen Romansituation. In der New Yorker Subway trifft Gabi auf seine spätere Frau Anna, die er von früher aus dem Kibbuz kennt. Eine Nacht lang fahren beide gemeinsam durch New Yorks Unterwelt. Der in sich gekehrte Gabi formuliert im ersten bedeutsamen Gespräch seines Lebens eine der tiefsten Erkenntnisse des Romans: „Man ist manchmal so auf sich selber konzentriert, sagte er zu ihr, dass man vergisst, dass man für andere nicht der Mittelpunkt der Welt ist.“ Atmosphärisch greift die Natur in die romantische Begegnung der beiden ein: „Den Punkt am Ende des Satzes setzte der gewaltigste und nächste Donnerschlag, den sie je gehört hatten“. Gabis und Annas Wiedersehen endet in Gabis Unterkunft. Sie „schliefen ein, noch bevor sie es überhaupt schafften, daran zu denken, was jetzt passieren würde, denn sie waren todmüde und schwindlig, zu viel war den beiden in einer Nacht passiert, und sie hatten keine Energie mehr übrig. Doch am Morgen hatte sich die Energie, wie es ihre Natur ist, erneuert.“ Was geschieht, muss erwähnt werden – so lautet Gavrons erzählerisches Prinzip. Um die Darstellung kümmert er sich wenig. Wo die Blicke von Figuren durchgängig „vielsagend“, „unvergesslich“, „gequält“ und nichts anderes sind, entsteht eher eine Telenovela-Szenerie denn die epische Weite, die Gavron beabsichtigte.

Das Bild seines poetischen Klangs liefert Gavron selbst: ein Top-Ten-Song der 1990er-Jahre, für den es keine Instrumente braucht. Bevor Roni als Investment-Banker absahnt und abstürzt, betreibt er erfolgreich eine Bar in Tel Aviv. Eines Nachts macht ihn ein Gast auf ein Lied aufmerksam. „Im Hintergrund fragte Haddaway, was Liebe sei, und bat seine Liebste, ihn nicht mehr zu verletzen, und Ejal fragte, ob das nicht die verrückteste Geschichte sei, die Roni hier in der Bar je gehört hätte. ‚Nein‘, erwiderte Roni, ‚aber schlecht ist sie nicht.‘“

Schlecht ist auch nicht Gavrons Idee. Sein Anliegen ist verheißungsvoll. Vorurteilsfrei nähert er sich seinen Figuren – gleich welche Überzeugungen sie vertreten. Doch auf fremdem Land bewegt sich letztlich auch Gavron selbst, dem offenbar mehr Ereignisse denn Vokabeln zur Verfügung standen. Nach 540 Seiten verlässt man „Auf fremdem Land“ leider so wie mancher Gast die Siedlung Ma’aleh Chermesch 3: erschöpft, erleichtert, ohne die dort Lebenden ganz verstanden zu haben und ohne Rückkehrpläne.

Titelbild

Assaf Gavron: Auf fremdem Land. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Barbara Linner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
544 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874197

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch