Und was ist mit der Wahrheit?

Paul Boghossian fragt dennoch: „Wer hat ,Angst vor der Wahrheit‘?“

Von Tobias WeilandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Weilandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts mehren sich sogenannte „postmoderne“ oder radikale „sozialkonstruktivistische“ Theorien in den Geisteswissenschaften, die sich in der ein oder anderen Spielart auch in der Philosophie finden. Vertreter dieser Theorien behaupten darin, dass alle Tatsachen und unser Wissen über diese Tatsachen Produkte gesellschaftlicher und kultureller Umstände seien. Die geradezu inflationäre und unkritische Verbreitung solcherlei Theorien führte zu einer neuen Debatte um eine alte Frage: Was gibt es in der Welt und wie können wir sie erkennen? Auf der einen Seite stehen die Realisten (unter dem Rubrum Neuer Realismus), zu denen auch Boghossian zählt, die da gewöhnlich behaupten, dass es bestimmte Dinge, wie Berge, Elektronen, Katzen und Sterne gibt. Auf der anderen Seite stehen die Konstruktivisten, oder klassischerweise Idealisten, die dies durchaus bereit sind zuzugeben, allerdings mit dem Unterschied, dass diese Dinge nicht unabhängig vom Menschen bestünden, sondern geradezu durch unterschiedliche ,Mittel‘ konstruiert würden. Berge, Elektronen, Katzen und Sterne wären dann nur „Ideen“ oder „mentale Gebilde“ und hingen von unseren geistigen Operationen ab. Boghossian legt mit „Angst vor der Wahrheit“ aus dem Hause Suhrkamp ein Plädoyer gegen konstruktivistische und relativistische Theorien vor, in dem er zeigt, wie unvernünftig die Annahme der obigen These ist. Nach Boghossian ist nämlich die letzte Konsequenz konstruktivistischer und daraus folgender relativistischer Überlegungen noch nicht erreicht, denn es kommt noch viel schlimmer.

Charakteristisch für ihre Bemühungen ist laut Boghossian die Annahme einer „Gleichwertigkeitsdoktrin“ nach der es eine Vielzahl von gleichwertig nebeneinanderstehender Weisen des Weltverstehens gibt. Die – gerade unter Naturalisten – weitverbreitete Auffassung, nach der der wissenschaftliche Zugang der privilegierte Zugang zur Welt sei, wird mit dieser Doktrin fallengelassen. Salopp könnte man behaupten, postmoderne Philosophien, die die Gleichwertigkeitsdoktrin vertreten, stünden einer eng am Ideal der Wissenschaftlichkeit orientierten Philosophie wie der analytischen Philosophie entgegen, die strenge Kriterien formuliert, mittels derer das Wahre vom Falschen zu trennen ist. Boghossian argumentiert aus der Perspektive eines analytischen Philosophen gegen relativistische und konstruktivistische Theorien der Gegenseite. Hierbei ist zumindest fraglich, inwiefern Boghossians Kritik nicht auf taube Ohren bei postmodernenen Denkerinnen und Denkern trifft, denn seinem Ermessen nach, und dem von Markus Gabriel, der das Nachwort zum Buch verfasste, lassen sie sich nicht so sehr von Argumenten beeindrucken, sondern gelten geradezu als irrational, da sie eben nicht den Standpunkt Boghossians teilen. Es soll an dieser Stelle jedoch nicht allzu weit vorgegriffen werden.

Häufig wurde gegen die Ablehnung einer Gleichwertigkeitsdoktrin eingewandt, sie zerstöre die Demokratie und sei ideologisch. So notierte der Erkenntnistheorieanarchist Paul Feyerabend: „[D]ie Kontrolle der Gesellschaft ist nicht in den Händen aller in der Gesellschaft vereinigten Traditionen, sondern in den Händen der Intellektuellen allein, die Tatsachen der Wissenschaften sind verbindlich für alle Menschen, Tatsachen anderer Art sind ,Aberglauben‘.“ Die Erkenntnisse der Wissenschaften sind demnach für alle verpflichtend, ohne dass diese Inhalte aber von allen mitgestaltet werden. Die Wissenschaften sind eben eine Institution bestehend aus einer bestimmten historisch kontingenten Gruppe von Personen, die vorgibt, was als Wissen zählt. Dieser Einwand ist jedoch recht schwach, denn die Relativierung von zum Beispiel ethischen Normen wie „Du sollst nicht morden!“ ließe dann stets eine Option zu, nach der ein Imperativ (etwas überspitzt) auch lauten könnte: „Du sollst morden!“. Insbesondere im Falle ethischer Normen wäre eine so in Kauf genommene Beliebigkeit fatal und kaum jemand wäre bereit diese hinzunehmen. Boghossian ignoriert den ethischen Relativismus allerdings fast gänzlich, wohlweislich, dass dies ein viel weiteres Feld voller Fallen ist als der epistemische Relativismus.

Paul Boghossian beginnt damit drei Typen von Konstruktivismus herauszuarbeiten: Die grundlegende These des Tatsachenkonstruktivismus, der die stärkste Form des Konstruktivismus darstellt, besagt, dass die Tatsachen in der Welt nicht unabhängig vom Menschen bestehen können. Sie sind sozial konstruiert und zwar so, dass sich darin „kontingente Bedürfnisse und Interessen des Menschen“ widerspiegeln. Gäbe es kein Interesse gegenüber, oder ein Bedürfnis nach einer Tatsache, würde sie auch nicht bestehen. Sie sind bewusstseinsabhängig, denn es muss immer ein Bewusstsein geben, das diese konstituiert. Der Berechtigungskonstruktivismus behauptet hingegen, dass die Begründungen für Tatsachen, der Form nach „Information B berechtigt zur Meinung M“ ebenfalls von unseren kontingenten Bedürfnissen und Interessen abhängen. Der Konstruktivismus in Bezug auf rationale Erklärungen umfasst die Auffassung, dass wiederum unsere Bedürfnisse und Interessen alleinige Entscheidungkriterien dafür sind, was wir für wahr halten. Objektive, das heißt bewusstseinsunabhängige Tatsachen und Berechtigungen kann es laut postmoderner und sozialkonstruktivistischer Überlegungen nicht geben. Epistemische Gründe reichen hingegen nicht allein aus, um zu erklären, warum wir etwas meinen, wenn wir etwas meinen. Stets müssen auch die pragmatischen Gründe, also unsere kontingenten Bedürfnisse und Interessen miteinbezogen werden, damit eine Überzeugung als wahr ausgewiesen werden kann. Ich werde im Folgenden aus Platzgründen mein Hauptaugenmerk auf den ersten Konstruktivismustypen beschränken.

Laut des Tatsachenkonstruktivismus trifft es für jede Tatsache in der Welt notwendig zu, dass sie bewusstseinsabhängig ist. Ihr gegenüber steht der von Boghossian vertretene Tatsachenobjektivismus, nach der einige Tatsachen bewusstseinsabhängig, einige Tatsachen bewusstseinsunabhängig sind. Bereits hier lassen sich einige Sozialkonstruktivisten aus dem Feld der Kritisierten aussortieren. John Searle, einer der bekanntesten und einflussreichsten Sozialkonstruktivisten, würde eher Boghossian verteidigen, statt sich in das Lager der radikalen Sozialkonstruktivisten zu schlagen, denn Searle spricht in Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht nur von „institutionellen Tatsachen“ (bewusstseinsabhängige Tatsachen), sondern auch von „rohen Tatsachen“ (bewusstseinsunabhängige Tatsachen). Es ist hier demnach sinnvoll, von einem radikalen Tatsachenkonstruktivismus als Ziel der Kritik zu sprechen, um diese Unterscheidung nicht aus den Augen zu verlieren. Der radikale Tatsachenkonstruktivismus handelt sich durch seine grundlegende These einige Probleme ein. Die Welt besteht unserer Kenntnis nach seit etwa 4,6 Milliarden Jahren. Die ersten (entdeckten) Spuren des Menschen (homo sapiens) sind jedoch nicht älter als 200.000 Jahre. Die Erde gibt es demnach schon sehr viel länger. Wie, so ist nun zu fragen, können radikale Tatsachenkonstruktivisten behaupten, es gäbe nichts Bewusstseinsunabhängiges? Die wenig ratsame Antwort wäre, es gab vor dem Menschen keine Berge, Bäume, Dinosaurier oder die Erde. Boghossian spricht hier vom „Problem der Kausalität“, denn eine Erklärung könnte nur durch eine krude Art umgekehrter Kausalität erfolgen, bei der die Ursache (ein bewusster Begriffsverwender) erst nach der Wirkung (Berge, Bäume, Dinosaurier et cetera) einträte. Es sind hier aber weniger die zum Teil abstrusen Antworten, die Boghossian interessieren, sondern die viel grundlegendere Frage, wie Tatsachen konstruiert werden. Philosophen wie Richard Rorty und Nelson Goodman behaupten, wir konstruierten Tatsachen, indem wir eine Rede- oder Denkweise akzeptieren, die eine bestimmte Tatsache beschreibt. Demnach gibt es kein „beschreibungsunabhängiges So-Sein der Welt“. Alle Tatsachen sind folglich beschreibungsabhängig und zwar in dem Sinne, dass diese abhängig von unseren Neigungen sind. Sobald ein bestimmtes Schema der Weltbeschreibung übernommen wurde, entstehen die Tatsachen in der Welt. Da alle Beschreibungen auch stets ein Bewusstsein voraussetzen, ist die Aussage Rortys eine ähnliche Formulierung der Boghossianschen Skizze des Tatsachenkonstruktivismus. Sicherlich stimmt die These Rortys, die auch für Hilary Putnam und Nelson Goodman gilt, für einige Tatsachen, wie, dass es Geld gibt oder dass die Bundeskanzlerin die Regierungschefin der Bundesrepublik Deutschland ist. Ohne Menschen gäbe es, im Gegensatz zu Bergen und Bäumen, eben kein Geld und kein Amt der Bundeskanzlerin. Jedoch gilt diese Bedingtheit laut Boghossian eben nicht notwendig für alle Dinge. Eine Diskussion der Antworten Rortys, Putnams und Goodmans sind die Vermischung der These des Tatsachenkonstruktivismus und der Behauptung der „sozialen Bedingtheit von Beschreibungen“ der Welt, wonach wir das Beschreibungsschema wählen, das wir hinsichtlich unserer kontingenten Bedürfnisse und Interessen für nützlich erachten. Es ist durchaus möglich, nur eine der Thesen zu vertreten, denn der Tatsachenkonstruktivismus wird nicht durch die Annahme der sozialen Bedingtheit von Tatsachenbeschreibungen gestützt. Letztere besagt nämlich nur, dass es von unseren pragmatischen Gründen abhängt, welches Beschreibungssystem wir verwenden, nicht aber, welche Tatsachen es gibt. Die soziale Bedingtheit von Beschreibungen führt nicht zum obigen Problem der Kausalität. Viele Tatsachenobjektivisten, wie zum Beispiel Boghossian selbst, lehnen zwar den radikalen Tatsachenkonstruktivismus ab, nicht aber die Behauptung, unsere Wahl eines Beschreibungssystems richtet sich danach, inwiefern es sich lohnt, dieses zu verwenden. So ist es durchaus möglich, dass es mehrere wahre Beschreibungen einer Tatsache geben kann, solange diese sich nicht widersprechen und wiedergeben, „was da ist“. Was da ist, ist jeweils ein kleiner Ausschnitt aus dem Ganzen, das wir „Welt“ nennen, also eine Welt, auf die wir unsere Begriffe anwenden. Boghossian spricht hierbei von „Weltteig“, bei dem Philosophen, wie Nelson Goodman ihre „Begriffsförmchen“ anlegen, um Tatsachen zu konstruieren: „Wir konstruieren Tatsachen, indem wir mittels Begriffen bestimmte Dinge gruppieren. Unsere Begriffe kann man sich dabei wie Sand- oder Kuchenförmchen vorstellen: Sie stechen die Tatsachen aus der Welt aus, indem sie auf die eine oder andere Weise Grenzen und Linien ziehen. Wir nehmen eine bestimmte Ansammlung von Sternen, verbinden sie durch Linien, nennen sie ein Sternbild, und so entstehen Sternbilder“. Der radikale Tatsachenkonstruktivist macht sich hier jedoch eines performativen Widerspruchs schuldig. Wenn tatsächlich mit begrifflichen Mitteln Ausschnitte aus einer Ansammlung von Dingen, oder einfach nur eines Konglomerats an Molekülen oder ähnlichem, herausgehoben werden, um daraus Tatsachen zu konstruieren, bedarf es eben als logische Voraussetzung dieser grundlegenden Dinge bereits. Wenn alle Tatsachen konstruiert sind, müsste eben auch der „Weltteig“ konstruiert sein. Dieses bedarf der radikale Tatsachenkonstruktivist als bewusstseinsunabhängiges Ding. Goodman generalisiert seine Methode auf alle Tatsachen, was im Falle der Erklärung der Konstruktion von natürlichen Tatsachen zu kontraintuitiven Antworten führen muss.

Das zweite Problem, das „Problem der Begriffskompetenz“, umfasst die Zwecke von Begriffen. Bei natürlichen Phänomenen wie Sternen, Elektronen oder Bergen bezeichnen wir etwas, das unabhängig von uns ist. Im Falle von Elektronen können wir sagen, dass es sich um makroskopische Bausteine jeder Art von Materie handelt, unsere Körper bestehen demnach ebenfalls aus diesen Elementen. Wie können wir dann also sinnvoll behaupten, dass diese erst von uns konstruiert wurden? Entweder behaupten wir, wir wären unsere eigene causa sui, oder wir haben nicht verstanden, was ein Elektron ist. Wir verwenden im zweiten Fall den Begriff Elektron inkohärent.

Ein letztes Problem benennt Boghossian als das „Problem der Meinungsverschiedenheit“. Dahingehend wird von Tatsachenobjektivisten durchaus zugestanden, dass wir Tatsachen konstruieren, und zwar aufgrund unserer pragmatischen Gründe wie Bedürfnisse und Interessen. Wenn demnach eine Tatsache, dass T der Fall ist, metaphysisch kontingent ist, dann ist es durchaus vorstellbar, dass in einer anderen Sprachgemeinschaft die Tatsache, dass T nicht der Fall ist, konstruiert wird. Hiermit würde jedoch der Satz vom Widerspruch, eines der fundamentalsten logischen Gesetze, verletzt werden, der besagt, dass eine Aussage über eine Tatsache nicht gleichzeitig mit ihrem kontradiktorischen Pendant wahr sein kann. Der radikale Tatsachenkonstruktivismus böte die unsinnige Möglichkeit der simultanen Konstruktion logisch imkompatibler, weil sich gegenseitig widersprechender Tatsachen. Lösungen für die drei Probleme findet Boghossian bei Richard Rorty. Dieser gibt zu, dass natürliche Tatsachen durchaus bewusstseinsunabhängig bestehen können, wohl aber sind sie in repräsentationaler Hinsicht von uns abhängig. So sei die Wahrheit einer Proposition, also eines Inhaltes, der in einem Aussagesatz artikuliert werden kann, nur relativ zu einer Theorie oder Redeweise und nicht einfach wahr. Die Entscheidung, welche Theorie vorzuziehen ist, entscheiden wir nach pragmatischen Gründen, nämlich danach, welche nützlicher bei der Befriedigung unserer Bedürfnisse ist: „Wenn wir im gewöhnlichen Leben etwas für wahr erklären, meinen wir (oder sollten wir meinen), dass es relativ zu unserer bevorzugten Redeweise wahr ist, eine Redeweise, der wir uns angeschlossen haben, weil es uns nützlich erscheint.“

Rorty behauptet zwar auch wie Goodman, dass es kein bewußtseinsunabhängiges So-Sein der Welt gibt, meint damit allerdings etwas anderes als Goodman mit seinem „Förmchenmodell“ mit dem er mittels der Sprache Tatsachen formt: Es gibt keine bewusstseinsunabhängige Welt-an-sich, weil diese Annahme sinnlos ist: „[W]ir wissen […] nicht, was es für die Natur bedeuten würde zu bemerken, dass sich unsere Darstellungskonventionen den ihren mehr und mehr angleichen und sie demnach heutzutage angemessener dargestellt wird als in der Vergangenheit.“ Mehr oder minder sinnvoll wäre eine solche Rede nur, wenn wir als erkenntnistheoretische Realisten die Welt oder Natur personifizierten, was in einem kruden Pantheismus münden würde. Diese Lösung verfolgt Rorty allerdings nicht, wenn er schreibt: „Daß X in repräsentationaler Hinsicht von uns unabhängig ist, heißt: X besitzt ein intrinsisches Merkmal (ein Merkmal, das X bei jeder beliebigen Beschreibung zukommt), so dass es von einigen unserer Termini besser beschrieben wird als von anderen. Da wir keine Möglichkeit sehen zu entscheiden, welche Beschreibungen eines Gegenstandes an seine ,intrinsischen‘ Merkmale – im Gegensatz zu seinen bloß ,relationalen‘ extrinsischen (zum Beispiel beschreibungsrelativen) Merkmalen – herankommen, sind wir bereit, die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Merkmalen ebenso fallenzulassen wie die These, dass Überzeugungen etwas repräsentieren, und die ganze Frage der repräsentationalen Unabhängigkeit oder Abhängigkeit überhaupt.“

Demnach gibt es keine Welt-an-sich, an der wir unsere Redeweise messen könnten. Die Sprache spiegelt nicht einfach nur die Dinge in der Welt wider. Die Probleme der Kausalität und der Begriffskompetenz löst Rorty dadurch, dass er behauptet, dass es nützlich ist, davon auszugehen, dass es bestimmte Dinge wie Elektronen, Bäume und Berge vor dem Menschen gab. Schließen wir uns einer solchen Beschreibungsweise an, sind die ersten Probleme gelöst: „Sobald wir uns einmal, so denkt der rortysche Konstruktivist, für eine Theorie der Welt entschieden haben, welche die Beschreibung ,Es gibt Berge‘ enthält […], dann ist es gemäß dieser Theorie wahr, dass Berge kausal unabhängig von uns sind und dass sie schon vor uns existiert haben.“ Es macht sich eben bezahlt, wenn wir zum Beispiel von Bäumen sprechen und dabei einen bestimmten Begriff des Baumes verwenden, davon auszugehen, dass es Bäume lange vor uns gab und dies auch in der begrifflichen Bestimmung des Baumes wieder auftaucht.

Mit seinen Überlegungen zur Bedingtheit von Beschreibungen löst Rorty auch das dritte Problem, das der Meinungsverschiedenheit: Es kann für eine Gemeinschaft sinnvoll sein, anzunehmen, dass T der Fall ist, für eine andere wiederum, dass T nicht der Fall ist. Sofern nicht behauptet wird, T oder Nicht-T sei metaphysisch oder logisch kontingent, sondern nur relativ zu einer Theorie, eines Beschreibungssystems oder in Anlehnung an Wittgenstein zu einem „Sprachspiel“, stellt sich das Problem der Meinungsverschiedenheit erst gar nicht. Die Aussage, dass T, oder Nicht-T der Fall ist, ist eben kein absolutes Urteil. Von wahren relativen Urteilen könnte man dann im Sinne des Rortyschen Relativismus in folgender Form sprechen: Es ist gemäß G (eine bestimmte Gemeinschaft) Theorie T wahr, dass es ein X gibt.

Gilt dies, wie Rorty behauptet, für alle Tatsachenurteile, so spricht man von einem „globalen Relativismus“. Boghossian zeigt, dass dieser jedoch nicht haltbar ist. Gäbe es nämlich keine Tatsachen an sich, also bewusstseinsunabhängige, wäre diese These selbst bewusstseinsunabhängig. Die These ist also nicht einfach wahr, sondern relativ zu etwas wahr. Dadurch ist er gezwungen, sich auf immer weitere grundlegendere Urteile zu beziehen, was kein Ende finden würde, sondern in einem infiniten Regress endete: Gemäß einer Theorie, die wir befürworten, gibt es eine Theorie, die wir befürworten, und dieser zweiten Theorie zufolge gibt es eine Theorie, die wir befürworten und so weiter. Nimmt er hingegen an, dass es absolute Tatsachen gibt, würde sich der globale Relativist selbst widerlegen, denn nach ihm gäbe es ja eben keine absoluten Tatsachen. Die Annahme eines Tatsachenkonstruktivismus, wie ihn Boghossian hier skizziert, ist demnach unvernünftig, da er sich mit unüberwindbaren logischen Hürden konfrontiert sieht, die er nicht zu nehmen vermag.

Ein Manko von Boghossians Werk ist, dass er seine eigene Position, die er Objektivismus nennt, nur skizzenhaft ausführt. Zudem stellt er auch keinen Gegenentwurf zum Relativismus vor, in dem er dezidiert ausführt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer wahren Aussage sprechen zu können. Boghossian konzentriert sich fast ausschließlich auf die Widerlegung bestimmter Spielarten des Konstruktivismus und Relativismus. Dies ist sicherlich eine beachtenswerte Leistung, doch verspricht der Buchtitel etwas anderes. In seinen Definitionen des alethischen, epistemischen und semantischen Objektivismus bleiben seine Ausführungen zu den Wahrheitskriterien marginal. Wohl erfährt man, dass es angeblich objektive Belege (epistemische Gründe) für wahre Meinungen gibt, welche das aber genau sein sollen, bleibt oftmals unklar. Der Objektivismus oder auch Realismus selbst ist eine ontologische, nicht aber eine Wahrheitstheorie, wie sie der Relativismus darstellt. Zwar vertreten viele Realisten eine Korrespondenztheorie der´Wahrheit, nach der eine Aussage oder Meinung dann wahr ist, wenn sie mit einem Ding in der Welt übereinstimmt, es ist jedoch durchaus mit dem Realismus zu vereinbaren, eine Kohärenztheorie oder eine Konsenstheorie der Wahrheit anzunehmen. Der Realismus allein sagt nichts über die Wahrheit, die (mögliche) Korrenspondenztheorie trifft kein Urteil darüber, was es in der Welt gibt. So bleibt am Ende der Überlegungen nur die Verwirrung über den Titel des Werkes, in dem von der Wahrheit die Rede ist. Das Problem auf die falsche Übersetzung (im Original: „Fear of knowledge“) zu schieben, macht es nicht besser, wenn Wissen klassischerweise als gerechtfertigte, wahre Meinung aufgefasst wird. Dies gestaltet eine Kritik an Boghossians Überlegungen umso schwieriger.

Auch wenn es nach der Lektüre des Buches so scheinen mag, ganz unproblematisch ist die Einnahme einer realistischen oder objektivistischen Position natürlich nicht. Boghossian rekurriert zu anfangs mehrfach auf die berechtigte erkenntnispraktische Vormachtsstellung der Wissenschaften. Ihr ist hinsichtlich der Beschaffenheit der Welt und unseres Wissens zu vertrauen, da sie die besten empirischen Gründe liefere. Boghossian müsste allerdings zugeben, dass auch in den Wissenschaften objektive Erkenntnis schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, da sie immer historisch, kulturell oder persönlich gefärbt ist. Ihre Objektivität gewinnt sie aus ihren Erkenntniskriterien. Diese Kriterien sind weder willkürlich noch persönlich und somit ihr gewonnenes Wissen in gewissem Sinne tatsächlich objektiv. Forscher ergründeten laut Boghossian die bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit oder Welt und es ist geradezu ein unumstößliches Charakteristikum für seriöse Forschung, dass ihre Ergebnisse zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten wiederholt auftreten, solange die gleichen (experimentellen) Voraussetzungen vorliegen. Dies scheint geradezu für den Realismus zu stimmen, denn durch unsere angestellten Experimente lesen wir im großen Buch der Natur und enträtseln ihre Geheimnisse. Die Natur ist dabei aber eben nichts anderes als die Ansammlung aller bewusstseinsunabhängigen Dinge. Wir haben hier also unseren Goodmanschen „Weltteig“ vorliegen. Wenn wir aber so sprechen und die Konvergenz in den Wissenschaften als Argument für den Realismus oder Objektivismus annehmen, setzen wir bereits voraus, was doch erst gezeigt werden soll. Die zeit- und raumunabhängigen, sich wiederholenden Ergebnisse scheinen für eine bewusstseinsunabhängige Welt zu sprechen, die die Ursache ebenjener Ergebnisse ist. Unser Verständnis von Konvergenz (oder möglicher Divergenz) und die Annahme, dass es solcherlei Phänomene gibt, setzt aber den Realismus bereits voraus. Hinsichtlich der Frage, ob wissenschaftliche Forschung mit einer bewusstseinsunabhängigen Welt konvergiert oder divergiert, müssen wir uns auf eine bewusstseinsunabhängige Welt beziehen und damit bereits voraussetzen. Der Realismus macht sich hiermit einer petitio principii schuldig.

Boghossians Buch war der Startschuss für eine neue Debatte um eine alte Frage. Es wäre zu wünschen gewesen, Argumente für die ein oder andere Behauptung des Realismus zu hören. So bleibt das Buch nur einseitig erhellend und die eigentliche Aufgabe des Programms des „Neuen Realismus“, seine Chancen gegenüber dem Idealismus oder Konstruktivismus auszuloten, ist etwas verfehlt. Trotz allem ist „Angst vor der Wahrheit“ ein durchaus lesenswertes Buch, das unter anderem durch seine handwerkliche Genauigkeit besticht. So beginnt Boghossian – in der Manier eines Einführungswerkes – seine Überlegungen mit der Bestimmung von Begriffen wie Meinung und Tatsache. Ohne Polemik rekonstruiert er die jeweiligen Positionen, die er kritisiert, teilweise sogar im Falle von Rorty sehr wohlwollend. Dennoch bleibt ein bitterer Beigeschmack: Wohl gelingt es Boghossian einige Auswüchse des Konstruktivismus und Relativismus sehr gelungen und reflektiert zu widerlegen. Dies führt aber nicht notwendig zu der berechtigten Einnahme einer realistischen oder objektivistischen Position, wie er es sicherlich gern gehabt hätte.

Titelbild

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
164 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296592

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